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Politisch korrekt
„Seine Telefonate von Mittwoch.“ Kilian legte einen dünnen Stapel Papier auf meinen Schreibtisch und setzte den Rollstuhl etwas zurück. „Eure Zielperson spricht, als hätte er Kartoffeln im Mund. Ich musste die Bänder mehrmals durchlaufen lassen, bis ich ihn verstehen konnte.“
„Aber es ist alles korrekt wiedergegeben?“, fragte ich meinen Bruder besorgt. „Du weißt, vor Gericht muss das hieb- und stichfest sein.“ Noch nie hing so viel von ihm ab, wie diesmal. Ein Fehler, und alles konnte im Fiasko enden.
„Andreas, wie oft habe ich schon fürs LKA übersetzt? Hab ich dich je enttäuscht? Also. Gehen wir was essen?“
Es war kurz vor Mittag, wenn dem Big Boss nicht spontan neue Aufträge einfielen, stand dem nichts im Wege. Doch die Zeichen standen gut, Schüller-Moch war nirgendwo im Korridor zu sehen. Ich schloss mein Büro ab und wir hatten beinahe den rettenden Fahrstuhl erreicht, als er wie ein Geier aus seiner Tür schoss und seine befehlsgewohnte Stimme sich in meinen Rücken krallte.
„Andreas, wir haben noch etwas zu besprechen!“
Kein „hast du fünf Minuten Zeit für mich“, oder „kannst du nach der Mittagspause kurz vorbeischauen“ – je länger Schüller-Moch auf dem Dezernatsleiterposten vergammelte anstatt seinen Fähigkeiten entsprechend befördert zu werden, umso mehr gewöhnte er sich Kokolores wie Höflichkeit ab. Ein Grund weniger, sich länger als nötig in seinem Büro aufzuhalten, obwohl mich die Marshmallows in der Bonboniere anlachten. Eckehardts einziges Zugeständnis an seine an und für sich sensible Seele. Das Über-Ich Schüller-Moch ließ den weißen Zuckerkram ungegessen hart werden und warf ihn dann weg.
„Jaspersen fragt, ob die Sache mit Kaspars Ozols Fortschritte macht“, kam Schüller-Moch ohne Umschweife zur Sache. „Wie sieht es aus? Hat Kilian die Abhörprotokolle vorbeigebracht?“
Wie hatte ich vermuten können, dass ihm irgendetwas entging!
„Ich lese sie nach der Mittagspause durch“, sagte ich. „Wieso ruft Jaspersen bei dir an? Meine Durchwahl steht auf jedem Fax!“
Er ignorierte meinen Einwand. „Ich habe zugesagt, dass du heute noch persönlich Bericht erstattest. Er ist bis halb vier in der Staatsanwaltschaft.“
„Persönlich?“ Ich gab mir keine Mühe, meinen Ärger zu verbergen. „So groß sind unsere Fortschritte im Moment nicht.“
„Andreas“, Schüller-Moch tippte ungeduldig mit den Fingerspitzen aneinander und schlug den väterlichen Tonfall an, der verriet, dass ich ihm besser nicht widersprach, „du weißt, wie viel uns allen an einem Erfolg gelegen ist. Nicht nur hier im LKA, auch den Kollegen von der dänischen Reichspolizei. Setz ihm nochmals auseinander, was wir vorhaben, sorg dafür, dass er die nötigen Mittel bewilligt. Wegen mir zieh auch deinen Vater auf unsere Seite und lass ihn ein gutes Wort bei Jaspersen einlegen, Hauptsache wir kriegen sowohl Ozols als auch den Kopf in Dänemark.“
Das wirkte. Ich hatte nicht vergessen, dass ich Laerke Falkenvig den Hinweis auf den deutsch-lettischen Informatiker verdankte, der halb Kiel mit Crack und Haschisch versorgte.
„Ach, und bevor ich es vergesse“, hielt Schüller-Moch mich auf, als meine Hand schon auf der Türklinke lag, „um drei Sonderbesprechung für alle Anwesenden im Konferenzraum B. Also beeil dich ein bisschen.“
Kilian wartete noch immer vor dem Fahrstuhl, stoisch wie ein liegengelassenes Päckchen. Ich klärte ihn über meine Zusammenkunft mit ihro Unumgänglichkeit auf.
„Und was will der Staatsanwalt von dir?“
Einen Zwischenbericht, du Flachpfeife, oder hab ich mich nicht klar ausgedrückt, hätte ich jeden anderen zusammengefaltet, doch mein Bruder ist der einzige Mensch, den ich in einem Gespräch noch nie unaufmerksam erlebt habe.
