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Pflanzenliebe
Pflanzenliebe
Jamie war Gärtnerin.
Sie war keine Gärtnerin, die hektisch die verblühten Blüten der Margaritten abzupfte und dann schnell die Tulpen goss, um dann in rasender Eile die anderen Pflanzen zu düngen. Sie war keine Gärtnerin, die Blumennamen aus Büchern auswendig lernte und sich versuchte lateinische Namen und besondere Merkmale zu merken. Sie war keine Gärtnerin, die sich mehr mit ihren Kunden als mit ihren Pflanzen beschäftigte und die Blumen als Geldquelle ansah.
Nein, sie war Gärtnerin mit Leib und Seele.
Jamie wendete sich jeder Pflanze mit viel Liebe und Geduld zu. Sie sang ihnen Lieder vor und erzählte ihnen Geschichten, sie streichelte sie und machte ihnen Komplimente.
Schon bald erklärten die Leute sie für verrückt. Jamie tat etwas unnormales, darum war sie verrückt.
Aber eins konnten die Leute nicht leugnen. Jamies Pflanzen sahen schön aus. Sie hatten dickere Blüten, schönere Farben... und irgendwie sahen sie glücklich aus.
Eines Tages, als Jamie gerade ein paar Geranienwurzeln pflanzte und dabei leise Lieder sang, stockte sie. Ihr Blick hing auf einer Sonnenblume, die größte und schönste, die sie hatte. Normalerweise leuchtete die Blume in prächtigen Gelbtönen, doch an jenem Tag hatte die Blume ihren großen Kopf zur Erde geneigt. Sie sah traurig und verblüht aus.
Jamie ging langsam zu ihr und strich über ihre großen, tiefgrünen Blätter. „Was hast du nur mein Schatz? Du stehst in der Sonne, du bist gedüngt, du hast genug Wasser, du hast keine Krankheit. Warum neigt sich deine hübsche Blüte nur zur Erde?“ Jamie runzelte die Stirn und betrachtete die Blumen noch einmal genauer, doch sie konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Plötzlich hörte sie ein lautes Seufzen. Erschrocken drehte sie sich zur Tür um. Der Laden hatte doch noch geschlossen, wer hatte da geseufzt? Sie sah sich noch einmal genauer um, dann schüttelte sie den Kopf. Vielleicht war sie wirklich verrückt, wie es die Leute sagten. Als es ein zweites Mal seufzte, schrie Jamie leise auf, Wollte ihr etwa jemand einen Streich spielen? Doch... Das Seufzen hatte sich irgendwie anders angehört. Es war kein Seufzen, wie es Menschen seufzen. Es war ein... Sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Hatte etwa eine... Nein! Das konnte nicht sein. Sie war wirklich verrückt, wie kam sie nur auf die Idee, eine von ihren Blumen hatte geseufzt?
„Jamie....“ Eine tiefe Stimme tönte durch den kleinen Laden. Jamie wirbelte herum. Doch neben ihr stand nur die große, gelbe Sonnenblume. Zögernd trat sie näher an die große Pflanze heran und betrachtete sie misstrauisch. Verdammt, wer spielte ihr nur diesen Streich? Vielleicht hatte jemand einen kleinen Lautsprecher in der Blume deponiert und wollte ihr einen Schrecken einjagen. Nein, wer würde das machen? „Jamie, bitte erschrecke dich nicht. Ja, ich rede. Ich, die Sonnenblume.“ Jamie stieß einen leisen Schrei aus und ging schnell ein paar Schritte von der großen Blume weg. „Du musst doch keine Angst haben. Wir kennen uns doch so gut.“ Jamie beäugte die Pflanze mit großen Augen, denn sie hatte langsam ihre Blüte gehoben und strahlte nun wieder in den schönsten Gelbtönen. „Du... du kannst reden?“, flüsterte die Gärtnerin leise. Ein tiefes Lachen tönte durch den kleinen Laden. Es hörte sie unheimlich, aber irgendwie auch vertraut für Jamie an. Es hörte sich an, als ob es von weiter weg käme. Jamie betrachtete erstaunt die lachende Blume, die nun hin und her wackelte. „Wir können alle reden! Los Leute, zeigt´s ihr!“ rief die Sonnenblume. Jamie zuckte zusammen, als ein lautes Gekreische, in allen möglichen Tonlagen durch ihren Laden tönte. Sie betrachtete das Vergissmeinnicht, das einen Stängel hob und ihr damit zuwinkte, während es mit hoher Stimme, ihren Namen rief. Ihr Blick wanderte zu den Kakteen, die sich alle gleichzeitig erst nach links und nach rechts beugten und sie dann mit dröhnender Stimme begrüßten.
