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- 03.04.2003
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Phäochromozytom - Neue Version
Phäochromozytom
1
„Guten Morgen, Herr Hambücker", sagte der Chefarzt, als er mit seinem halben Hofstaat in das Zimmer eimmarschierte. Bertram Hambückers Magen zog sich zusammen in Erwartung des nun folgenden Urteilsspruches. Er war noch nie zuvor in einem Krankenhaus gewesen, und wenn es sich vermeiden ließ, würde er auch nie wieder eines betreten. Aber im Moment hatte er keine andere Wahl.
Der Chefarzt kam gleich zur Sache: „Wir haben die Ursache ihrer rätselhaften Attacken gefunden. Erschrecken Sie bitte nicht, aber es ist ein Tumor."
Hambücker presste die Zähne aufeinander. Warum mußte sich ausgerechnet seine schlimmste Befürchtung bewahrheiten? Sein Herz begann zu klopfen. Laut zu klopfen. Es schien unvorstellbar, daß es außer ihm niemand in diesem Raum hören konnte. In den letzten Wochen war dieses Herzklopfen mehrfach über ihn gekommen, allerdings aus heiterem Himmel und bester Laune heraus. Die Kollegen hatten ihm gesagt, sein Gesicht sei dazu abwechselnd rot und weiß angelaufen, als sei er ein Chamäleon. Wahrscheinlich nannten sie ihn inzwischen hinter seinem Rücken auch so, und dafür hätte er sie am liebsten alle getötet.
Aber jetzt hatte er wenigstens einen Grund für das Herzklopfen.
„Und was für ein Tumor ist das?" hörte er sich mit dünner, krächzender Stimme sagen. Entsetzlich, wie lächerlich er klang. Aber wenigstens grinste keiner. Grinsen hätte er nicht ertragen.
„Ich will es Ihnen mal so einfach wie möglich erklären", sagte der Chefarzt. Wieso einfach? Hält er mich für beschränkt? Ich bin Diplom-Chemiker! Aber Hambücker ließ seinen Protest unausgesprochen und hörte gespannt zu.
„Es ist ein sehr seltener Tumor der Nebenniere. Die Nebenniere ist eine Drüse, sie produziert unter anderem Adrenalin, haben Sie sicher schon mal gehört." Jedes Kind kennt Adrenalin, du Arschgott in Weiß, komm zur Sache und sprich mein Todesurteil. „Adrenalin ist auch als Streßhormon bekannt. Es wird ausgeschüttet, wenn wir uns aufregen oder anstrengen. Das dient dazu, die körperlichen Reserven für den Kampf oder die Flucht zu mobilisieren. Puls, Atemfrequenz und Blutdruck steigen, die Muskeln werden stärker durchblutet undsoweiter.
Nun ja, auf jeden Fall ist Ihr Tumor ein sogenannter hormonaktiver Tumor, das heißt, er produziert Adrenalin, ganz wie das Gewebe, von dem er abstammt. Aber wie das so mit Tumoren ist: alles, was sie tun, ist maßlos."
So ist das also, dachte Hambücker. Ein kleines Stück verrücktgewordener Nebenniere. Klingt nach all der Kacke, die man mir bisher erzählt hat, endlich mal logisch. Wenn er daran dachte, daß ihn sein Hausarzt wegen seiner Beschwerden zuerst zum Psychologen geschickt hatte, und dort erst mal festgestellt worden war, daß er „Streßbewältigungsmangel" zeigte, und das auf Mobbing am Arbeitsplatz zurückzuführen war... - er hatte erst blau angelaufen und vom Notarzt ihn in diese Klinik gekarrt werden müssen, bevor man endlich anfing, ihn ernst zu nehmen. Diese Fachidioten hätten ihn beinah verrecken lassen, dafür würden sie noch büßen. Ich werde sie verklagen, und wenn das nicht hilft, schlage ich ihnen eigenhändig die Fresse ein, ich...
„Herr Hambücker, hören Sie mich noch?" Die Stimme des Chefarztes riß ihn aus seinen Gedanken, und er brauchte einen Moment, um sich wieder der Situation zu erinnern, in der er sich befand.