„Ich meine“, erklärte er selbst, „du hältst ihn fortwährend auf dem Laufenden. Jeder Schritt muss mit der StA abgestimmt werden. Also, welche Neuigkeiten erwartet er?“
Ich hatte keine Ahnung, nur einen vagen Verdacht. „Kerschensteiner empfängt in wenigen Wochen Jacob Utzon.“
„Den dänischen Justizminister?“
„Genau den. Und was fördert die Freundschaft zwischen zwei JuMis mehr als ein gemeinsaer Erfolg?“ Es war ein offenes Geheimnis, dass der schleswig-holsteinische Justizminister und Utzon im Moment auf Kriegsfuß standen. Kerschensteiner hatte sich in einen Streit zwischen Tallin und Kopenhagen eingemischt und demonstrativ auf die Seite der Esten gestellt. Berlin, das auf eine Einigung gehofft hatte, raufte sich die Haare; und Utzon war sauer.
„Aber Jaspersen müsste doch klar sein, dass ihr den Fall jetzt nicht abschließen könnt, nur weil er gelegen käme“, rätselte Kilian, „und Kerschensteiner genauso. Wenn er denn dahinter steckt.“, fügte er hinzu.
„Das Weltall und die Menschliche Dummheit sind grenzenlos“, seufzte ich und griff wahllos eines der Blätter von den Abhörprotokollen. „Bring mir ein Schnitzelbrötchen mit, und … nein, warte!“ Ich raffte den Papierstapel zusammen, stopfte ihn ungeordnet in eine Mappe und folgte dem erstaunten Kilian nach draußen.
„So schnell fertig?“
„Den Rest kann ich mir sparen. Ozols erwartet eine neue Lieferung. Etwas Besseres kann uns nicht passieren - Jaspersen küsst mir die Schuhe, ich versprechs dir.“ Ich klopfte ihm übermütig auf die Schulter. „Ich bin ein Glückskind. Wie sieht’s aus, spanisch oder Pizza?“
Nach endlosen Minuten in den fenster- und schmucklosen Korridoren der StA hieß Jaspersen mich in sein Büro eintreten, von dem man einen wunderbaren Ausblick auf die hochgeschlossene Mauer der JVA hatte. Trotz schönsten Maiwetters drang kaum ein Sonnenstrahl in den freudlosen Innenhof. Mein Paellaerfülltes Inneres schrie laut und vernehmlich nach drei Wochen Fuerteventura.
„Setzen Sie sich!“, gönnerhaft wies Jaspersen mir den abgewetzten Besucherstuhl zu. „Und, was können Sie mir über den Fortgang der Ermittlungen berichten?“
Ich reichte ihm die übersetzte Abschrift des Telefongesprächs, das endlich Bewegung in den Fall brachte. Dann fiel mir ein, dass Jaspersen sich wahrscheinlich nicht in Ozols‘ Sprachcode eingearbeitet hatte, sondern die Erklärung mir überließ.
„Kaspars Ozols hat am Mittwoch mit einem seiner Großabnehmer telefoniert. Das heißt, der hat ihn angerufen.“
„Name?“, unterbrach der Staatsanwalt mich.
„Ist noch nicht identifiziert. Das Gespräch wurde von einem vertraglosen Handy aus geführt.“ Ich wartete auf weitere Fragen, als keine kamen, fuhr ich fort: „Der Anrufer wollte zwei Kilogramm von Ozols‘ Spezialware kaufen: Haschisch aus biologisch-dynamisch angebautem Hanf.“ Mit dem höchsten bisher dagewesenen THC-Gehalt. Das Zeug überschwemmte die Märkte in Flesburg, Kiel und Hamburg geradezu. Der Lette importierte es vom nordischen Nachbarn, so viel wussten wir dank Laerke Falkenvig von der dänischen Reichspolizei. Nur wo der Hanf angebaut wurde, hatten wir bisher nicht herausfinden können, aber Dank Ozols würde uns das bald gelingen.
„Ozols lehnte ab, er habe nur noch drei Kilogramm, und müsse weitere Stammkunden bedienen. Der Anrufer klang nicht sonderlich begeistert, er hat Ozols offen gedroht. Der konnte ihn gerade noch mit dem Versprechen beruhigen, er erwarte demnächst eine neue Lieferung. Er wisse nur nicht, wann genau.“
„Und woher entnehmen Sie diese Informationen? Ich lese nichts davon hier!“, entgegnete Jaspersen ärgerlich, während er den markierten Text querlas.
