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Plötzlich
"Hören Sie, ich kann ..."
"Nein, Moment, so geht das nicht. Jetzt hören Sie mir mal zu. Meine Freundin hat den linken Ohrring verloren. Ich habe die Dinger letzte Woche hier gekauft. Da liegt der Bon vor ihnen. Ist es denn so schwer, bloß einen einzigen nachzukaufen? Ich meine, die liegen dutzendfach in der Vitrine. Die Dinger werden doch nicht von Hand hergestellt."
"Es tut mir ja auch wirklich Leid, aber diese Ohrringe verkaufen wir grundsätzlich nur paarweise. Es ist von Seiten des Lieferers nicht möglich, dass ..."
"Wissen Sie was? Hier ist der andere. Machen Sie Ihrem Lieferanten damit ein Nasen Piercing, wenn Sie wollen."
Paul verließ das Geschäft und zündete sich eine Zigarette an.
Als er eine auf dem Boden liegende Dose wegtrat, erntete er den Blick des Clowns, der vor dem Eingang des Kaufhauses stand, und gerade einen Luftballon zu einem süßen Hündchen für dich, Kleines knotete.
"Was ist, erschrocken?"
Der Clown wandte den Blick ab und stellte das Hündchen fertig.
Paul ging auf ihn zu, trat einen Schritt zur Seite, und löste den Gutschein für einen kostenlosen Jägermeister an dem aufgebauten Stand ein, den er drinnen von einer vollbusigen Blondine erhalten hatte.
Nachdem der Vater der Kleinen sich seinen ganz persönlichen Magenbitter abgeholt hatte, kam auch Pauls Gläschen auf dem grünen Tresen zum stehen.
"Gibts die auch paarweise", fragte er.
"Es tut mir Leid, aber pro Gutschein bloß ..."
"Schon gut, schon gut. War bloß ein Spaß."
Er spülte den Schnaps runter und ging langsam los.
Kaum kam die Sonne hinter den Wolken zum Vorschein, tummelten sich die Menschen in der Innenstadt wie Ameisen, die man aus ihrem Bau gespült hatte.
Paul war kein destruktiver Mensch, aber die scheiß Ohrringe waren eben scheiße teuer gewesen, und in Wahrheit war er es gewesen, der einen von ihnen verloren hatte, noch bevor er Steffie sein Geschenk hatte überreichen können.
Seit einem Jahr waren die beiden nun zusammen, und Paul stand mit leeren Händen da.
Dieser Film, ging es ihm durch den Kopf.
Dirty Dancing, den sieht sie doch so gerne.
Er öffnete sein Portemonnaie, und fragte sich, ob er zu hause einfach einen Gutschein schreiben sollte, mit der Aussicht darauf, dass Steffie in naher Zukunft einmal etwas tolles von ihm bekommen würde.
In diesem Augenblick explodierte das Gebäude vor ihm.
Paul ging instinktiv in die Knie. Der Clown neben ihm hatte mit dem Ballonknoten aufgehört.
Er fiel zu Boden, und blieb liegen. Paul drehte seinen Kopf zur Seite. Dort, wo vor Sekunden noch bunte Schminke gewesen war, breitete sich nun ein buntes Chaos aus. Wenn Blut sich mit Farben vermischt, entsteht so eine Art Echtzeitgemälde, das von der Zeit ständig fortgeführt wird.
Paul konnte nichts mehr hören.
Er sah die Leute auf der Straße liegen, unvollständig, in Qualen zappelnd.
Das fünfstöckige Gebäude brach auseinander, nicht zusammen, nein, es entfaltete sich wie eine im Zeitraffer gefilmte Blume, und begrub die Qualen der Zerstückelten unter gewaltigen Steinbrocken.
Paul hielt Ausschau nach dem kleinen Mädchen mit dem Lufthündchen. Hoffentlich war ihr nichts geschehen.
Er konnte sie nirgends entdecken.
Eine Welle aus Staub überspülte ihn und seine Lunge.
Er war nicht einmal im Stande, zu husten.
Als Paul aufwachte, waren die Geräusche wieder da.
Man teilte ihm mit, dass er zur Beobachtung noch für zwei Tage im Krankenhaus zu bleiben hatte, und was es für ein Glück gewesen sei, dass die Trümmer an ihm vorbei geflogen waren.
Floskeln.
In den Zeitungen stand etwas von einer Splittergruppe. Auch das Fernsehen berichtete ununterbrochen. Die Musiksender stellten ihr Programm vorübergehend ein.
Fanatiker, die sich selbst als eine Art Wiederauferstehung der "R.A.F." betrachteten. Der Bundesnachrichtendienst hatte ihre Drohungen nicht ernst genommen. Wie konnte er das auch? Es klang einfach lächerlich, nach so vielen Jahren. Arabische Terroristen vielleicht, aber keine Kommunisten.
Innerhalb der Bank hatte niemand überlebt. Auch sonst sah es nicht gut aus.
Steffie kam ihn am Nachmittag besuchen.
"Und dabei hatte ich dir so schöne Ohrringe gekauft", sagte er.
Die Eltern des kleinen Mädchens, Sarah hatte sie geheißen, besuchte Paul noch oft.
Auch der Beerdigung wohnte er bei.
Im Endeffekt änderte es nichts.
Der Vater machte sich Vorwürfe; Paul machte sich Vorwürfe. Ein gigantischer Gedanke aus gesuchter Schuld.
Wie konnte er da Trost spenden?
Paul träumte eine jede Nacht von einem Clown, der aus einem Ballon eine Bombe formte, und die in seinen Händen explodierte, während er seinen Jägermeister trank.
Steffie ging es irgendwann auf die Nerven.
"Komm´ endlich mal wieder klar. Über sechs Monate ist es jetzt her!"
Paul hatte wieder einmal geweint.
Vielleicht, war es ihm durch den Kopf gegangen.
Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle sterben sollen
Er hatte sich die Rasierklinge quer über den Arm gezogen, um zu überprüfen, ob er noch immer Schmerz empfinden konnte.
Als nur Blut, aber keine Empfindung gekommen war, hatte er das Prozedere so oft wiederholt, bis ihm klar geworden war, dass Schmerz einfach keine Bedeutung mehr für ihn hatte.
Dann hatte er weiter gemacht.
Paul hatte einen neuen Ohrring kaufen wollen.
Und nun war er allein.
Wie jeden Tag wiederholte er das Prozedere.
Es war zu einem Ritual geworden.
"Irgendwann", sagte er zu sich selbst.
"Irgendwann werde ich wieder Schmerz empfinden."