Mitglied
- Beitritt
- 17.04.2011
- Beiträge
- 120
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Plan B
Schwungvoll landet die Ledertasche in einer der Sitzgruppen des Lehrerzimmers.
„Nicht schon wieder!“ brüllt Römer und angelt die Flyer vom Tisch, die dort aufgefächert liegen. „Erst müllst du unsere Fächer mit dem Schrott voll, und jetzt auch noch das hier.“ Er knüllt die Flyer zusammen, holt aus und wirft das Knäuel quer durch den Raum in den Papierkorb. „Das sind Arbeitsplätze, keine Anlaufstelle für Touristen!“
„Als ob das Reisebroschüren wären,“ entgegnet Bachhuber von seinem Platz aus, „Du brauchst ja nicht hingehen. Manch einer freut sich über eine Anregung. Mal etwas anderes machen, statt immer nur den gleichen Trott.“ Er wendet sich wieder den Schulheften zu, die auf seinem Tisch liegen.
„Ach ja? Nenn‘ mir einen, der das hier aufgreift.“ Römer lässt seinen Blick durch den großen Raum schweifen. Niemand schaut auf. Das einzige Geräusch ist das einer Seite, die umgeblättert wird.
„Es ist unser Job, Interesse an Naturwissenschaften zu vermitteln. Warum nicht mal an der Uni ein paar Experimente mitmachen? Sachen, die wir hier nicht machen können?“
„Falsch!“ Römer eilt zur Kaffeemaschine. „Es ist unsere Aufgabe, Wissen zu vermitteln, damit sie eine Berufsgrundlage haben.“ Hastig schenkt er sich einen Becher ein. „Und dafür zu sorgen, dass sie sich bis dahin nicht umbringen, weil sie keine Ahnung von den einfachsten physikalischen und chemischen Zusammenhängen haben.“ Er nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht.
„Das würde dir viel leichter gelingen, wenn du den Unterricht mit Exkursen aufpeppen würdest. An der Uni ...“
„Ich habe schon unterrichtet,“ unterbricht ihn Römer, „als du noch Micky Maus-Hefte gelesen hast. Von dir brauche ich mir nicht sagen lassen, wie ich meine Arbeit zu machen habe.“
Römer sieht auf die Uhr, greift seine Tasche und geht.
Bachhuber schaut ihm einen Moment hinterher und holt dann sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. „Bachhuber.“ Er lehnt sich zurück. „Oh, ja, ich hatte angefragt. Haben Sie noch Fragen?“ Er richtet sich in seinem Stuhl auf. „Nein, nur für zwei Tage. Im Rahmen unserer Projektwoche.“ Er nickt dankend, als ihm ein Becher Kaffee zugeschoben wird. „Die Uni“, flüstert er aufgeregt, die Hand über dem Mikrofon.
„Wie? Ob die Schüler volljährig sind? Nein, natürlich nicht. Die sind in der Mittelstufe.“ Bachhuber stützt sich am Tisch auf, klappt das Heft zu, das vor ihm liegt. „Verstehe. Aber ich hatte doch mit Dr. Radi abgesprochen, wie die zwei Tage ablaufen sollten. Hat er sie denn nicht informiert?“ Er schüttelt den Kopf. „Das lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern. Was brauchen Sie jetzt von mir, um weiter machen zu können?“ Bachhuber hört aufmerksam zu, unterbricht mit „Aber es muss doch ...“, lauscht weiter. „Natürlich geht die Sicherheit vor. Es wäre nur schön gewesen, wenn ich nicht erst mit Dr. Radi die ganze Planung gemacht hätte.“ Er nimmt einen Schluck Kaffee, verzieht das Gesicht. „Ja, ich weiß, da können Sie nichts für. Aber was sage ich jetzt meinen Schülern?“ Er schiebt die Tasse von sich. „Servus.“ Er wischt über sein Mobiltelefon und atmet tief durch. Noch einmal.
„Verdammt!“ Seine Faust kracht mit soviel Schwung auf den Tisch, dass der Kaffeebecher hüpft. Von den Nachbartischen gucken Kollegen herüber. Tuscheln. Kopfschütteln. Etwas Kaffee ist übergelaufen und wandert auf den Stapel Hefte zu. Hektisch schiebt er ihn beiseite, wobei das Oberste vom Tisch rutscht.
Biologie - Kasimir Wagner steht im Namensfeld.
