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Plötzlich

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24.04.2003
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Plötzlich

"Hören Sie, ich kann ..."
"Nein, Moment, so geht das nicht. Jetzt hören Sie mir mal zu. Meine Freundin hat den linken Ohrring verloren. Ich habe die Dinger letzte Woche hier gekauft. Da liegt der Bon vor ihnen. Ist es denn so schwer, bloß einen einzigen nachzukaufen? Ich meine, die liegen dutzendfach in der Vitrine. Die Dinger werden doch nicht von Hand hergestellt."
"Es tut mir ja auch wirklich Leid, aber diese Ohrringe verkaufen wir grundsätzlich nur paarweise. Es ist von Seiten des Lieferers nicht möglich, dass ..."
"Wissen Sie was? Hier ist der andere. Machen Sie Ihrem Lieferanten damit ein Nasen Piercing, wenn Sie wollen."

Paul verließ das Geschäft und zündete sich eine Zigarette an.
Als er eine auf dem Boden liegende Dose wegtrat, erntete er den Blick des Clowns, der vor dem Eingang des Kaufhauses stand, und gerade einen Luftballon zu einem süßen Hündchen für dich, Kleines knotete.
"Was ist, erschrocken?"
Der Clown wandte den Blick ab und stellte das Hündchen fertig.
Paul ging auf ihn zu, trat einen Schritt zur Seite, und löste den Gutschein für einen kostenlosen Jägermeister an dem aufgebauten Stand ein, den er drinnen von einer vollbusigen Blondine erhalten hatte.
Nachdem der Vater der Kleinen sich seinen ganz persönlichen Magenbitter abgeholt hatte, kam auch Pauls Gläschen auf dem grünen Tresen zum stehen.
"Gibts die auch paarweise", fragte er.
"Es tut mir Leid, aber pro Gutschein bloß ..."
"Schon gut, schon gut. War bloß ein Spaß."
Er spülte den Schnaps runter und ging langsam los.

Kaum kam die Sonne hinter den Wolken zum Vorschein, tummelten sich die Menschen in der Innenstadt wie Ameisen, die man aus ihrem Bau gespült hatte.
Paul war kein destruktiver Mensch, aber die scheiß Ohrringe waren eben scheiße teuer gewesen, und in Wahrheit war er es gewesen, der einen von ihnen verloren hatte, noch bevor er Steffie sein Geschenk hatte überreichen können.
Seit einem Jahr waren die beiden nun zusammen, und Paul stand mit leeren Händen da.
Dieser Film, ging es ihm durch den Kopf.
Dirty Dancing, den sieht sie doch so gerne.
Er öffnete sein Portemonnaie, und fragte sich, ob er zu hause einfach einen Gutschein schreiben sollte, mit der Aussicht darauf, dass Steffie in naher Zukunft einmal etwas tolles von ihm bekommen würde.

In diesem Augenblick explodierte das Gebäude vor ihm.
Paul ging instinktiv in die Knie. Der Clown neben ihm hatte mit dem Ballonknoten aufgehört.
Er fiel zu Boden, und blieb liegen. Paul drehte seinen Kopf zur Seite. Dort, wo vor Sekunden noch bunte Schminke gewesen war, breitete sich nun ein buntes Chaos aus. Wenn Blut sich mit Farben vermischt, entsteht so eine Art Echtzeitgemälde, das von der Zeit ständig fortgeführt wird.
Paul konnte nichts mehr hören.
Er sah die Leute auf der Straße liegen, unvollständig, in Qualen zappelnd.
Das fünfstöckige Gebäude brach auseinander, nicht zusammen, nein, es entfaltete sich wie eine im Zeitraffer gefilmte Blume, und begrub die Qualen der Zerstückelten unter gewaltigen Steinbrocken.
Paul hielt Ausschau nach dem kleinen Mädchen mit dem Lufthündchen. Hoffentlich war ihr nichts geschehen.
Er konnte sie nirgends entdecken.
Eine Welle aus Staub überspülte ihn und seine Lunge.
Er war nicht einmal im Stande, zu husten.


Als Paul aufwachte, waren die Geräusche wieder da.
Man teilte ihm mit, dass er zur Beobachtung noch für zwei Tage im Krankenhaus zu bleiben hatte, und was es für ein Glück gewesen sei, dass die Trümmer an ihm vorbei geflogen waren.
Floskeln.
In den Zeitungen stand etwas von einer Splittergruppe. Auch das Fernsehen berichtete ununterbrochen. Die Musiksender stellten ihr Programm vorübergehend ein.
Fanatiker, die sich selbst als eine Art Wiederauferstehung der "R.A.F." betrachteten. Der Bundesnachrichtendienst hatte ihre Drohungen nicht ernst genommen. Wie konnte er das auch? Es klang einfach lächerlich, nach so vielen Jahren. Arabische Terroristen vielleicht, aber keine Kommunisten.
Innerhalb der Bank hatte niemand überlebt. Auch sonst sah es nicht gut aus.
Steffie kam ihn am Nachmittag besuchen.
"Und dabei hatte ich dir so schöne Ohrringe gekauft", sagte er.

