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Prater! Prater! - Eine wienerische Zukunftsvision

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15.09.2003
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Prater! Prater! - Eine wienerische Zukunftsvision

Jens ließ seinen verlorenen Blick schweifen, aber wie schon vor einer halben Stunde sah er nur seine gereizte Freundin und die menschenleere Praterallee bei Nacht. Kerstin fuhr sich durch ihr blondes Haar: „Laut Reiseführer ist das hier die einzige Straße Wiens, wo man sich NICHT verlaufen kann.“
Jens tat so als hätte er die Bemerkung überhört: „Auf jeder Kirmes in Bitburg gibt’s mehr Spaß als im Prater. Ich weiß das, ich hab vor drei Jahren in Wien studiert.“ Kerstin erwiderte: „Wie willst du das beurteilen, du bist in deinem Leben noch nie mit einer Achterbahn gefahren. Außerdem soll der Prater heute anders sein als früher.“
„Das könnens laut sagen, gnädiges Fräulein!“ Aus der Finsternis des Waldes erschien ein Greis mit Augenklappe. „Ja, was schauens so verschreckt? Junge Leut heutzutag halten nix mehr aus.“ Jens fasste sich: „Brauchen Sie vielleicht Geld für Essen.“ Der Mann winkte ab: „Sehr freundlich, aber Sie missverstehen mich! Wenn ich mich Ihnen präsentieren darf, ich bin der Krachtowil Ferdi – die meisten sagen Charo zu mir. Ich gebe zu, Sie fatalerweise belauscht zu haben. Dank mir haben Sie aber den Eingang zum neuen Prater gfunden. In den alten Prater wollte niemand mehr. Von einem Tag zum anderen ist dann was Mysteriöses passiert. Der Prater war nimmer der Prater, aber irgendwo war er doch unser Prater, nur halt anders.“
Jens runzelte die Stirn: „Brauchen Sie Geld für Schnaps?“ Charo lachte: „Also, wenn ich meine Gemütlichkeit ned hätt, …“ Charos Stimme wurde auf einmal düster wie die Nacht, „daun tatst jetzt scho wimmernd auf da Strossn liegn!“ Kerstin hob beschwichtigend die Hand: „Is ja gut!“ Charo trat zur Seite. Kerstin stapfte in den Wald. Jens zwirbelte unwohl seinen schmalen Backenbart: „Was für ne saudoofe Idee.“ Er gab sich aber einen Ruck und folgte seiner Freundin.

Einige Zeit später erwachte Kerstin mit schmerzendem Hinterkopf. Kerstin wollte sich aufrichten, doch sie war auf einem Holztisch festgeschnallt. Als sie sich bewegte, klirrte es – neben ihr waren Gläser und Teller. Kerstin lag auf einem Esstisch. Sie wollte schreien, doch ein Knebel hinderte sie daran. Sie hob ihren Kopf und erblickte Steinwände, eine Gittertür, einen Haufen Eisenfesseln und eine Stehlampe mit geblümtem Schirm.
Eigentlich war es für Kerstin an der Zeit, in Panik zu geraten. Jedoch erschien ihr dieses Verlies wie die lebensechteste Geisterbahn der Welt. Sie war gespannt, was als nächstes passieren würde.
Zuerst hörte sie jemanden etwas Merkwürdiges sagen – „Krawuzi Kapuzi“. Am Boden sah sie einen kleinen Schatten, der zwischen den Gitterstäben hindurchhuschte. Dann quietschte die Eisentür. Drei grauhäutige Gestalten mit abstoßenden Fratzen schlurften herein: Ein Mann im Frack, eine Frau im Abendkleid und ein Mädchen in schwarzem Lederzeug. Kerstin bewunderte die eklige Lebende Leichen-Schminke des Trios.
„Ein Klassiker …“, urteilte Kerstin, „… Eine menschenfressende Zombie-Familie und ich liege hier auf dem Präsentierteller.“ Bei dem Gedanken lachte sie in ihren Knebel.