„Können Sie das wegoperieren?" wollte Hambücker wissen.
„Das müssen die Chirurgen sagen", erklärte der Chefarzt. „Wenn Sie es wünschen, rede ich mal mit meinem Kollegen im Hause, Professor Winkler."
Hambücker nickte. „Tun Sie das."
Als die Operation vorbei war, und er aus der Narkose erwachte, fühlte er sich schwach und hilflos wie ein Säugling. Aber zugleich empfand er auch einen tiefen Frieden, und als die Sonne in sein Zimmer schien, und er aus seinem Fenster auf die grünen Baumkronen des Krankenhausparks herabsah, da wußte er: das Leben war schön, und er würde leben.
2
Hambücker saß in der Küche und aß bereits die dritte Packung seines Fertiggericht-Vorrates, ohne daß er satt wurde. Ihm war aufgefallen, daß er in letzter Zeit immer häufiger doppelte und dreifache Portionen verdrückte, aber gottlob gehörte er offenbar zu den Menschen, die dadurch nicht zunahmen.
Ein mieser Tag lag hinter ihm: weil Goraschnik vergessen hatte, die Behälter zu reinigen, waren Kupfersulfatreste von der letzten Produktion zurückgeblieben, und sie hatten die gesamte heutige Tagesproduktion an Belichtungsflüssigkeit unbrauchbar gemacht. Ein Schaden von einigen Zehntausend Mark. Na gut, das kam in den besten Betrieben vor.
Statt aber seinen Fehler zuzugeben, hatte Goraschnik nur mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Hat mir keiner gesagt, daß ich das machen soll."
Daraufhin war Hambücker ausgerastet. „Was ist das für eine Einstellung?" hatte er gebrüllt. „Die Behälter werden doch immer nach dem Vorgang ausgespült, dazu muß man doch keine Extra-Anweisung geben!"
Und als Goraschnik immer noch keine Anstalten gemacht hatte, die Verantwortung zu übernehmen, hatte Hambücker ihn am Kragen gepackt und geschüttelt, daß der Kopf hin und herflog. Dabei hatte er einige ausländerfeindliche Fäkalienausdrücke geschrieen, an die er sich nun nicht mehr gern erinnern wollte. Drei Männer waren nötig gewesen, um ihn von Goraschnik zu trennen, obwohl allein der Russe schon einen Kopf größer war als er und nur aus Muskeln bestand.
Der Produktionsleiter hatte darauf verzichtet, die Polizei zu rufen, nachdem Hambücker wieder ansprechbar geworden war, aber dafür hatte er ihn nach Hause geschickt, um sich zu "beruhigen". Die Sache sollte am nächsten Tag im Betriebsrat geklärt werden.
Inzwischen hatte Hambücker sich wieder beruhigt, und er fragte sich, was mit ihm los gewesen war. Sicher, Goraschnik hatte Mist gebaut, großen Mist sogar, und er war auch noch frech genug gewesen, die Schuld auf ihn abwälzen zu wollen. Aber es war eigentlich nicht Hambückers Art, handgreiflich zu werden. Er war Goraschniks Vorgesetzter, und mit einer einzigen Unterschrift konnte er ihm das Leben zur Hölle machen - und selbst das war etwas, von dem er nur sehr selten Gebrauch machte.
Aber in dem Augenblick, als er Goraschnik gegenübergestanden hatte, hatte eine solch unbändige Wut von ihm Besitz ergriffen, wie sie noch niemals...
Halt, das stimmte nicht ganz. Hambücker erinnerte sich, daß er vor seiner Operation im letzten Jahr auch den einen oder anderen Wutanfall erlitten hatte. Das hatte an diesem komischen Adrenalintumor gelegen.
Was das zu bedeuten hatte, wagte er kaum zu Ende zu denken: der Tumor war nachgewachsen. Ein Rückfall. Bei dem Gedanken begann Hambückers Herz wieder zu rasen, und er fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Ihm wurde schwindelig, und er erbrach sich auf den Küchentisch.
