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Porträt des Krieges
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am 12. November 1995
Liebste Angela,
Mir geht es gut. Seit Tagen hängt ein dickes Wolkengeflecht über der Stadt. Der Himmel verschließt sich vor dem, was hier geschieht. Ich vermisse die Sonne. Doch noch mehr vermisse ich Dich und die Kleine – hat sie denn schon gesprochen? Bestimmt krabbelt sie jetzt an Deinen Füßen, und schreit in der Nacht nach ihrem Vater. Meine Arbeit hier wird noch eine Woche dauern, oder auch zwei, je nachdem, wie umfassend die Kontrollen auf den Straßen und Flughäfen bei meiner Ausreise sein werden. Ich vermute aber, dass es die Russen kaum erwarten können, mich außer Landes zu sehen, und dass ich dann bald bei Euch sein kann. Sorgt Euch nicht um mich.
PS: Ich liebe Dich.
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am 13. November 1995
Liebste Angela,
Ich schreibe Dir bei Kerzenschein. Die Nächte hier können sehr lang und einsam sein. Die Ruhe ist nur trügerisch. Aus der Ferne droht die Schlacht wie Wetterleuchten, und das Grollen der Geschütze verhallt in den verlassenen Häusern am Stadtrand. Ich verschanze mich mit den Rebellen im Zentrum. Russische MiGs kreischen über die Häuserruinen. Zerbrochene Fenster klappern im Wind. An Schlaf ist nicht zu denken. Wir hocken im Kreis, schweigen, beten leise und horchen. Der Krieg hat uns stumm gemacht. Einzelne Stimmen schweifen durch die dunkle Nacht. Es sind russische Späher. Ich luge manchmal durch die Ritzen der Mauerwände, aus denen helle Blitze ferner Explosionen schlagen, die unser Versteck ungewiss erhellen. Draußen spiegelt sich der Mond in den Pfützen der wüsten Straße; derselbe Mond, den Du am Nachthimmel erblicken kannst, dem Du deine Tränen schickst, der uns verbindet. Er streift durch die Wolken wie ich durch die hiesigen. Verschwenderisch verstreut er seinen welken Schein, der sich wie Balsam auf meine Augen legt. In ihm finde ich Trost während dieser schweren Zeit. Eine Granatexplosion fegt durch die Straßen. Der Boden fängt an zu beben. Aus der feuchten Decke bröckelt Putz auf uns herab; nicht viel, nur so viel, dass der trübe Blick einiger Männer noch weiter herab sinkt. In ihren Gesichtern lese ich Furcht und Verzweiflung. Es ist still geworden. Das Rasseln der Panzerketten ist kaum noch vom fernen Artilleriefeuer zu unterscheiden. Die Kerzenflamme neben mir züngelt ängstlich und fahl. Ihr Rauch schmeckt bitter, und bald erlischt sie. Ich höre die Nachtigall schlagen. Der Morgen graut. Lebe wohl!
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am 16. November 1995
Liebste Angela,
Ich bin wohlauf. Ich hoffe, Du bist nicht in großer Sorge um mich, da ich Dir die letzten Tage nicht schreiben konnte. Der Grund waren Verhandlungen über eine Waffenruhe, zu denen ich Berichte und Fotos anfertigen musste. Diplomatie ist eine Sache. Aber im Krieg zeigt sich das wahre Gesicht des Menschen. Du weißt, dass ich mich nicht umsonst in Gefahr begebe. Der Öffentlichkeit zu zeigen, was in diesem Wahnsinn passiert, ihr ein authentisches Bild vom Krieg zu liefern, das ist meine Absicht. Doch was nützen mir da Bilder von Gesprächen über einen scheinheiligen Waffenstillstand? Herzlich wenig. Und deshalb mache ich mich nun auf den Weg ins Landesinnere. Von den Rebellen habe ich erfahren, dass dort die russische Armee gewütet hat, und sie baten mich, unbedingt davon zu schreiben. Zerstörung und Elend. Ist dies denn nicht ein idealer Rahmen für ein Bild des Krieges, das um die Welt gehen soll? Mithilfe einer Landkarte beschrieb mir der Hauptmann den Weg zu seinem Heimatdorf. Er drückte mir außerdem einen Brief für den Vorsteher der Gemeinde in die Hand. Die Strecke führt über unwegsames Gelände, und wird zu Fuß etwa zwei Tage beanspruchen. So aber kann ich die Sperren der russischen Besatzer umgehen.