Ein schneller Schnitt, und von Kasimirs Namensschild bleibt nur noch das K hinter dem Bild einer Ratte. Der Rest fliegt in den Papierkorb. Kasimir steckt die Schutzkappe auf sein Skalpell und lässt es in der Federtasche verschwinden.
„Hey, K!“, schallt es von der Tür.
„Tom! Auch hier?“
„Dieses Jahr sind die Gruppen echt Schrott.“ Er legt seinen Rucksack auf den Tisch neben Kasimir.
„Schon gesehen?“, deutet Kasimir auf die Schilder.
„Bachhuber hat immer noch keinen Plan, wer wie heißt.“ Tom zuckt mit den Schultern. „Na und?“
„Die andern lassen sich einfach einen Sitzplan kritzeln.“
Tom geht die Namensschilder entlang, die auf den Tischen stehen. „Gedruckt?“ Er dreht seines in den Händen. „Er hat uns in Gruppen eingeteilt. Wir sind beide Ratten.“ Er ordnet die Schilder um und platziert sich neben Kasimir.
„Ratten sind Rudeltiere“, grinst Kasimir und hält Tom die Hand hin, der sofort einschlägt.
„Wozu hast du die Kühlbox dabei?“
„Ich habe was mitgebracht.“ Kasimir hebt den Deckel. Zwischen blauen Gelkissen und Kühlakkus stecken zwei verkorkte Reagenzgläser. Vorsichtig zieht er eines ein Stück heraus.
„Blut?“
„Echtes Blut,“ nickt Kasimir und beobachtet Tom.
„Cool!“, staunt Tom, „aber was willst du damit?“
„Das ist die Chance auf eine spannende Projektwoche.“ Kasimir lässt das Glas zurückgleiten und schließt den Deckel.
In sauberen Buchstaben schreibt Bachhuber „Menschenblut vs. Tierblut“ an die Tafel, und dreht sich wieder zur Klasse. „Unser Thema für diese Woche.“ Er blickt in die Runde und deutet auf einen Stapel Bücher. „Wir beginnen mit der Literatur. Am Ende der Woche könnt ihr mir etwas Blut abnehmen, und mit ein paar Versuchen prüfen, ob ich wirklich eine Ratte bin.“ Schweigen. „Zumindest steht das unten im Klo.“ Bachhuber guckt erwartungsvoll, doch niemand lacht. „Ja, Kasimir?“
„Können wir die Versuche nicht vorziehen? Ich habe Proben mitgebracht.“ Mit den Füßen schiebt Kasimir die Kühlbox unter dem Tisch hervor. Raunen erfüllt den Raum.
„Was für Proben?“
Kasimir grinst.
„Etwa Blut?“ Bachhubers Augen werden groß. „Aber ...“ Sein Blick klebt an der Kühlbox. „Wo hast du das her?“ Er versucht, die Kappe auf den Marker zu stecken. „Das ist ...“
„Lassen Sie uns herausfinden, was das für Blut ist.“ Alle Augen sind auf Kasimir gerichtet. „Sie wollten doch mit uns an die Uni und die Versuche dort machen. Ich bin bereit.“
„Nein.“ Erst jetzt rastet die Kappe auf dem Marker ein.
„Warum nicht?“
„Ich hatte keine Zeit das zu organisieren.“ Er betrachtet den schwarzen Strich an seiner Hand. „Da kann man doch nicht einfach so mit Blut vorbeikommen. Wie stellst du dir das denn vor?“
„Aber sie sind doch ständig dort. Reden mit Leuten. Machen Experimente.“
„Trotzdem kann da doch nicht jeder einfach so mit Blut vorbeikommen. Junge, denk doch mal nach. Die rufen doch die Polizei.“ Bachhuber schüttelt den Kopf. „Nein, nein. Du nimmst die Proben schön wieder mit nach Hause.“
„Kommt gar nicht infrage!“ Kasimir will aufspringen, doch Tom hält ihn zurück. Seine Hand ruht auf Kasimirs Schulter. „Wenn wir ihr Blut untersuchen können“, er deutet auf die Tafel, „dann können wir auch das hier untersuchen. Wo ist der Unterschied?“
„Der Unterschied?“ Bachhubers Stimme wird laut, fast schrill. Er macht zwei Schritte in Richtung Kasimir. „Der Unterschied ist, dass ich nicht weiß, was du da angeschleppt hast. Ich will es auch gar nicht wissen. Das ist viel zu gefährlich!“
„Gefährlich? Meinen sie AIDS oder was?“
Sofort wird die Klasse unruhig.