Ja, der Tumor ist wieder da. Es war alles umsonst, ich werde elendig krepieren.
Er versuchte aufzustehen, um zum Telefon zu gehen, aber seine Beine wollten nicht gehorchen. Ungeheures Entsetzen erfaßte ihn. Ich bin gelähmt! Oh Gott, ich bin querschnittsgelähmt!
Als er wieder aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Er saß immer noch im Küchenstuhl, vor ihm der vertrocknete Rest seines halb verdauten Abendessens. Es roch streng. Als er aufstand, machten ihm seine Beine keinerlei Probleme. Er fühlte sich ausgesprochen gut. Tatendurstig.
Allerdings hatte er keineswegs vergessen, was passiert war. Er rief sofort seinen Hausarzt an und erhielt einen Termin für fünfzehn Uhr. Am liebsten wäre er sofort hingegangen, aber er hatte den Eindruck, daß man ihn nicht so recht ernst nahm. Na gut, es war zehn Uhr, die fünf Stunden würde er noch warten können. Zur Arbeit würde er heute zumindest nicht erscheinen.
Ich bin schon fünfzehn Jahre im Betrieb, man wird mir dafür nicht gleich den Kopf abreißen.
Er hatte schon wieder Hunger. Aber zuerst beseitigte er die Schweinerei, die er vor seinem Ohnmachtsanfall auf dem Küchentisch hinterlassen hatte.
Im Spülbecken saß eine Kakerlake. Zumindest nannte Hambücker diese kleinen weißen Insekten so, welche von Zeit zu Zeit in seiner Wohnung auftauchten, er hatte keine Ahnung, wie Kakerlaken in Wirklichkeit aussahen, und es interessierte ihn auch überhaupt nicht, solange sie sich nur selten blicken ließen und leicht zu töten waren.
Das Viech versuchte auf seinen sechs flinken Beinen vor seiner herannahenden Hand in den Abfluß zu fliehen, doch vergeblich. Hambücker zerquetschte den kugelförmigen Leib mit dem Zeigefinger. Der Anblick verschaffte ihm Befriedigung, und er fragte sich, wie es wohl aussah, wenn man einem Menschen auf diese Weise den Kopf zerquetschte.
Im nächsten Augenblick erschrak er vor seiner eigenen Phantasie. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie Blut sehen können, wie kam er jetzt auf einen solch grauenvollen Gedanken?
Er machte einen Stadtbummel, und als ihn der Drang überfiel, sich eine Waffe zu kaufen, hatten die Selbstzweifel bereits ein Ende gefunden. Leider besaß er keinen Waffenschein für ein Gewehr, doch in einem kleinen Laden in der Fußgängerzone verkaufte man ihm bereitwillig ein Samuraischwert.
3
Er saß apathisch vor dem Fernseher, neben ihm stapelten sich die leeren Tüten, die einmal Kartoffelchips enthalten hatten, zu bedrohlicher Höhe. Der Mann hinter der Mattscheibe benmühte sich redlich, witzig zu sein, aber Hambücker war das Lachen vergangen. Die Gewißheit, bald sterben zu müssen, war mehr als er ertragen konnte. Doch es gab niemanden, der ihm diese Gewißheit wieder nehmen konnte.
Er wußte es seit drei Monaten. Seit man ihn in den Kernspintomographen gesteckt hatte. Diesmal war eine Operation nicht mehr möglich, der Tumor hatte gestreut, und sein ganzer Körper war voll mit kleinen Metastasen. In der Lunge, den Nieren - sogar im Gehirn. Der Gedanke erfüllte ihn mit einem unermeßlichen Ekel.
Eine der neueren Absiedelungen war einen Monat zuvor soweit an der Oberfläche entstanden, daß man sie sehen konnte. Sie hatte sich in seiner Mundhöhle befunden, und er hatte sie mit der Zunge fühlen können. Er hatte die Ärzte solange angefleht, bis sie ihm wenigstens diesen Tumor chirurgisch entfernt hatten. Der Gedanke, bald noch viel mehr davon zu haben, war so abartig, daß er seinem jämmrlichen Leben am liebsten ein Ende gemacht hätte. Aber er konnte diesen Schritt nicht tun.