„Wir Blumen haben uns geschworen, dass wir nie einen Menschen von unserem Geheimnis erzählen.“, sagte eine kleine, rote Rose. Eine Lilie räusperte sich und fuhr fort: „Aber du kümmerst dich immer so gut um uns. Wir sind die glücklichsten Pflanzen der Welt. Weil wir wissen, dass du unser Geheimnis niemanden weitererzählst...-“
„Wem denn auch?“ schrie ein winziger Kaktus. Jamie wurde rot. Anscheinend wussten die Pflanzen sogar, dass sie keine Freunde hatte oder, dass jeder sie für verrückt hielt. Die Lilie fuhr fort: „... waren wir uns einig, dass wir jetzt immer mit dir Reden können. Vorausgesetzt, du willst das.“ Eine Rose schrie auf: „Mir schmeckt dieser komische Bio-Dünger nämlich nicht.“ Jamie strich sich eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr, dann sah sie sich in ihrer kleinen Gärtnerein um. Die Pflanzen wippten unruhig hin und her. Sie wollten eine Antwort. Sie räusperte sich und sagte dann: „Ich wusste gar nicht, dass Pflanzen reden können...“ Sie schluckte. War sie wirklich verrückt? Bildete sie sich das alles nicht ein? Hatten die Leute Recht?
Pflanzen können doch nicht reden...
„Also kannst du das Geheimnis für dich behalten?!“, schrie der kleine Kaktus. Er schien sehr vorlaut zu sein.
Pflanzen können doch reden...
Jamie zögerte.
Sie hatte keinen mit dem sie lachen, lästern und streiten konnte. Denn für die Leute war sie einfach nur die Verrückte. Und wer will schon etwas mit einer Verrücken zu tun haben?
Sie lachte: „Ja, ich behalte das Geheimnis für mich.“ Eine warme Welle durchflutete sie. Eine Welle von Freude und Liebe. Die Sonnenblume beugte sich zu ihr: „Wenn du jemanden erzählst, dass wir Pflanzen reden können, wirst du eine gelbe Rose werden.“ Jamie lachte laut auf.
Lachen tat gut...
„Ich werde eine Rose werden, wenn ich den Menschen erzähle, dass ihr reden könnt?!“ Die Pflanzen nickten. Jamie runzelte die Stirn. Wem sollte sie schon erzählen, dass ihre Blumen plötzlich mit ihr sprachen? Es würde ihr doch keiner glauben.
„Okay, ich erzähle es niemanden, großes Ehrenwort!“ sagte sie und streichelte einer Lilie sanft über die Blütenblätter.
Plötzlich war der ganze Laden von einem leisen Geflüster, Gesumme, Gekreische und Gejauchze erfüllt. Jamie strahlte.