Bis zur Taille im Sumpfmorast zu stecken, gefiel Jens immer weniger. Zuerst war er froh gewesen, versehentlich hineingestolpert zu sein. Er hatte gehofft, dass sie deshalb gleich nachhause gehen würden, sobald Kerstin aus dem Spukschloss zurückkam. Inzwischen beeindruckte ihn der neue Prater aber doch: Alles wirkte wie eine längst vergessene Dschungel-Welt, es gab sogar lebendig wirkende Flugsaurier und Riesenechsen.
Jens bereute, nicht mit Kerstin mitgegangen zu sein. Das einzige, was er hier erlebte, war ein Jäger, der plötzlich aus dem Dickicht auftauchte. „Heast, Oida! Host du an Offen gseng?“ Jens fragte verdutzt: „Wie bitte?“ „A so! Haben Sie einen Affen, genauer gsagt an Riesengorilla, vorbeilaufen gesehen?“ „Nein, ich habe andere Probleme.“ Der Jäger wurde wütend: „Bei uns do gibt’s kaune ondern Probleme ois den Offen! Des depperte Viech sui wieda durthin zruck, wo’s herkumma is!“ Der Jäger trat nah an Jens heran. Im Dunkeln sah Jens erst jetzt, dass der Jäger eine Sängerknaben-Uniform trug, die ihm natürlich viel zu klein war. Jens stotterte: „Waidmanns Heil!“ Mit einem mehrfach gejodelten „Waidmanns Dank! verschwand der Jäger wieder im Dschungel.

Die Familie setzte sich an den Esstisch. Ihre Abendkleidung hing in Fetzen herab – genau wie ihre Haut. Der Vater faltete die Hände zum Gebet. Die Tochter weigerte sich. „Alexandra, warum dankst du Gott nicht?“ „Geh, Papa. Besser in der Hölle herrschen als im Himmel dienen.“ „Schatz, der Teufel ist selbst ein Diener. Der hat die Dreckshacken vom lieben Gott. Der Teufel muss alle Menschen bestrafen, die böse waren. Glaubst du der macht das gern?“ Alexandra sprang auf: „Also, seit ich tot bin, hab ich jedenfalls noch kein Engerl gsehen!“ Sie stürmte hinaus. Hämisch sagte die Mutter: „Super, Herbert.“ „Schau nicht so zwider, Agnes.“ „Ich schau zwider, wenn’s mir passt … Na, wenigstens hast dir vom Herrn Petzi fürs Abendessen keinen betrunkenen Touristen andrehen lassen.“ Agnes strahlte die geknebelte Kerstin an: „Solche Leute sind geschmacklos.“
Kerstin überkam nun doch die Angst, aber nicht wie ein kriechender Schauer, sondern wie ein Eimer kalten Wassers, der über ihr ausgeschüttet wurde. Kerstin warf sich hin und her. Dabei rutschte ihr der Knebel aus dem Mund. Sie kreischte: „Bitte nicht fressen!“ Auf den Schrei folgte Stille. Herbert fuhr hoch: „Das ist ja wohl die Höhe! So bedankt man sich in Deutschland für Gastfreundlichkeit. Wir sind doch keine Barbaren …“, Agnes begann gekränkt zu schluchzen, „… oder gar Monster!“ Unter Tränen löste Agnes Kerstins Fesseln: „Verlassen Sie sofort unser Haus.“
Durch schmale Gänge, in denen überall Folterinstrumente und Küchengeräte hingen, wurde Kerstin nach draußen gebracht. Mit Erleichterung und ein wenig schlechtem Gewissen stand sie wieder im Freien. Kerstin wollte nur noch hier weg, sie erspähte Jens aber nirgendwo.

Jens hörte eine fidele Stimme aus dem hohen Gras vor ihm: „Halli Hallo! Wer bist denn du?“ Jens spielte sofort mit, er wollte raus aus dem Sumpf und rein ins Vergnügen: „Halli Hallo, ich bin der Jens. Ich habe ein Problem, hilfst du mir?“ „Dann musst du mir auch helfen – als Zuschauer für mein Stück.“ „Alles, was du willst.“ „Na, schön – dann macht alle mit …“ Jens wusste nicht, woher plötzlich die Kinderstimmen kamen, die gemeinsam mit seinem unsichtbaren Helfer schrieen: „Hau Ruck! Hau Ruck!“ Beim dritten „Hau Ruck!“ stand Jens wieder auf festem Boden. Dankbar senkte er seinen Blick – auf eine breit grinsende Kasperl-Puppe.