Er hatte sich lange überlegt, wie er sich das Leben nehmen sollte, und war schließlich auf das Dach eines Hochhauses gegangen. Doch als er in die Tiefe geblickt hatte, hatte ihn jeder Mut verlassen, und er war schluchzend und auf allen Vieren wieder nach unten gegangen.
Zwischen den allgegenwärtigen Selbstmordgedanken meldete sich aber auch immer wieder der Wunsch, jemandem Schmerzen zuzufügen, ihn zu töten. Er hatte sein Samurai-Schwert scharf geschliffen und die halbe Wohnungseinrichtung zerschlagen. Danach hatte es ihm leid getan. Und bei einer Gelegenheit hatte er auch eine streunende Katze auf seinem Balkon in zwei Hälften getrennt. Die vordere Hälfte war noch einige Meter weitergelaufen, während sich das am Boden klebende Gedärm abgespult hatte wie ein Feuerwehrschlauch. Es war unbeschreiblich schön gewesen, doch im nächsten Augenblick auch wieder unbeschreiblich entsetzlich. Er hatte geweint.
Hambücker wußte schon lange, daß er früher oder später einen Menschen verletzen würde, und hatte seine Wohnung deshalb seit mehreren Tagen kaum noch verlassen. Er hatte auch versucht, das Schwert wegzuwerfen, es aber nicht über´s Herz gebracht.
Ein Zittern in der Hand kündigte einen erneuten Anfall an.
Nein, nicht schon wieder...
Die Ärzte nannten das Jackson-Anfälle. Hatte wahrscheinlich nichts mit Michael Jackson zu tun, aber das groteske Zucken aller Gliedmaßen, das Hambücker nun zum dritten Mal an diesem Tag durchschüttelte, hätte durchaus als Parodie auf den Tanzstil des schwarzen Sängers durchgehen können.
Es dauerte nur eine Minute, aber Hambücker kam es vor wie eine Stunde. Als er schließlich keuchend auf dem Boden lag, und seine rechte Hand immer noch zuckte, fragte er sich, ob er es noch einmal versuchen sollte, auf das Hochhaus zu gehen.
Aber bis die Hand ihren Nachtanz endlich beendet hatte, war der Gedanke schon wieder in weite Ferne gerückt. Hambücker wußte, daß er es nicht tun können würde. Er hing immer noch an seinem Leben, so elend und jämmerlich es auch geworden war.
Ich muß rausgehen, sagte er sich. Ich muß an die frische Luft. Ich muß meine Zeit nutzen, bevor sie abläuft.
Doch was würde sein, wenn ihn ein solcher Anfall in der Öffentlichkeit überraschte? Man würde ihn begaffen wie einen Idioten.
Ich kann ja das Schwert mitnehmen, und wenn mir einer blöd kommt, dann...
Hambücker kniff die Augen zusammen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, bis die Gedanken sich verflüchtigten.
Das sind nicht meine Gedanken, das bin nicht ich...
Ist das wichtig, wer du bist? fragte eine andere Stimme in seinem Kopf. Hambücker war sich fast sicher, daß da jemand anders zu ihm gesprochen hatte, aber allein der Gedanke war völlig absurd.
Seine rechte Hand begann sich wieder zu bewegen. Doch dieses Mal kein unkontrolliertes Zucken, sondern langsame, rhythmische Bewegungen. Hambücker hielt den Atem an, als er sah, wie seine Hand ohne sein Zutun auf einem unsichtbaren Klavier spielte - zumindest sah es so aus, als ob sie es täte. Er versuchte, eine Faust zu machen, doch die Hand gehorchte ihm nicht. Er faßte sie mit der Linken, aber auch das half nicht.
Das darf doch nicht wahr sein, was für beschissene Überraschungen werde ich denn noch ertragen müssen?
Der Spuk endete nach drei Minuten so plötzlich, wie er begonnen hatte. Übrig blieb nur ein Kribbeln, wie es Hambücker von eingeschlafenen Füßen her kannte.