„Kasimir! Stopp jetzt! Du gehst auf der Stelle raus und kippst die Proben ins Klo.“
Fluchend steht Kasimir auf, angelt nach der Kühlbox. „Nein, besser du lässt sie hier und ich entsorge das nachher Selbst.“ Kasimir knallt die Tür hinter sich ins Schloss.
Kasimir öffnet den Rollladen nur einen Spalt. Die Finsternis verwandelt sich in eine Welt aus dunkelgrau. „Leo?“ Keine Reaktion.
Aus einer Schublade nimmt er eine kleine Plastikbox und reißt ein Blatt Küchenkrepp von der Rolle. Vor dem Herd geht er in die Hocke und betrachtet das kleine Herz und die Nierchen, die dort nebeneinander aufgereiht liegen.
„Mäßige Nacht?“, fragt er ohne sich umzudrehen. Unter dem Tisch knurrt es grummelig. Mit zwei Fingern hebt er vorsichtig das Herz an. Kein Blut. Leo war sehr sorgfältig diese Nacht. Vorsichtig legt er es auf den Boden der Box. Auch die Nieren sind wieder mal blitzsauber geleckt. Sehr gut.
Als Kasimir aufsteht, wackelt ein Stuhl. Etwas dunkles schießt auf ihn zu, reibt sich schnurrend an seinen Beinen, sodass er nur Trippelschritte machen kann, um nicht auf eine Pfote zu treten. „Danke, Leo.“
An der Arbeitsplatte beschriftet er die Box mit „1 MH 2 MN“, ergänzt das Datum und schließt den Deckel. Dann verstaut er sie ganz unten im Gefrierschrank in der Tüte mit dem großen K darauf.
Leo sitzt auf dem Küchentisch, den Schwanz um die Pfoten gerollt. Er kneift die Augen zu, als das Licht des Kühlschranks die Dunkelheit der Küche zerschneidet. Kasimir stellt seine Frühstücksdose auf den Tisch, schenkt sich zwei Fingerbreit Milch ein. Sekunden später ist die Küche wieder dunkelgrau. Er tastet nach dem Tisch, aber seine Augen haben sich schnell an das Dunkel gewöhnt. Leo schweigt. Kasimir nimmt einen Bissen von seinem Frühstücksbrot. Kauend klappt er es auseinander, legt ein großes Stück Käse auf den Tisch und schaut zu, wie sich Leo darüber hermacht. Schnurrend verschwindet Leo vom Tisch. Kasimir guckt ihm nach, während er den Rest des Brotes in der Dose verstaut. Vorsichtig hält er das Glas Milch schräg und dreht es, bis die Milch fast die ganze Innenseite benetzt hat. Dann trinkt er sie in einem Zug aus.
„Kann ich deinen Killer haben?“ Schon bewegt sich eine Hand mit lackierten Fingernägeln in Richtung Kasimirs Federtasche.
„Warte!“, ruft Kasimir, „Kriegst du gleich.“
Doch die Finger wandern bereits durch die Federtasche, umgreifen einen Quader. Sie ziehen es heraus. „Was ist denn das?“
„Nicht anfassen!“, ruft Kasimir. Zu spät. In klarem Kunststoff wird etwas Pelz sichtbar. Zwei runde, flache Ohren. Und zwei winzige Knopfaugen. Der Aufschrei übertönt für einen Moment jedes andere Geräusch. Am Tisch starren auf die Federtasche. Stifte ragen heraus, ein angekauter Füller, ein Radiergummi. Dazwischen liegt der Kopf einer Maus eingegossen in einen Quader.
„Lass meine Sachen in Ruhe“, ruft Kasimir herüber und schwingt sich über einen Tisch.
Aber Sven ist schneller und hält den Mausekopf so, dass ihn alle sehen können.