Die Eltern des kleinen Mädchens, Sarah hatte sie geheißen, besuchte Paul noch oft.
Auch der Beerdigung wohnte er bei.
Im Endeffekt änderte es nichts.
Der Vater machte sich Vorwürfe; Paul machte sich Vorwürfe. Ein gigantischer Gedanke aus gesuchter Schuld.
Wie konnte er da Trost spenden?

Paul träumte eine jede Nacht von einem Clown, der aus einem Ballon eine Bombe formte, und die in seinen Händen explodierte, während er seinen Jägermeister trank.
Steffie ging es irgendwann auf die Nerven.
"Komm´ endlich mal wieder klar. Über sechs Monate ist es jetzt her!"
Paul hatte wieder einmal geweint.

Vielleicht, war es ihm durch den Kopf gegangen.
Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle sterben sollen
Er hatte sich die Rasierklinge quer über den Arm gezogen, um zu überprüfen, ob er noch immer Schmerz empfinden konnte.
Als nur Blut, aber keine Empfindung gekommen war, hatte er das Prozedere so oft wiederholt, bis ihm klar geworden war, dass Schmerz einfach keine Bedeutung mehr für ihn hatte.
Dann hatte er weiter gemacht.

Paul hatte einen neuen Ohrring kaufen wollen.

Und nun war er allein.

Wie jeden Tag wiederholte er das Prozedere.
Es war zu einem Ritual geworden.

"Irgendwann", sagte er zu sich selbst.

"Irgendwann werde ich wieder Schmerz empfinden."

 

Salut Cerberus,

da hat einer eine Extremsituation erlebt und alle denken, wenn er sich beruhigt hat, geht es weiter wie bisher. Aber so war es nicht.
Leider ist der Prot dann nicht zum Psychiater, so, wie man mit einem kaputten Auto zur KFZ-Werkstatt geht. Jeder ist sich selbst am nächsten und die Freundin hatte auch irgendwann genug. Traurig, aber wahr.

Deine Geschichte hat ein Thema, was bewegt.

Lieber Gruß
ber

 

Friedvolle Grüße

ein schweres Thema hast Du Dir da ausgesucht. Ganz überzeugt hat mich die Ausarbeitung allerdings nicht.

Der Anfang bis zu der Explosion ist gut, er führt den Hauptcharakter ein, stellt die Szene dar. Auch die Gefühle des Charakters während der Katastrophe sind recht gut beschrieben. Ich bezweifle allerdings, das man ein deutsches Gebäude, eine Bank gar, mit einer einfachen Bombe einstürzen lassen kann, da muß man schon mit einem vollgeladenen Lieferwagen in die Schalterhalle fahren und neben einem Stützpfeiler parken.

Mein Hauptkritikpunkt liegt allerdings auf der Zeit nach dem Anschlag. Die handelst Du zu schnell ab. Der Teil ist kürzer als der Anfang, dabei sollte er länger sein. Du solltest intensiver darauf eingehen, wie sich das Leben und die Gefühle des Protagonisten geändert haben. Lernt er vielleicht irgendwann, damit zu leben. Wenn ja, wie? Und wenn nein, warum nicht? Und was ist mit Steffie, wie geht sie damit um? Warum entfernen sich die beiden?

Ich denke, jeder gesunde Mensch empfindet Mitgefühl für Personen, die in einer Lage sind wie Dein Protagonist. Mit dieser Geschichte drückst Du dieses Mitgefühl aus, aber Du gehst nicht in die Tiefe.

Sprachlich ist an Deiner Geschichte nichts auszusetzen, da triffst Du immer den richtigen Ton.

Kane

 

Zitat von Brother Kane:

Mein Hauptkritikpunkt liegt allerdings auf der Zeit nach dem Anschlag. Die handelst Du zu schnell ab. Der Teil ist kürzer als der Anfang, dabei sollte er länger sein.

Was soll ich sagen? Da hast du Recht!
Ich bin mal wieder zu schnell mit dem posten gewesen. Die gesamte Geschichte ist innrerhalb einer Stunde entstanden.
Sobald ich eine Idee im Kopf habe, will ich sie gleich umsetzen.
Meistens schaffe ich es, mich zu zügeln, und die Geschichten reifen zu lassen, sie weiterzuentwickeln.
Aber in diesem Fall bin ich einfach voreilig gewesen.
Ich muss mal sehen, wie ich das Kind nun wieder aus dem Brunnen herausholen kann.
Ich überarbeite ungern, aber hier ist es wohl wirklich notwendig, da ich selbst nicht mit der zweiten Hälfte einverstanden bin.