Er verließ die Wohnung auch an diesem Tage nicht.
4
Er schlich durch den nächtlichen Prinzenpark wie ein Dieb. Allerdings war er kein Dieb, er war... - ja was eigentlich? Er glaubte, sich schwach daran erinnern zu können, daß er einmal einen Namen gehabt hatte, und er hatte Menschen und Maschinen befehligt, aber das war Jahrtausende her. Jetzt war er nur noch ein Schatten.
Ich bin der Schatten, der Schatten, der Schatten, sang er lautlos vor sich hin.
Er fühlte sich so frei und glücklich, wie schon lange nicht mehr. Er mochte ausgemergelt und hinfällig aussehen, doch innerlich strotzte er vor Kraft und Leben. Sein erstes Opfer war eine ältere Dame mit Hund gewesen. Der Hund hatte auf den Gehweg geschissen, dafür hatte er sterben müssen, und die Dame, weil sie das zugelassen hatte. Und weil sie herumgeschrieen hatte. Die Stadt würde in Zukunft ein bißchen sauberer sein. Er war mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte die Kadaver ins Gebüsch gezogen, wo sie niemanden stören würden. Das Blut würde der Regen wegwaschen.
Kurz darauf hatte er sich als wahrer Held erwiesen: Ein aufdringlicher Kerl hatte ein junges Mädchen bedrängt. Wahrscheinlich wollte er sie vergewaltigen, aber dazu war es nicht gekommen, er war jetzt einen Kopf kürzer. Schade nur, daß das Mädchen so undankbar gewesen war. Anstatt ihrem Retter um den Hals zu fallen, hatte es zu kreischen begonnen und wollte weglaufen. Bitte sehr, dann lag sie jetzt eben im Gebüsch, wieder mit ihrem Bedränger vereint. Er würde seine Hilfe niemandem aufdrängen.
Danach war für Stunden niemand mehr vorbeigekommen. Er lauerte mit zunehmender Ungeduld in seinem Versteck, und er begann sich zu fragen, ob er vielleicht woanders nach dem Rechten sehen sollte, da hörte er das Geräusch mehrerer schwerer Motorräder, die in seine Richtung fuhren.
Wenig später sah er sie. Mindestens zwanzig Rocker in schwarzem Leder rollten an ihm vorbei, einige von ihnen hatten ihre Frauen auf dem „Rücksitz" dabei. Seine Augen weiteten sich voller Vorfreude, und als er sah, daß sie wenige hundert Meter weiter anhielten, wollte sein Herz einen Luftsprung machen. Das Warten war zu Ende, er war wieder gefragt. Er hatte Rocker noch nie gemocht, und heute Nacht würde er der Menschheit einen großen Dienst erweisen.
Sein linker Arm begann, sich selbständig zu machen, und vollführte wilde Gesten.
„Jaja", flüsterte er, „nicht so ungeduldig. Gleich."
Der Arm gestikulierte weiter, bis er das Schwert wegwarf und ihn mit dem rechten Arm packte. „Ruhe jetzt, sonst kannst du allein hierbleiben!"
Der Arm erschlaffte und ordnete sich wieder seinem Willen unter. „Na also, warum nicht gleich so?"
Dafür begann sein rechter Oberarm zu zucken. „Das gilt auch für dich, Freundchen!" fuhr er ihn an. Das Zucken hörte auf.
Der Tanz konnte beginnen. Ich bin der Schatten, der Schatten, der Schatten...
Als die Gruppenmitglieder die gebeugte, dürre Gestalt bemerkten, stand er schon fast in ihrem Kreis, den sie aus ihren Maschinen gebildet hatten. „Hey, was is´n das für ein Freak?" rief einer, und es erhob sich ein aufgeregtes Gemurmel.
„He!" rief der Anführer, ein stämmiger Mann mit langem, blonden Bart, und alle verstummten. „Das ist ´ne Privatveranstaltung, du Penner", sagte er zur zerlumpten, halbnackten Gestalt mit dem verfilzten Bart und dem rostigen Schwert. „Sieh zu, daß du Land gewinnst!"