„Gib mir meinen Kopf wieder!“, verlangt Kasimir, greift danach, aber Sven hält ihn sofort so hoch, dass Kasimir ihn nicht erreichen kann. Er zerrt an Svens Arm. „Gib her! Das hat Stunden gedauert. Das ist der Erste, der richtig gut geworden ist.“ Kasimir hängt mit seinem ganzen Gewicht an dem Arm, zwingt ihn nach unten. „Habt ihr gesehen? Kasimir hackt Mäusen den Kopf ab und ...“
„Mach ich gar nicht!“, brüllt Kasimir dazwischen. „Die sind schon so“, keucht er, während er mit beiden Händen versucht, Svens Finger auseinanderzubiegen. „Aber das Blut muss raus, sonst verderben sie. Nun gib schon her. Du kannst damit doch gar nichts anfangen.“
„Er trinkt das Blut!“, ruft Sven, so laut, dass es jeder gehört haben muss. In dem angewiderten Aufstöhnen der Klasse geht sein Schmerzensschrei völlig unter, als Kasimir in Svens Hand beisst. Sven lässt den Mausekopf fallen, starrt auf seine Hand, bewegt testweise einige Finger.
Blut läuft an Kasimirs Kinn herab. Betont langsam leckt er sich über die Lippen. Sven funkelt ihn an. Schweigen. Niemand rührt sich.
Nur Tom nähert sich neugierig dem Mausekopf. „Der ist doch nicht echt, oder?“ Er bückt sich, steckt die Hand aus. Kasimir schnellt nach vorne und beide Köpfe prallen aufeinander. Im gleichen Moment verschwindet der Mausekopf unter Svens Fuß und zerbricht mit lautem Knirschen. „Nein!“, brüllt Kasimir, „Du Arsch! Du Idiot! Du ... Arsch!“ Er springt Sven an, packt ihn an den Schultern, schiebt ihn schwungvoll mitsamt dem Tisch hinter ihm ein Stück durch den Klassenraum. Stühle kippen um. Die Tische verkeilen sich und bleiben stehen. Sven grinst. Seine Hand hat aufgehört zu bluten.
Tom legt eine Hand auf Kasimirs Schulter und zieht ihn vorsichtig zurück. „Lass gut sein, K. Das bringt dir den Kopf auch nicht wieder.“ Tatsächlich lässt Kasimir von Sven ab und verlässt mit Tom den Raum.
„Das Ding ist also wirklich echt? Wow! Wie hast du denn das gemacht?“
„Halt die Klappe. Ok?“, zischt Kasimir, „Halt einfach deine Klappe.“
An seinem Schreibtisch sitzend blättert Kasimir eine Seite um, und gleich wieder zurück. Und wieder vor. Mit Schwung klappt er das Buch zu, stützt sein Kinn darauf. Mit der rechten Hand schnippt er den Füller über sein Heft. Hin und her. Seufzen. Er angelt nach dem Schlüsselbund an seiner Hosentasche, wählt einen von den kleinen Schlüsseln und entriegelt die unterste Schublade seines Schreibtischs. Langsam zieht er sie auf. Leere Kunsstoffquader liegen neben einer halb vollen Plastikflasche. Dahinter liegen Herzen, Nieren und ein Mausekopf auf einem Handtuch. Alle sind sorgfältig in Kunststoff gegossen. Nur der Mausekopf ist trüb geworden. Man kann ihn gerade noch erkennen. Schön ist er nicht, aber wegwerfen kommt nicht infrage. Leo hat ihn gebracht.
Die Tür zu Kasimirs Zimmer wird aufgerissen. Kasimir stößt die Schublade zu und richtet sich sofort auf. „Bin gleich fertig!“
„Bring‘ deinem Scheißkater endlich bei, seine Beute vollständig zu fressen“, ruft seine Mutter. Sie hält Leo am Nacken gepackt und wirft ihn ins Zimmer. Fauchen. „Fast hätte ich gekotzt!“
„Komm‘ her, Leo!“ Kasimir klopft auf seine Oberschenkel. Leo steuert sofort in seine Richtung und springt auf den Schoß.
„Wenn du Abendessen willst, musst du die halbe Ratte abräumen. Vorher setze ich keinen Fuß in die Küche.“ Die Tür knallt ins Schloss.
Kasimir krault Leo hinter den Ohren. „Du hast mir eine Ratte gefangen?“ Schnurren. „Cool.“
„Das schreibt man zusammen“, kommentiert Sven, beide Hände in den Hosentaschen.
„Dann schreib es doch selbst, wenn dir das so wichtig ist“, zischt Tom und hält ihm den Marker hin.
„Schon gut. Hauptsache wir werden fertig.“
Kasimir nähert sich mit schnellen Schritten.