 

Hello Cerberus,

eine Geschichte, die berührt und den Leser mitnimmt. Im zweiten Teil wäre sie überzeugender, wenn mehr von Steffi käme, deren Reaktion - innerhalb eines halben Jahres! - handelst Du arg lakonisch ab. Ebenso die 'Vorwürfe', die Paul sich macht.

Dies fiel mir noch auf:

'...an dem aufgebauten Stand ein, den er drinnen von einer vollbusigen Blondine...' - er hat von der Blondine einen Stand bekommen? Vielleicht einen Ständer? :D

'...Der Clown neben ihm hatte mit dem Ballonknoten aufgehört.
Er fiel zu Boden, und blieb liegen...' - hier dachte ich zunächst, der Clown fiele zu Boden...

Das ist witzig:
'In den Zeitungen stand etwas von einer Splittergruppe' :D

Viele Grüße vom gox

 

Hi gox!

'...Der Clown neben ihm hatte mit dem Ballonknoten aufgehört.
Er fiel zu Boden, und blieb liegen...' - hier dachte ich zunächst, der Clown fiele zu Boden...

War auch so gemeint. Der Prot. geht in die Knie, und der Clown fällt zu Boden, da er von einem Trümmerstück erwischt wurde.

Ansonsten: Sehr hilfreiche Kritik, die mir wieder einmal zeigt, wie falsch es ist, eine Geschichte innerhalb so kurzer Zeit zu posten.

 

Traumatisierungen

hallo cerberus,

Steffie ging es irgendwann auf die Nerven.
"Komm´ endlich mal wieder klar. Über sechs Monate ist es jetzt her!"


Ich arbeite beruflich mit schwer traumatisierten Menschen und deren Angehörigen.

Du beschreibst zwar die typischen Traumareaktionen kurz, aber für das Verhalten von Steffie nimmst du dir zu wenig Zeit. Zu Anfang versuchen Freunde und Angehörige das Opfer zu verstehen. Wenn man aber ein halbes Jahr lang täglich dieselbe Geschichte hört, nervt es arg.

Zuerst versuchen die Freunde es mit Lösungsvorschlägen, dann mit professioneller Hilfe, zuletzt bleibt Wut, weil das Opfer keine Fortschritte macht und schließlich Schuldzuweisung an das Opfer.

Gruß
Ricarda

 

Hallo Cerberus,

deine Geschichte ist bewegend. Der Mann hat ein sehr schreckliches Erlebniss und schafft es nicht, sich davon zu erholen. Er kann die Bilder nicht abschütteln - sie bestimmen sein Leben. Seine Freundin hält das Leben mit ihm nicht mehr aus, und läuft davon. Wie das Gebäude, so liegt auch sein Leben in Trümmern.
Er scheint allerdings immer noch Hoffnung zu haben. Hoffnung darauf, dass er irgendwann wieder in sein altes Leben zurückkehren und sich an alltäglichen Dingen freuen kann. Ich weiß nicht, ob er es schaffen wird. Er ist, meiner Meinung nach, schon zu sehr in diesem neuen Leben gefangen.

Die Umsetzung fand ich zu Anfang klasse - nach der Explosion nicht mehr so sehr. Die Gefühle bleiben mir zu flach, nicht wirklich nachvollziehbar. Grundsätzlich zwar schon nachvollziehbar, aber nicht aufgrund deiner Geschichte. Es wirkt danach ein wenig flach, was ich sehr schade finde, da mich "Plötzlich" sehr bewegt hat.

LG
Bella

 

Hi Cerberus,

wie (fast) immer, wenn ich eine Geschichte gleichen Titels habe musste ich natürlich auch deine Geschichte lesen.

Ich habe mir viele Notizen gemacht und zum Glück dann die anderen Kritiken und deine Antwort darauf gelesen. Auszug aus meinen Notizen: Die Geschichte wirkt, als wärest du durch sie hindurch gehetzt.
Ähnlich beschreibst du es später selber. Ich muss die Kritiken nicht wiederholen, habe aber noch einen anderen Punkt, der mir aufgefallen ist.

Wenn Blut sich mit Farben vermischt, entsteht so eine Art Echtzeitgemälde, das von der Zeit ständig fortgeführt wird.
Hier fiel mir das am stärksten auf, du tendierst manchmal zu Formulierungen, die vernebeln, weil sie selber so unbestimmt sind. Was ist "Eine Art Echtzeitgemälde" und worin unterscheidet es sich von einem wirklichem Echtzeitgemälde?

So kommt es, dass deine Geschichte mich in ihrer Tragik nicht ganz erreicht, fast als könntest du dir das "Danach" nicht vorstellen.
Das widerum finde ich schon fast beruhigend, heißt es doch, dass du es nie erleben musstest.

Lieben Gruß, sim

 

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