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am 18. November 1995
Liebste Angela,
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Auf anderem Wege ließe sich das Grauen hier nicht beschreiben. Kaum im Tal angelangt, wiesen mir schon unheilvolle Rauchschwaden am Horizont den Weg zum Dorf. Das Gras auf den schroffen Hügeln schien verdorrt, und schwarz von der Asche, die während der Kämpfe unablässig vom Himmel hinabgeregnet war. Wie zerberstende Knochen brach es unter meinem Gewicht. In die Erde hatten sich die Spuren von Panzerketten und marschierenden Soldaten tief eingebrannt. Nach einer Weile drängten sich mir die ersten Überreste von Häusern entgegen. Ein Riese musste durch das Dorf getrampelt sein. Ich sah schon oft in menschliche Abgründe. Doch nirgends schien der Weg zur Hölle direkter als hier. Aus den dampfenden Trümmern ragen verkohlte Bäume wie Grabsteine. Sie sind stumme Zeugen der Zerstörung, die über dieses Tal hereinbrach. Der Wind schweift seelenlos umher, und treibt den Gestank von Rauch und Benzin über die nackten Felder. Krähen stürzen aus dem wolkenverhangenen Himmel herab, viele fliegen dicht an mir vorbei, manche streifen mich mit ihren Flügeln. Sie stolzieren auf den eingefallenen Dachgiebeln, und schielen nach Kadavern. Wenn ich fort bin, wird ihnen dieser Ort gehören. Die Willkür der Zerstörung offenbart sich allenthalben. Eine Bronzestatue krönt unversehrt die Schuttreste des Dorfbrunnens, dessen Schacht vollkommen eingestürzt ist. Es ist das letzte Bild auf meinem Kamerafilm. Zusammen mit den anderen Fotos des vernichteten Dorfes ergibt dies ein erschreckend realistisches Abbild des Krieges. Aber könntest Du sie sehen, du würdest mir beipflichten: sie sind einfach zu leblos, zu statisch. Es mangelt ihnen allesamt an Menschlichkeit, die es braucht, um die Unmenschlichkeit zu schildern. Ohne Licht kann es schließlich auch keinen Schatten geben. Sie zeigen bloß Zerstörung, die es in jeder Schlacht gibt. Doch ich möchte ein Bild finden, welches dem Krieg ein unverwechselbares Gesicht gibt, das die Menschen auf die Geschehnisse hier aufmerksam macht. Niemand betrachtet das Gemälde der Mona Lisa der Farben wegen, sondern nur, weil ihn das Lächeln fasziniert. Ich bin also weiter auf der Suche nach meinem Bild. In der Nähe der ausgeglühten Kirchenglocke habe ich den Brief mit einem Stein beschwert. Wer weiß, wann ihn jemand aufheben wird. Hundegebell weht an mein Ohr. Ein Zeichen von Leben. Endlich.
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am 19. November 1995
Liebste Angela,
Ein Hilfstransport des Roten Halbmondes hat mich aufgenommen. Ich sitze in einem Jeep, der sich die holprige Strasse nach Westen hinaufquält. Ziel ist ein inguschetisches Flüchtlingslager. Vielleicht kann ich dort meine Arbeit abschließen. Mit jedem Kilometer fällt der träge Geruch des Todes ein wenig von mir ab. Von Zeit zu Zeit stecke ich den Kopf aus dem Fenster, um nach Luft zu schnappen. Der kühle Abendwind fährt mir durch das Haar. Am Himmel reihen sich die Wolken wie Perlen an einer Schnur dem Sonnenuntergang entgegen. Es scheint, als zöge die Sonne verzweifelt an ihr, sich festzuhalten, um nicht unterzugehen. Die Wolken aber wehren sich mit aller Kraft; sie laufen vor Anstrengung rot an. Der Horizont, nicht verdeckt durch Hügel und Dächer, erstreckt sich als klare Linie vor meinen Augen. Hier nun setzt sich der Himmel umso mehr von der Erde ab, der erneut eine einsame Nacht bevorsteht. Die Halogenscheinwerfer werfen einen weiten Lichtkegel in die Dunkelheit, die Landschaft rauscht an mir vorbei. Die Sterne fehlen. Sie sind auf die Erde gestürzt, und lodern aus der Ferne. Die Stille beunruhigt mich. Der Wind säuselt unbeschwert, und legt sich in den Sand. Die Fahrt wird noch Stunden dauern. Schlamm spritzt an die Fenster, krachend versinken die Räder in unzähligen Schlaglöchern. Der Allradantrieb wiegt mich in den Schlaf.