„Machst du jetzt auf Hamster?“, kommentiert Sven Kasimirs aufgeblähte Backen. „Bachhuber hat gesagt, du sollst dich von mir fernhalten.“ Er wedelt mit der linken Hand. „Also, verpiss dich.“
Drei blutige Fleischstücke fallen auf das Heft. „Kannst‘ ja untersuchen, ob die hier echt sind.“ Ein Speichelfaden verbindet sie mit Kasimirs Mund. Er wischt ihn mit dem Handrücken weg.
„Bäh!“ Sven springt auf. „Spinnst du?“
Auch Tom macht einen Satz rückwärts, dreht sich zur Seite und beginnt zu würgen.
„Du hast sie wohl nicht mehr alle.“ Sven streckt die Hand aus, um das Heft frei zu wischen, führt die Bewegung aber nicht zu Ende. „Ist das ein Herz?“ Sein Gesicht wird blass.
„Und zwei Nieren“, grinst Kasimir, „von einer Ratte.“
Svens Blick huscht zwischen Kasimir, dem Herz und den Nieren hin und her. „Mann, du tickst doch nicht richtig!“ Er macht einen Schritt zurück. „Völlig durchgeknallt!“ Und noch einen, bis er an den Tisch hinter ihm stößt.
„Wie sagt man, wenn man was geschenkt kriegt?“ Kasimir kommt langsam näher.
„Hau ab!“, kreischt Sven.
„Sie schicken die Eltern dann gleich hierher, wenn sie kommen, ja?“ vergewissert sich Bachhuber, bevor er die Tür schließt. Er deutet auf ein Sideboard. „Möchtet ihr was trinken?“ Kopfschüttelnd rekelt sich Sven auf einem Sofa. Mit einer Hand streicht er über die Lehne. Ihm gegenüber sitzt Kasimir, den Kopf mit den Armen auf den Knien abgestützt. Sein Rucksack liegt neben ihm auf dem Polster.
Bachhuber stellt sich hinter einen Sessel und hält sich an der Lehne fest. Er guckt zu Kasimir.
„Jetzt“, zischt Sven, „bist du dran!“
Bachhuber wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu. Kasimir zuckt nur mit den Schultern. Irgendwo hört man eine Uhr ticken.
„Warum haben sie denn ständig erzählt, was man an der Uni für tolle Sachen machen kann?“
Bachhuber schluckt.
„Dass da jede Untersuchung geht. Sie sind doch regelmäßig dort. Reden mit den Professoren.“
Er weicht Kasimirs Blick aus, seine Finger graben sich in die Lehne. „Es ist nicht so, wie du denkst.“ Eine Hand löst sich und fährt durch seine Haare. „Ich bin schon immer wieder da. Aber das sind Veranstaltungen, die von der Uni organisiert werden. Man kann nicht einfach so vorbeikommen.“ Tick. Tick. Tick.
„Warum haben sie das nicht einfach gesagt?“, explodiert Kasimir, „Das wäre doch ok gewesen.“ Er blinzelt ein paar Tränen weg. „Aber ich hätte nicht geglaubt, dass wir die Sachen auch jederzeit selbst machen können.“ Er krempelt einen Ärmel hoch. Ein großes Pflaster kommt zum Vorschein. Er hält es Bachhuber hin. „Das hat richtig wehgetan, an ein paar Milliliter zu kommen.“ Seine Stimme zittert. „Ohne Nadel.“
Bachhuber wird bleich. Sven setzt sich gerade hin, starrt das Pflaster an. „Das war wirklich deines?“, keucht er, „Ach du Scheiße.“ Er blickt zum Fenster. Eine Möwe fliegt vorbei.
„Natürlich du Idiot. Woher soll ich es denn sonst kriegen?“ Kasimir greift in den Rucksack und zieht das Skalpell heraus. „Glaubst du, morgens auf dem Weg hierher, steche ich Leute ab?“ Er lässt die Hand mit dem Skalpell in Svens Richtung schnellen, der sofort zurückzuckt.
„Kasimir! Leg bitte das Messer weg. Die Lage ist schon schwierig genug“, ruft Bachhuber.