„Waun I’s da doch sog, Jack the Ripper wor a echter Wiener“, fauchte der Sensenmann. Kerstin fauchte zurück: „Das lasse ich als Europäerin nicht auf mir sitzen. Nicht alle großen Mörder kommen aus Österreich.“ „Oba fost olle“, gab der Kapuzenträger klein bei.
Kerstin wusste nicht, wie lange sie schon auf dieser Bank aus Knochen saß und sich mit dem Kapuzenmann stritt. Er hatte sich als „Da Tod!!!“ vorgestellt. Kerstin wollte ihn überlisten, um Jens zu finden. „Da Tod!!!“ sagte aber, dass er sich in dieser Stadt auf keine Wetten mehr einlassen würde. Daher waren Kerstin und er in eine kindische Diskussion geraten. Der Kapuzenmann wurde immer aufgeregter – so sehr, dass er sich wild gestikulierend mit der eigenen Sense den Umhang zerschnitt. Unter dem herabgefallenen Stoff kam ein kleiner Bär zum Vorschein, der wehmütig raunte: „Mein schönes Kapuzi!“ Kerstin packte den Kerl – er hatte sie immerhin ins Verlies eingesperrt! Doch der Kleine flehte: „Nicht wehtun, ich bin doch der liebe Herr Petz. Ich bringe dich auch zu deinem Freund!“

Jens musste wieder warten – diesmal in einer bunt ausgemalten Höhle. Draußen patrouillierte ein Riesengorilla, der sprechen konnte, aber nichts Spannendes zu erzählen hatte. Zu seiner Freude sah Jens, wie Kerstin die Höhle betrat. Zeit für eine innige Begrüßung blieb ihnen nicht, denn die Show begann.
„Willkommen im postdramatischen Kasperltheater – wir zeigen Ihnen KASPERL-LAND!“ Kasperl nahm eine Keule, mit der er auf sich selbst einschlug. Petzi stand daneben und krächzte: „Konstruktion … De-Konstruktion … Krawuzi … De-Kapuzi … Re-Membering … Re-Krawuzi … Dis-Membering … Dis-Kapuzi …“ Jens und Kerstin wollten sich davonschleichen, doch Petzi bemerkte sie: „Dies ist freies Theater. Ihr könnt ruhig gehen, …“ Kasperl warf ein: „Aber … Wie wollt ihr gehen, wenn ihr keine Beine mehr habt?“
Jens und Kerstin rannten los und blieben erst stehen, als sie vor Atemlosigkeit nicht mehr weiter konnten. Sie berichteten sich gegenseitig, was ihnen passiert war, dann lachten beide schallend auf.
Kerstin stellte fest: „Weder die Zombies noch der Kasperl hätten uns tatsächlich was angetan.“ Jens stimmte zu: „Ja, wenn dir hier jemand Gewalt antun will, kommt er nicht direkt auf dich zu und schaut dir in die Augen. Nein, der kommt von hinten.“ In diesem Moment schwang sich der Riesengorilla an einer Liane von hinten heran, schnappte Kerstin und verschwand mit ihr in den Tiefen des immer noch nächtlichen Dschungels.
Jens, der bis zu diesem Tag noch nie mit einer Achterbahn gefahren war, hechtete zum nächsten Baum und griff nach einer Liane. Bevor er die Verfolgung aufnahm, sagte er sich zu selbst: „Ein Gorilla hat tatsächlich meine Freundin in den Dschungel entführt.“ Souverän wie der Held eines Action-Filmes setzte er hinzu: „Das geht ja aber mal gar nicht!“