„Land..." wiederholte die Gestalt mit einer hohen, verzerrten Stimme, die kaum etwas Menschliches an sich hatte. „Ich bringe euch Land."
„Der hat sie nicht alle", meinte einer neben dem Anführer, „schmeißen wir ihn in den Weiher, vielleicht kommt er dann wieder zu sich." Allgemeines Gelächter und Zustimmung.
Er griff ohne Vorwarnung an, lief auf den Mann zu, der ihm am nächsten stand und schwang sein Schwert. Der Mann versuchte noch, dem Hieb auszuweichen, doch zu spät. Einer weniger. Dann erhob sich lautes Geschrei, und ganz besonders die Frauen kreischten in einer Tonlage, die kaum zu ertragen war. Er mußte sich beeilen, dem Ganzen ein rasches Ende zu bereiten. Doch bevor er sich ein zweites Opfer aussuchen konnte, packte ihn jemand von hinten und hielt seinen Arm fest. Und nur einen Augenblick später kam ein Zweiter hinzu, und ein Dritter.
Diese lächerlichen Narren, glaubten sie wirklich, sie könnten einen Schatten festhalten? Sie sollten sich überhaupt nicht wehren, dann wäre es viel schneller vorbei. Dummes Pack! Er stieß sie von sich, einen nach dem anderen, und als sein Arm wieder frei war, hackte er um sich, traf auch in etwas Weiches, und ein Schrei sagte ihm, daß er Erfolg gehabt hatte.
Dann hörte er einen Schuß, und ein stechender Schmerz zog sich plötzlich von seiner Brust bis zum Hals empor. Er ließ vor Schreck sein Schwert fallen, sah an sich herab und konnte es kaum fassen: in seinem Hemd klaffte ein riesiges Loch, und auch dem Loch floß sein Blut. Das Atmen schmerzte so sehr, daß er kaum Luft bekam. Man hatte ihn doch tatsächlich erschossen.
Aber was hatte es schon für eine Bedeutung? Einen Schatten konnte man schließlich nicht erschießen, und dieser Gedanke gab ihm wieder neue Kraft. Er entdeckte den Mann, der die Pistole in der Hand hielt. Das wirst du uns büßen, dachte er - oder war es wieder der andere, der das sagte? Egal.
Er lief auf den Schützen zu, dem die Panik ins Gesicht geschrieben stand. Ich brauche kein Schwert, ich kann dich mit bloßen Händen zerreißen.
Als er ihn ansprang, feuerte der Mann ein zweites Mal, und ein heißer Schmerz durchflutete die rechte Kopfhälfte. Für einen Moment schien es nichts mehr auf der Welt zu geben als Schmerz, doch dann ebbte er auch schon wieder ab, und der Mann bereute, daß er je geboren wurde.
Der Augenblick des Triumphes währte jedoch nur kurz. Er sah aus den Augenwinkeln - oder besser gesagt, nur aus dem linken Auge, denn auf dem rechten schien ihn sein Sehvermögen plötzlich verlorengegangen zu sein, was ihn für einen Moment sehr beunruhigte - wie der Anführer, der offenbar sein Schwert aufgehoben hatte, mit diesem zu einem Schlag ausholte.
Es war unmöglich, diesem Schlag auszuweichen, und gleich darauf wurde es auch auf dem linken Auge dunkel, und dann war nichts mehr.
5
„Bei den vielen beinahe zeitgleichen Verletzungen ist es unmöglich zu sagen, welche die war, die den Tod verursacht hat", erklärte der Gerichtsmediziner und nippte an seinem Kaffee. „Wenn ich also schreibe Tod durch Kopfschuß, dann nur, weil das Formular es nicht anders zuläßt."
„Ist gut", nickte der Kommissar. „Das deckt sich auch mit dem rekonstruierten Tathergang."
„Wie lautet der denn? Nur so aus Neugier."
„Der Mann ist mit einem Schwert auf eine Gruppe Rocker losgegangen. Hat auch zwei von ihnen getötet."