„Spanischer Espresso steht für Bio-Hasch. Davon können wir ausgehen, nachdem das Zeug erstmals in entsprechenden Dosen am Sophienblatt aufgetaucht ist. Eine Dose steht für ein Kilo, ein Pad für hundert Gramm.“, antwortete ich, nun ebenfalls ungeduldig. „ Ich würde Ozols gerne weiter beschatten lassen, mit einer kleinen Eingreiftruppe im Hintergrund. Wenn der Lieferant kommt, nehmen wir beide bei Abwicklung des Geschäfts hoch. Mit Ihrem Einverständnis holen wir die Kollegen von der dänischen Reichspolizei dazu.“
Laerkes rauchige Telefonstimme klang noch vom Vormittag in meinem Ohr; ein aufregend raues Timbre, das der Phantasie weiten Raum bot. Ich hoffte, sie würde persönlich kommen.
„Sie haben also Grund zur Annahme, dass Kaspars Ozols derzeit im Besitz von mehreren Kilogramm Haschisch ist?“
„Davon gehen wir aus. Seit Mittwoch hat er keine Kunden kontaktiert.“
Jaspersen war aufgestanden und wanderte im Büro umher, immer vor der Fensterfront mit Gefängnisblick, wobei er sich mit der rechten Hand hinterm linken Ohr kratzte. Vielleicht dachte er, das wirke besonders intellektuell, doch es sah lächerlich aus.
„Verstehe ich Sie richtig, Herr Beck, Sie planen, tatenlos zuzusehen, wie Ozols dreitausend Gramm Haschisch in Umlauf bringt? Drei Kilo, haben Sie eine Ahnung, wie viele Einzelportionen das sind? Und zu welchem Preis er die Drogen absetzt?“ Das waren alles rhetorische Fragen, natürlich wusste er, dass ich wusste.
„Ich werde heute noch einen Haftbefehl und Durchsuchungsbeschlüsse für seine Privatwohnung, seine Firma und sämtliche Räume beantragen, die Ozols irgendwo nutzt. Organisieren Sie den Zugriff, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet, nehmen Sie ihn fest. Durchsuchung der Räumlichkeiten zeitgleich, aber das muss ich nicht extra erwähnen.“
Fassungslos sprang ich auf. „Sie wollen Ozols hochgehen lassen?“
„Sie brauchen nicht zu schreien, ich höre sehr gut!“ Jaspersen hielt sich theatralisch die Ohren zu.
„Wenn er auffliegt, sind dei Dänen vorgewarnt! Wer weiß, wann wir wieder einen Mittelsmann in die Finger bekommen können!“
„Die dortigen Strukturen zu zerschlagen ist Aufgabe der Reichspolizei, oder nicht?“
Ich lachte rau auf, für einen kurzen Moment beschlich mich der Gedanke, dass Jaspersen bezahlt worden war, Kerschensteiner den Todesstoß zu versetzen.
„Außerdem“, fuhr der irritiert über meinen Ausbruch fort, „können Zoll und Autobahnpolizei den Kurier abfangen.“
„Wir wissen nichts über ihn! Weder wann er kommt, noch Alter, Geschlecht, Fahrzeug – über den Witz von Grenzkontrollen heutzutage muss ich mich nicht auslassen, oder? Und dass wir vortäuschen können, Ozols befinde sich immer noch auf freiem Fuß, und das Geschäft könne wie geplant über die Bühne gehen, glauben Sie selbst nicht!“
„Dann sehen Sie eben zu, dass Sie diesen Letten zum Reden bringen!“, Jaspersen wurde sehr leise, während er mir direkt ins Gesicht starrte, mit verkrampftem Gesicht, die Lesebrille auf der äußersten Nasenspitze kurz vor dem Absturz.
„Er wird nicht auspacken“, startete ich einen letzten Versuch, „in seinen Kreisen geht man mit Verrätern nicht zimperlich um.“
„Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir diesen Umtrieben in Kiel ein Ende setzen. Und zwar jetzt, wenn wir etwas in der Hand haben.“ Er richtete sich zu ganzer Größe auf. „Was machen Sie, wenn der Stoff verkauft ist, und das Geschäft platzt aus irgendeinem Grund? Oder der Zugriff scheitert, weil Sie weder Zeit noch Ort noch Beteiligte voraussehen können? Dann haben Sie Haschisch zum Marktwert von achtundzwanzigtausend Euro an Konsumenten gehen lassen. Für nichts und wieder nichts. Können Sie das verantworten, Herr Beck, wenn Sie jetzt eine Situation haben, in der Sie die Spielregeln gestalten können? In der Ihnen der Erfolg so gut wie sicher ist?“
Konnte ich nicht und musste ich nicht. Schließlich war die Staatsanwaltschaft Herrin des Verfahrens. Jaspersen hatte zu entscheiden, ich musste nur seinen Anweisungen Folge leisten. Trotzdem wurde ich das unangenehme Gefühl nicht los, das irgendetwas nicht stimmte, doch was, konnte ich nicht in Worte fassen.