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am 20. November 1995
Liebste Angela,
Hinter mir liegt die erste Nacht, in der ich ruhig schlafen konnte. Das scheint mir für die Helfer ein Luxus, angesichts immer neuer Flüchtlingsscharen, die in das Lager stoßen. Als der Morgen anbrach, hatten wir unser Fahrtziel erreicht. Der Himmel blähte dunkelrot, und nahm wie ein löchriger Spiegel die Farbe der zerfetzten Uniformen toter Soldaten, die elend in den Straßengräben verscharrt lagen, in sich auf. Es seien Rebellen gewesen, die den Plan hatten, den Vorratszug zu überfallen, erklärte mir der Leiter der Hilfsmission. Wir fuhren mitten durch eine riesige Zeltstadt. In Decken gehüllt saßen die Alten auf dem kargen Boden, und beäugten uns misstrauisch, während eine Flut aus Kindern uns jubelnd entgegenschlug. Das Getöse ward noch stärker, als das Verdeck der Lastwägen geöffnet wurde, und kistenweise Kleidungsstücke, Wärmflaschen und Spielsachen dem tosenden Meer aus Kinderhänden überlassen wurde. In das Lazarett gelangten mit meiner Hilfe die restlichen, medizinischen Güter, die hier dringend benötigt wurden. Die Kranken wirken verstört, Blut und Asche haftet an ihren abgezehrten Leibern. Ihre erschütternden Berichte gönnen mir keine Ruhe. Sie scheinen alles verloren zu haben, selbst den Glauben an das Gute. Das Einzige, was sie auf ihrer Flucht retten konnten, war ihr Leben. Und noch nicht einmal das. Viele sind verwundet, leiden an den Strapazen der Flucht, und an den Folgen der Folter russischer Milizionäre. Hinzu kommt der seelische Schmerz. Aus Scham wollen sie nicht fotografiert werden.
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am 21. November 1995
Liebste Angela,
Hier draußen, weitab vom Schlachtfeld, schweigen die Waffen. Doch Tag und Nacht sterben hier Menschen, und neue Flüchtlinge strömen in das überfüllte Lager. Schier unmenschliche Verhältnisse. Die Helfer geben ihr Bestes. Ich versuche sie zu unterstützen, wo es nur geht. Die Kinder spielen im Dreck mit Hühnerknochen. Ihnen möchte man den Terror, den sie erlitten haben, nicht ansehen. "Die einen kehren als Vollwaisen in ihre Heimat zurück, die anderen werden Opfer von Entführung, Folter und Tötung, und alle sind sie ein Leben lang vom Krieg gezeichnet", haben mir meine Auslands-Kollegen geschrieben. Wenn sie nur wüssten, wie Recht sie haben.
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am 22. November 1995
Liebste Angela,
Es schneit, doch das Weiß des Schnees passt nicht zum Grau der Zelte. Durch die fettigen Wolken gelingt es der Sonne manchmal zu leuchten. Neben mir sitzt Jasna und lässt die Flocken auf ihre Zunge rieseln. Der Schnee schmecke eigenartig, sagt sie, ohne den Blick vom verschmierten Himmel abzuwenden. Sie starrt hinauf, als ob sie hinter den Wolken etwas suche. Der Wind treibt die großen Schneeflocken schräg über die harte Erde. Ich gebe Jasna ein paar Filzstifte und Papier, damit sie sich die Zeit vertreibt. Damit sie nicht ständig an ihre Eltern denkt. Bald darauf lässt sie mich ihr Bild sehen. Sie strahlt im Gesicht, in ihren großen, schwarzen Augen verliert sich das karge Sonnenlicht, und schimmert matt zurück. Nun, was denkst Du, hat sie mir gemalt? Ein Bild, auf dem man das Elend im Flüchtlingslanger nicht nur sehen, sondern auch den Schmerz, die unendliche Trauer, des kleinen Mädchens in jedem Strich nachfühlen kann. Die Farben sind merkwürdig verfälscht. Sie hat das Gras rot, die Zelte schwarz, und die Menschen lila gemalt. Wahrscheinlich reichen unsere Sinne nicht, um solch ein Bild zu begreifen. Welch kindliche Unschuld hier verloren ging. Voller Ungeduld faltet sie das Papier zusammen, und schenkt es mir mit einem Kuss. Sie ahnt nicht, wie sehr sie mich für all das geschehene Leid, das ich erleben musste, entschädigt. Und es ist wahr: Ich habe gefunden, was ich gesucht. Schon übermorgen kehre ich auf dem schnellsten Weg zu Dir zurück. Erwarte mich!
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