„Jaja, die anderen beiden Toten, ich erinnere mich..."
„Einen hat er schwer verletzt, ist im Krankenhaus", fuhr der Kommissar fort. „Dann hat ihm einer in den Kopf geschossen. Wir wissen nur nicht genau, wer. Die Damen und Herren sagen alle, es sei das zweite Todesopfer gewesen. Aber das kann rein logisch kaum wahr sein."
„Verständlich", lächtelte der Gerichtsmediziner. „Entweder hat er ihm in den Kopf geschossen, oder er wurde von ihm zerfleischt, aber beides zusammen geht nicht."
„Und dann hat ihm der Anführer der Gesellschaft den Kopf und den Arm abgehackt."
„Paßt zum Befund. Aber warum?"
„Na, wahrscheinlich im Affekt. Der Irre hatte gerade zwei von ihnen umgebracht und einen schwer verletzt. Aber er will´s nicht zugeben, er rechtfertigt die Verstümmelung damit, der Tote habe weiterhin versucht, ihn anzugreifen."
Der Gerichtsmediziner verkniff sich da Lachen. „Nicht sehr glaubwürdig, fürchte ich."
„Seh´ ich auch so. Aber es wird sowieo auf Notwehr hinauslaufen, darauf wird die Staatsanwaltschaft kaum näher eingehen wollen."
„Eine Sache noch", sagte der Gerichtsmediziner. „Wußten Sie, daß der Mann schwer krank war?"
„Ich hab´s in den Akten gelesen, er hatte Krebs."
„Ja, so kann man es auch nennen. Krebs heißen eigentlich nur bösartige Neubildungen, die von epithelialem Gewebe abstammen. Aber es war auf jeden Fall ein Tumor mit Metastasen. Noch dazu ein extrem seltener."
„Aha." Der Kommissar klang wenig interessiert, doch der Gerichtsmediziner fuhr fort: „Ich hab eine Histologie gemacht, es handelt sich um Nervengewebe. Mit chromaffinen Zellen. Ich habe zuerst angenomen, es sei ein Paragangliom oder ein Sympathoblastom, aber es ist ein sogenanntes Phäochromozytom."
„Sie sehen mich so erwartungsvoll an, Herr Doktor", brummte der Kommissar, „aber das sagt mir gar nichts."
„Das ist ein Tumor des vegetativen Nervensystems. Produziert Adrenalin und Dopamin. Dopamin ist ein Neurotransmitter, wußten Sie das? Na ja, der arme Kerl ist auf jeden Fall von Kopf bis Fuß mit adrenalinproduzierenden Tumorzellen durchsetzt, die durch Fasern miteinander verbunden sind. Es sieht fast so aus, als sei ihm ein zweites Nervenystem gewachsen. Er hätte eigentlich schon längst tot sein müssen, als er erschossen wurde."
„Schön, dann haben Sie ja was, womit Sie sich beschäftigen können", sagte der Kommissar und erhob sich. „Für mich ist der Fall hier jedenfalls abgeschlossen. Und danke nochmals für den Kaffee."
„Gern geschehen."
Als der Kommissar gegangen war, ging der Gerichtsmediziner wieder zurück in Raum III, wo der Tote Bertram Hambücker noch auf dem Obduktionstisch lag, oder besser gesagt, was die Rocker und die gerichtsmedizinische Untersuchung von ihm übriggelassen hatten. Der fehlende Kopf und der rechte Arm lagerten im Kühlfach.
Der Gerichtsmediziner machte einen neuen Schnitt am linken Oberarm der Leiche und entfernte mithilfe einer Pinzette einen linsengroßen Tumor aus dem Bizeps. Dann fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, einen Behälter bereitzulegen, in welchen er seine Gewebeprobe ablegen konnte, und er lief eilig aus dem Raum, um einen zu holen.
So sah er nicht, wie der Torso sich mit schwerfälligen Bewegungen vom Obduktionstisch erhob und nach dem Skalpell griff, das er daneben liegen gelassen hatte.