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Piccadilly Circus
Als wir auf die Straße hinauswanken, graut der Morgen. Kalte, klare Luft, leichter Nieselregen. Nina löst sich aus meinem Arm, taumelt zur Bordsteinkante und kotzt zwischen zwei parkende Autos auf den Asphalt.
„Morgenstund hat Gold im Mund“, lächelt Schröder und zündet sich eine Zigarette an.
Ich hak mir Nina unter, und dann machen wir uns auf den Weg nach Hause. Schröder vorneweg. Nina, bleich wie die Wand, kommt immer wieder ins Straucheln. Ich halte sie im Gleichgewicht und zerre sie neben mir her. Schröder singt was von SLIME. Plötzlich bleibt er stehen und betrachtet die umliegenden Wohnhäuser. „Im Grunde genommen is das doch alles Scheiße“, sagt er schließlich.
„Was is Scheiße?“
„Naja, alles. Dieser ganze verschissene Kapitalismus.“
„Wie kommst'n jetzt darauf?“, will ich wissen.
„Mir is schlecht“, stöhnt Nina von der Seite.
„Hafengegend war Arbeitergegend“, sagt Schröder. „Und nun guck dir diese sanierten Häuser an. Elitäre Scheiße.“
Ich guck mir die sanierten Häuser an. Schröder hat recht. Elitäre Scheiße.
„Und guck dir diese verschissenen Bonzenkarren an, die hier rumstehen.“
Ich guck mir die Autos an. Mercedes, BMW, Rover.
„Nenn mir einen Malocher, der es sich leisten kann, hier zu wohnen.“
Mir fällt keiner ein.
„Mir is schlecht“, würgt Nina und kotzt einen weiteren Schwall auf den Gehweg.
„Der Kapitalismus is'n Krebsgeschwür, ich sags dir“, sagt Schröder.
„Das is nix Neues.“
Schröder geht zum Straßenrand, beugt sich hinab, schiebt seine Finger in die Schlitze eines Gullydeckels, hebt ihn aus der Verankerung, wuchtet ihn vor seine Brust und stemmt ihn wie ein Gewichtheber in die Höhe. Ich bin immer wieder erstaunt, wozu Schröder in der Lage ist. Er steht da, leicht schwankend, den schweren, metallenen Gullydeckel über sich haltend. Er bewegt sich drei Schritte nach links und lässt das Ding in die Windschutzscheibe einer silbernen Limousine fallen. Das Glas zerbricht mit einem dumpfen Knall, bevor der Deckel die Mittelkonsole zwischen den vorderen Sitzen zertrümmert. Im nächsten Augenblick zerreißt die ohrenbetäubende Alarmsirene des Wagens die morgendliche Stille. Schröder grinst mich an … und dann laufen wir. Die abschüssige Straße hinunter. Schröder vorne weg. Nina an meiner Hand neben mir. Das Knallen unserer Lederstiefel auf dem Waschbeton hallt zwischen den Häuserfassaden wider. Wir rennen über eine leere Kreuzung und biegen in die nächste Seitenstraße ein und fliegen über Kopfsteinpflaster, keuchend, mit rasenden Herzen, dann links, an einem Alten mit Hund vorbei, bis zum Ende der Straße, jetzt langsamer werdend, rechts um die Ecke, noch fünfzig Meter, bis wir die Stufen zur U-Bahn-Station hinabhasten.
Ein paar bleiche Nachtschwärmer hängen auf dem Bahnsteig herum und warten auf den ersten Zug. Wir lassen uns auf eine blaue Plastikbank fallen. Nina beugt sich zur Seite und würgt den letzten Rest ihres Mageninhaltes in einen Müllkübel. Ein junges Pärchen wirft uns angewiderte Blicke zu. Ich lege Zeige- und Mittelfinger zu einem V auf meine Lippen und schiebe die Zunge dazwischen hervor. Sie blicken erschreckt in eine andere Richtung. Schröder zieht eine Bierdose aus der Innentasche seiner Lederjacke und reißt sie auf. Weißer Schaum spritzt über den Bahnsteig. Er trinkt und reicht mir die Dose herüber.
„Eigentlich brauchen wir `n Aufstand“, sagt Schröder und spuckt auf den Boden. „Eine Revolution. Anarchie. Doch die Leute schweigen und halten still, weil sie satt sind, weil es Privatfernsehen gibt.“
Ich trinke von dem warmen Bier. Es schmeckt schal und bitter.
Von oben nähern sich Schritte, kommen schnell die Betonstufen zum Bahnsteig hinabgelaufen.
„Mit dem Fall der Mauer ist der Widerstand versandet“, sagt Schröder. „Die Medien haben die Kontrolle übernommen. Wozu auf die kalte Straße gehen, wenn ich in der warmen Stube Vietcong abballern kann.“
Nina hat ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt. Ich blicke nach links. Zwei schwarzuniformierte Polizisten kommen auf den Bahnsteig gelaufen. Junge, sportliche Typen mit Jägerblick.
„Scheiße“, sage ich.
Schröder hat sie ebenfalls bemerkt. Sie kommen auf uns zu, angespannt, uns aufmerksam beobachtend.
„Für viele ist das Leben nur noch ein mediales Event“, sagt Schröder, während er den Uniformierten gelassen entgegenblickt. Dann erhebt er sich, richtet sich auf und steckt seine Hände in die Seitentaschen seiner Lederjacke. Er sieht mich an und zwinkert mir zu. Dann bewegt sich in ihre Richtung. Die Beamten bleiben stehen. Der Linke legt seine Hand an den Pistolenhalfter.
„Bleiben Sie stehen!“, ruft der Rechte. „Und nehmen Sie Ihre Hände aus den Taschen!“
Schröder grinst und schlendert voran.
„Sie sollen stehen bleiben! Stop!“
Der Linke hat seine Knarre gezogen. Der Rechte greift ebenfalls nach seiner Waffe. Nina kommt hoch und gähnt.
„Bleiben Sie stehen, drehen Sie sich um und legen Sie Ihre Hände gegen die Wand!“
„Mensch Schröder, mach keinen Scheiß“, sage ich leise.
Schröder geht kurz in die Knie, als ducke er sich unter einem heranfliegenden imaginären Handball weg. Er dreht seinen Körper zur Seite, zieht im gleichen Moment die Hände aus den Taschen, reißt sie hoch und brüllt: „ BABABABABABA…!“
Ein Knall hämmert durch das Bahnhofsgewölbe, laut und seltsam blechern. Schröders Schädel fliegt nach hinten, als habe ihn der imaginäre Handball mit voller Wucht gegen die Stirn getroffen. Seine Beine knicken weg, sein großer Körper sackt wie ein gesprengtes Gebäude in sich zusammen. Schröder fällt rücklings auf den Betonboden, ohne den Sturz abzufangen. Dann bewegt er sich nicht mehr. Blut spritzt aus einem Loch oberhalb seines linken Auges, wie bei einem Springbrunnen. Ich denke an London. Piccadilly Circus. Jemand schreit. Nina bohrt ihre Fingernägel in meine Hand. Der Springbrunnen versiegt. Ich starre in Schröders Gesicht. Er lächelt.