„Schwierig?“, kreischt Kasimir und springt auf. Sven rutscht auf die andere Seite des Sofas. „Das ist für sie nur schwierig?“ Er wedelt mit dem Skalpell. „Sie haben gesagt, wir sollen uns einbringen. Ich habe geglaubt, ich könnte die Projektwoche spannend gestalten. Ich habe auf ihre Möglichkeiten vertraut. Mein Fehler. Ich war so blöd, mir Blut abzunehmen.“ Kasimirs Atem wird schneller. „Ich hätte meinen Mausekopf auch zu Hause lassen sollen. Da wäre er sicher gewesen.“ Kasimir geht zum Fenster. Draußen dreht eine Ente ihre Runden im Teich. „Ich habe nicht erwartet, dass ein Schwachkopf so einen Schatz zerstört. Auch mein Fehler.“ Bachhuber löst sich vorsichtig vom Sessel. „Das mit dem Rattenherz, war eine Scheißidee. Gebe ich zu, tut mir auch leid. Ich hätte ihm auch anders zeigen können, dass ...“ Mit einem Satz dreht er sich um, zeigt mit dem Messer in Bachhubers Richtung. „Zurück!“ Bachhuber zuckt zusammen, macht einen Schritt rückwärts. „Für wie blöd halten sie mich? Glauben sie etwa, ich könnte ihnen noch vertrauen?“
„Wenn jetzt jemand reinkommt, und dich mit dem Messer sieht ...“, setzt Bachhuber an.
„Ich weiß, wonach das aussieht“, brüllt Kasimir, „ich habe sowieso verloren, weil Lehrer nichts anderes können, als nach den Eltern rufen, wenn es Probleme gibt.“ Ein tiefer Atemzug. Noch einer.
„Die Lage ist schwierig“, äfft Kasimir und senkt das Skalpell. „Sie haben gar keine Ahnung!“ Der Raum verschwimmt vor Kasimirs Augen. „Leeoo!“ Das Skalpell in der Hand wischt er mit dem Ärmel die Tränen weg. „Oh, Leo! Er kann doch nichts dafür.“
Es klopft. „Bleibt, wo ihr seid“, zischt Bachhuber, eilt zur Tür und schließt sie hinter sich. Kasimir lässt sich auf den Boden sinken.
Drinnen ist es still. Die Stimmen vom Flur sind ganz leise zu hören.
„Ich hab‘ echt geglaubt, du bist völlig durchgeknallt. So kurz vorm Amoklauf.“
„Sei still!“ Das Skalpell segelt durch die Luft und landet auf dem Polster neben Sven. Tick. Tick. Tick.
„Wer ist Leo eigentlich? Ein Kater?“
Kasimir nickt.
„Der muss dir ja echt viel bedeuten.“ Sven beugt sich in Kasimirs Richtung. „Unsere Nachbarn haben auch eine Katze. Die ist total süß.“ Keine Reaktion. „Und wenn wir einfach so tun, als wäre das alles nicht echt gewesen? Das Blut und ...“
„Ich lüge nicht.“ Kasimir wischt sich erneut über die Augen. Schniefen.
„Bachhuber lässt doch garantiert uns erzählen. Und wenn wir nur das mit der Ratte ...“
„Sie werden sich erinnern, woher die Ratte kommt.“
„Dann machen wir die Ratte unwichtig.“
Die Türklinke wird gedrückt, die Tür aber nur einen Spalt geöffnet. Stimmen dringen herein. „Lassen sie mich gefälligst zu meinem Sohn!“ Die Tür öffnet sich nicht weiter. „Sie verstehen nicht ...“
Sven angelt nach dem Skalpell und hockt sich vor Kasimir.
„Was gibt es da nicht zu verstehen? Sie lassen mich rufen, weil mein Sohn in Schwierigkeiten steckt.“ Die Tür öffnet sich ein wenig. „Ich lasse alles fallen und komme hierher. Und jetzt will ich mich um meinen Sohn kümmern!“
Sven setzt das Skalpell an Kasimirs Oberkörper an und schneidet durch das Hemd. Luft zischt durch Kasimirs zusammengebissenen Zähne.
„Wenn sie mich nur kurz erklären lassen,“ setzt Bachhuber noch an.
„Sofort!“ herrscht ihn die andere Stimme an und stößt die Tür auf.
Kasimir und Sven sitzen nebeneinander unter dem Fenster auf dem Fußboden, die Beine ausgestreckt. Blut ist auf Svens Pulli und auf Kasimirs Hemd. Sven lässt das Skalpell fallen.
„Hy“, flüstert Kasimir und zwingt ein Lächeln in sein Gesicht. „Sieht schlimmer aus, als es ist.“