„Ich melde mich, sobald wir den Zugriff organisiert haben. Wenn Sie uns den Haftbefehl so schnell wie möglich zukommen lassen …?“
Damit verließ ich das Büro und suchte durch die bürokratischen Maulwurfsgänge meinen Weg zurück ans Tageslicht.
Vor dem Kaffeeautomaten auf dem Treppenabsatz im ersten Stock hätte ich beinahe meinen Vater umgerannt.
„Hoppla, Junge! Sieht man dich auch mal wieder!“ Er balancierte einen Becher Kaffee aus dem Automaten, fast blond vor Milchpulver. „Auch einen? Oder hast Du es sehr eilig?“
Normalerweise vermied ich jede Berührung mit der geschmacksneutralen Automatenbrühe, doch hatte ich es mit der Hiobsbotschaft im Gepäck nicht eilig, zurück ins LKA zu kommen. So sagte ich: „Schwarz, extra stark, kein Zucker.“, während Roland ein Fünfzigcentstück einwarf und nach der richtigen Tastenkombination suchte.
„Und, Erfolg gehabt?“, fragte er, an den Automaten gelehnt, wobei er die Bundfaltenhose über den Knien ein wenig nach oben zog, dass sie nicht ausbeulte. Ein erschreckend junges Mädchen mit riesigem Aktenstapel auf den ausgestreckten Armen huschte in weitem Bogen an uns vorbei und grüßte unterwürfig. Innerhalb der StA kam man kaum an ihm vorbei. Vitamin B behaupteten die einen, der Instinkt eines Trüffelschweins für die richtige Entscheidung im richtigen Augenblick, die anderen. Es mochte an beidem etwas dran sein, für meine Zwecke waren Beziehungen zielführender.
„Nicht wirklich.“ In kurzen Worten gab ich die Unterredung wider.
„Dann ist er also meinem Rat gefolgt.“
„Das ist auf deinem Mist gewachsen?“
Mein Vater strich mit der flachen Hand die steingraue Seidenkrawatte unter dem steingrauen Jackett glatt. Er passt gut auf den Fußboden, dachte ich.
„Sieh mal Andreas, Cannabis konsumierende Teenager sind derzeit ein großes Thema. Drei Schulen in Kiel, in denen Drogenrazzien durchgeführt wurden, und überall ist man fündig geworden. Die Presse macht Druck, sie wollen ein Opfer am Pranger sehen! Ihr tut euch selbst einen Gefallen damit, wenn ihr jetzt einen Erfolg vorweist. Danach kann die Polizei umso ungestörter weiterermitteln.“
„Diese Hetzkampagnen sind nichts Neues, wir können sehr gut damit umgehen, aber trotzdem vielen Dank für deine selbstlose Hilfe!“, höhnte ich.
Roland verlagerte nervös das Gewicht von einem Bein aufs andere. Er konnte noch nie gut mit Spannungen umgehen. „Die Bürger haben ein Recht auf Sicherheit.“
„Sie haben auch ein Recht auf gute Polizeiarbeit!“
„Das streitet keiner ab.“ Er leerte hastig den Kaffee, verschluckte sich und musste husten. „Ihr löst den Fall sicher zur vollsten Zufriedenheit.“, krächzte er mit rotem Kopf.
„Zu wessen Zufriedenheit? Der des Innenministers? Ordnung, Sauberkeit und gekämmte Kanalratten? Kleine Schützenhilfe vor der nächsten Landtagswahl für deinen, was war Eggers noch mal? Kommilitone im Jurastudium?“
Ich kippte meinen Kaffee an den nächsten Gummibaum und schleuderte den Becher in den Müll. Viel hätte nicht gefehlt, und beides wäre im Gesicht meines Vaters gelandet. „Überleg mal, wie du Kerschensteiner beibringst, dass seine Vasallen die Dänen düpieren, anstatt Amtshilfe zu leisten. Nachdem Kopenhagen längst mit im Boot ist!“
„Ihr kriegt das schon hin mit der Reichspolizei!“, rief Roland mir noch aufgesetzt zuversichtlich hinterher, als ich bereits im Erdgeschoss an der Zwischentür zur Sicherheitsschleuse stand. Schüller-Moch würde mir den Kopf abreißen. Laerke würde wechselweise mich und Jaspersen mit Flüchen überschütten. Und ich würde einen Brief an Kerschensteiner schreiben, nach dem mein Vater für lange, lange Zeit jede Beförderung vergessen konnte.