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Porzellansterben
Auf meinem Roller fahre ich vorbei am Ortsschild, hinab in die kleine Stadt mit all ihrem Fachwerk, ihren bunten Blumenkübeln an den Eingängen und Geranien vor den Fenstern. Beim Bäcker am Marktplatz nehme ich einen tiefen Atemzug von frisch Gebackenem, werfe einen Blick auf das verspielte Rathaus und die Wimpelkette vor dem Touristenbüro. Kurz vor dem Ortsausgang überhole ich eine alte Frau auf ihrem klapprigen Hollandrad. Dann biege ich links ein, zum Gasthof, der sich unter ehrwürdigen Nadelbäumen verborgen hält.
Auf der Rückseite, zwischen den Mülltonnen, Lieferantenkisten, Leergut und dem Komposthaufen, ziehe ich den Zündschlüssel und nehme den Helm ab.
Auf dem verrosteten Parkplatzschild steht: Nur für Personal. Für wen sonst, frage ich mich.
Im Biergarten empfangen mich die Spatzen, welche zwischen Tischen und Stühlen nach verbliebenen Brotkrümmeln vom Vortag suchen. Der Himmel ist seit Tagen blau. Ich hasse dieses Blau. Ich sehne mich nach dicken Regenwolken oder einer Krankschreibung.
Von den Tischen und Stühlen beginne ich, den Staub der letzten Nacht zu wischen, Sonnenschirme aufzuspannen, Tischdecken und Kissen auf die verwitterten Möbel zu legen. Dermsky, der Chef des Hauses, schleppt sich schlaftrunken an mir vorbei in Richtung Küche.
„Guten Morgen“, spricht mein Anstand.
Er brubbelt ein zerknirschtes „Mmh“ in seinen Dreitagebart, konzentriert sich auf seine schlürfenden Füße, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
Ich sehe den kleinen Inder nicht, weiß aber, dass er hinter dem Berg von Kartoffeln, Gemüse und Salaten hockt, waschen – schneiden – putzen.
Am Herd steht Gunnar, ein Koloss von einem Koch und rührt in Töpfen mit Sauce. Seine Jacke spannt über dem Bauch und ich frage mich, wie lange die Knöpfe dem Druck wohl noch Stand halten würden.
Dermsky öffnet jede Kühlschublade, um sie dann -rums- wieder zuzuwerfen.
„Wieso ist hier kein Entrecote! Wieviel wird denn da eigentlich gefressen?“, brüllt er.
Ich versuche, möglichst ungesehen an die fertig abgebackenen Baguettes zu kommen, um diese an den Servicetisch zu bringen.
„Wenn deinen Saucen vom Rühren schwindlig wird, baue den kalten Posten auf! Das Pimmelchen kommt später!“
Ich atme durch. Ich bin aus der Schusslinie und kann mich den Servietten in den Brotkörben widmen. Die Töpfe werden von den Platten gezogen und in seinem eigenen Tempo schwabbelt Gunnar der Koloss auf die andere Seite der Küche.
Geräuschvoll inspiziert Dermsky die Kühlschränke erneut von vorn.
„Weiß hier eigentlich irgend jemand, was das Fleisch im Einkauf kostet!“
Nun hat er mich im Visier: „Ab heute nur noch drei Scheiben Brot zum Salat! Kapito! Erzähl das auch den anderen Pappnasen da draußen!“
Sie wünschen noch Brot? Das geht leider nicht. Das Fleisch ist so teuer, wissen Sie. Schwachsinn denke ich, verzichte an dieser Stelle jedoch freiwillig auf eine Grundsatzdiskussion und nicke zustimmend.
Es scheint ihn zu beruhigen, mit entkrampftem Gesicht trottet er hinüber zum Froster.
Ich will hier raus, werfe einen letzten Blick auf den Gemüseberg, vom Spüler noch immer nichts zu sehen.
Am Tresen nippe ich am Kaffee, den Freddy mir mit seinem 'Fick-mich-Baby-Lächeln' über den Tresen schiebt. Zum Dank wende ich mich ab und ziehe meines Weges in Richtung Umkleide, wohl wissend, sein Blick würde nun an meinen Hintern kleben. Kurz bevor ich die Treppe zum Keller erreiche, schenke ich ihm einen zackigen Rechts-Links-Rechts-Schwung meiner Hüften. Nie im Leben, du Blödmann!
Das Sonnenlicht blendet, als ich aus der Umkleide wieder nach oben komme. Ich sehe die ersten Gäste. An meinen Tischen, am anderen Ende.
Kollegin Ina nuckelt zufrieden, ungeachtet der Wartenden, an ihrem Kaffee. Mit einem Grinsen so breit wie sie selbst und „Nicht mein Revier, Schätzchen“, kommentiert sie meinen fragenden Blick.
Das Geschäft läuft, alle sind wir irgendwie in der Scheiße. Freddys Grinsen ist einem nervösen Zucken gewichen, Ina dampft und hechelt. Die Küche ertrinkt in einer wahren Flut von Bons. Von Dermskys Pimmelchen noch immer keine Spur. Hinter der riesigen Dampf-Fett-Wolke glaube ich, die Konturen des Spülers am kalten Posten auszumachen.
„Fräulein, wenn Sie uns doch gleich mal zwei große Apfelsaftschorlen bringen könnten und für Doris eine Schüssel Wasser.“
Mein Blick fällt auf eine alte, zersauste Dackeldame, die sich unter dem Tisch verkrochen hat. Irgendwie sieht die tot aus.