Es war schon Nachmittag, als Jens und Kerstin einen Ausgang aus dem Prater fanden. (Die Befreiungsaktion war so abenteuerlich und verrückt gewesen, dass sie Worte nicht beschreiben können.)
Wieder zurück in der Stadt bot sich dem erschöpften Paar ein Bild, das sie überraschte, aber nicht mehr erschüttern konnte. Die Häuser wirkten auffällig unecht. Jens brach aus einer Wand sogar einen Brocken ab – es war Styropor. Passanten kamen ihnen auch nicht entgegen, auf dem Gehsteig standen nur Jahrmarktsfiguren mit Glühbirnen statt Augen und Münzschlitzen statt Ohren. Die einzigen Geräusche wahren Lebens drangen aus dem Prater zu ihnen heran – Dinosauriergebrüll, hysterisches Kasperl-Gelächter und kollektives Zombie-Stöhnen. Jens und Kerstin sahen sich fragend an, zuckten mit den Schultern und küssten sich. Dann gingen sie zur nächsten Haltestelle, wo sie auf die Liliput-Straßenbahn warteten.

 

Hi Markus,

Erst mal muss ich dich loben, und zwar dafür, dass in deiner Geschichte fast keien Rechtschreibfehler sind und sie sich auch vom Stil her gut lesen lässt.

Zur Rubrik: Ich denke deine Geschichte passt hier nicht hin. Ich weiß beim besten Willen nicht, was daran satirisch sein soll bzw. weiß du damit auf die Schippe nehmen möchtest. Ich würde dir als Rubrik Sci-Fi (vllt) oder Sonstige vorschlagen. Dorthin würde sie wahrscheinlich am ehesten passen.

Die Idee zur Geschichte hat mir gefallen, auch wenn ich selbst noch nie den Prater gesehen habe. Alles in allem wars ganz nett, aber irgendwie auch nichts besonderes.

Ein Makel war für meinen Geschmack, dass keine wirkliche Spannung aufgekommen ist. Das Ganze plätschert so vor sich hin. Vielleicht schaffst du es noch sie ein wenig spannender zu gestalten.

Ingesamt wars Ok.

lg neukerchemer

P.S Hab grad gesehen, dass wir fast dasselbe Studieren.

 

Hi Neukerchemer!

Danke für dein Feedback.

Zur Absicht hinter dem Text muss ich sagen, dass er in eine Rubrik "Surreales/Absurdes" (wenn es sie gäbe) am besten passen würde. Abgesehen von dem Szenario, das für "Science Fiction" wohl zu fantastisch/unerklärt bleibt, meine ich schon, dass der Text satirische Spitzen gegen Wiener Alltag, Wiener Kulturleben und - natürlich auch - Wiener Bürger enthält. Womöglich hat der Perspektivenwechsel (ich als Österreicher mache zwei deutsche Touristen zu Hauptfiguren) dann doch nicht den Erfolg gehabt, dass auch jemand, der selten oder nie in Wien/Prater gewesen ist, die Anspielungen versteht.

lg,
Markus

 

Stimmt.

Ich war nur seit gut zwei Jahren nicht mehr auf kg.de aktiv und hatte die "Seltsam"-Rubrik als Ort für hauptsächlich experimentelle Texte in Erinnerung. Ich hab jetzt wieder reingeschaut und denke, "Prater! Prater!" könnte dort gut hineinpassen.

Ich bitte mal per PN um eine Verschiebeaktion.

 

Hallo Markus,

ich würde auch sagen; als Rubrik bietet sich hier eher "Seltsam" oder "Sonstige" an, wobei "Seltsam" wohl besser passen würde.
Ich war schon im Prater, hat mir damals sehr gut dort gefallen... :D Du zeichnest ein wirklich überspitztes surreales Rummelplatzleben, das natürlich die deutschen Touris lockt. Übrigens war ich damals ebenfalls ein waschechter Touri, aber wurde von meinem Freund begleitet, der vor einigen Jahren in Wien studierte. Von daher empfand ich die Straßen gar nicht so unübersichtlich. :D

Die Geschichte selbst hat mir ganz gut gefallen. Es kommt - wie bereits erwähnt wurde - allerdings nicht richtig Spannung auf. Und die satirischen Anspielungen aufs Wiener Kulturleben hab ich auch nicht verstanden. Aber; bin ja kein Österreicher. :)

Gruß
stephy

 

Auf heftigsten Wunsch des Autoren aus der Satire nach Seltsam geschoben.

 

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