„Warum halten dich eigentlich alle für Verrückt?“, fragte sie ein Fliederbusch und ließ sich von ihr verblühte Blätter wegzupfen. „Ich glaube, weil ich euch Lieder vorsinge und mit euch rede. Ich bin eben anders, und wenn jemand anders ist, ist man verrückt.“ Antwortete Jamie. Der Fliederbusch brummelte etwa vor sich hin, dann sagte er: „Sie sind nur neidisch, weil wir schönere Pflanzen sind. Du pflegst uns so gut, darum sehen wir besser aus. Das ist der Grund, warum die Menschen dich für Verrückt halten.“ Jamie strahlte. Es tat gut, dass jemand, auch wenn es eine Pflanze war, so von ihr sprach. Außerdem hatte sie das ganze von der Seite auch noch nicht gesehen. Waren die Anderen wirklich neidisch? „Jamie, ich habe Durst!“, rief der Rosmarin. Jamie nickte und füllte ihre Gießkanne schnell mit kaltem Wasser. Der Rosmarin seufzte, als er gegossen wurde. „Kannst du mir etwas vorsingen?“, fragte er leise. Die anderen Pflanzen schaukelten hin und her... und Jamie sang.
Die Pflanzen hörten andächtig zu und wiegten sich zu den sanften Klängen, und Jamie?
Jamie war glücklich.
Plötzlich öffnete sich die Ladentür. Sofort erstarrten die Pflanzen. Eine Frau kam herein und sah Jamie misstrauisch an. „Es hört sich an, als ob lauter Leute hier wären...“, sagte sie und schaute sich um. Jamie schüttelte schnell den Kopf: „Nein, ich hatte nur das Radio ein wenig zu laut an... Naja, was brauchen Sie denn? Einen Blumenstrauß?“ Die Frau schüttelte den Kopf und musterte die Gärtnerin. „Nein, nein. Ich möchte diesen Engel kaufen.“ Sie hob einen Tonengel hoch und ging zur Kasse. Jamie folgte ihr. Sie warf einen Blick auf die Pflanzen.
Warum sollte sie der Frau nicht erzählen, dass ihre Blumen reden konnten? Vielleicht würde sie dann endlich Bewunderung, oder wenigsten Anerkennung von den Leuten ernten. Wer hatte schon sprechende Pflanzen? Jamie, hatte sie. Jamie hatte sprechende Pflanzen. Sie würde berühmt werden, viel Geld haben und die Leute würden sie bewundern, endlich einmal beachten. Sie würde sich doch nicht in eine gelbe Rose verwandeln, wenn sie es sagen würde... Die Pflanzen würden sie verstehen. Sie wussten doch, dass Jamie als verrückt galt. Sie wollten ihr doch bestimmt helfen, das zu ändern. Schließlich hatte Jamie sich so gut um sie gekümmert! Das war dann der Dank dafür.
Die Pflanzen würden sie verstehen...
„Also kann ich den Engel bitte jetzt bezahlen?“, fragte die Frau und tippte mit ihren Finger schnell auf ihre Kasse. Jamie atmete tief ein, dann sagte sie: „Meinepflanzenkönnenreden.“ Die Frau sah sie verblüfft an: „Bitte was? Sie reden so schnell. Ich habe nichts verstanden.“ Es war nichts passiert. Jamie war keine gelbe Rose, so ein Schwachsinn. Es war nicht passiert. „Meine Pflanzen können reden.“ Sagte sie langsam. Die Frau sah sie entsetzt an und ließ den Tonengel fallen. Er zerbrach in zwei große Teile auf den Boden. Schnell bückte sich die Frau und hob die beiden Teile auf, dann wollte sie sich wieder zu Jamie wenden.
Erstaunt sah sie sich um.
Jamie war nicht da. Wo war sie so schnell hingegangen? Sie zitterte. „Verrückt....“ flüsterte sie und rannte aus der Gärtnerei.
Keiner hatte Jamie seit diesem Tag gesehen. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Keiner wusste wo Jamie war.
Die Leute durchsuchten die ganze Gärtnerei und fanden sie nicht.
Die gelbe Rose, die neben der Kasse lag, hatten sie keinen Blick gewürdigt.