Ich nicke, kritzle auf meinen Block: 43 – 2 ASS 0,4 / Hundewass.
„Und machen Sie schnell, wir sind am Verdursten. Die Hitze ist ja nicht auszuhalten.“
Ich nicke wieder und setze meinen Weg durchs Revier fort.
Der Blickkontakt zu Tisch 44 ergibt, dass mehr Kaffeesahne gewünscht wird.
„Mä'chen, bei mir fehlt det Jemüse von de Lammhaxe!“, ruft jemand von vorn.
„Können Sie nicht mal die Teller abräumen!“, kommt es von links. Sorry, links ist nicht mein Revier. Die fehlenden Speckbohnen dagegen schon.
Am letzten Tisch der Reihe notiere ich: Zwei Carpaccio, zwei Tomate-Mozzarella, vier Salat Schafskäse.
Auf dem Rückweg nehme ich doch die Teller mit.
„Das wird aber auch mal Zeit“, kommt es über den von Lippenstift verschmierten Mund der Dürren. Alles an dieser Frau ist spitz, sogar ihr ulkiger Sonnenhut.
„Und noch zwei Expresso, aber express.“ Klar, daher ja der Name. Ihr 'Expresso' tut mir in den Ohren weh.
„Zwei Espressi“, wiederhole ich, mit verstärkter Betonung auf Ess.
Mit den leeren Tellern suche ich mir meinen Weg durch den mit Wanderstöcken, Kinderwägen und Rucksäcken zugestellten Gang. Zwei Fangen spielende Kinder nutzen mich als Möglichkeit der schnellen Richtungsänderung. Eines der Kinder umklammert meine Beine, fängt sich ab, schleudert herum und reißt mich zu Boden. Die Scherben der Teller liegen hübsch um mich verstreut. Die Kids erstarren, aus ihren kugelrunden Augen spricht das schlechte Gewissen.
„Ja können Sie denn nicht aufpassen“, keift es in meinem Rücken. „Sie sehen doch, dass die Kinder hier spielen.“ Das Muttertier nimmt ihre Lieblinge in die Arme: „Habt ihr euch weh getan, Engel? Alles wird gut, Mami ist ja jetzt da.“
Der Kleinere setzt zum Gebrüll an, quetscht Tränen in die Augen. Gleich wird er ein Eis bekommen, da bin ich mir sicher.
Ich rappele mich auf, sammele meine Scherben zusammen. Mein Hintern schmerzt. Scheiße tut das weh.
In der Küche höre ich den Spüler hinter einer Mauer aus Kochgeschirr, Tellern und Besteck klappern.
Durch den Dunst sehe ich ein fremdes Gesicht. Das Pimmelchen ist angekommen, Dermsky hat ein neues Spielzeug. Gunnars Schweiß tränkt dessen Jacke und salzt das Gemüse in den Töpfen. Dermsky pumpt und brüllt hinter dem Pass. Freddy versucht beruhigend auf ihn einzureden. Keine gute Idee, Dermskys Arm schnellt auf ihn zu und zieht ihn am Kragen zu sich heran. Ich verschiebe die Frage nach den fehlenden Bohnen auf später und trete den Rückzug an.
Im Gang höre ich, wie Dermsky wieder auf die Klingel einschlägt; fertiges Essen wartet auf den Abtransport. Aber ich geh da jetzt nicht rein. Ina schubst mich zur Seite, sie und ihr Körper brauchen Platz. Zum ersten Mal bin ich ihr gegenüber voller Dankbarkeit.
Ich organisiere Kaffeesahne und Dackelwasser. Während ich auf meine Getränke warte,
schütte ich einen halben Liter Wasser in mich. Dann blinzle ich mir meinen Weg gegen die Sonne zurück ins Revier, während mein linker Arm gegen die Schwerkraft des Tabletts kämpft.
„Die Küche lässt sich entschuldigen.“ Ich versuche Zeit beim Haxenmann zu schinden. Sauce tropft über sein Doppelkinn, mit dem Handrücken schmiert er sie breit, begleitet von einem zufriedenen Schmatzen.
„Hätt' schlimmer sein können, die hätten det Fle'sch verjessen können.“
Ich gebe ihm Recht und bin froh, dass er glücklich ist.
Bei den Alten lade ich die Apfelschorle ab und serviere dem Dackel sein Wasser.
„Heute ist es aber auch warm, da muss man viel trinken. Trinken Sie genug, Kindchen?“
„Ich gebe mir Mühe“, sage ich, während ich durch Kopfschütteln versuche, den am Nacken klebenden Pferdeschwanz wieder auf Distanz zu bringen.
„Bringen Sie uns doch zwei Mal das Tatar vom Lachs mit den Röstis“, zwitschert die Alte vergnügt.
Mit der neuen Bestellung und dem festen Willen nach den Bohnen zu fragen, gehe ich in die Küche. Sie empfängt mich zuverlässig mit Saunatemperatur und Dermskys Gebrüll. Er greift nach einer vollen Suppenterrine, holt aus … Scheiße Mann, der wird doch wohl nicht … trifft mich am Kopf. Ich höre die Keramik am Boden zerbrechen. Mir wird schwindlig, ich falle auf die Knie. Speckbohnen, Tisch 48, will ich sagen, aber ich bringe kein klares Wort über die Lippen. Mein Gesicht brennt. In meinem Schädel herrscht Überdruck. Irgendwo tropft Blut. Eine Stimme dringt zu mir vor … „Krankenwagen“ … Krankenwagen klingt gut. Irgendwie beruhigend, finde ich.