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Prokrustes
Mein linker Arm ist weg. Eines morgens wachte ich auf und er war verschwunden. Nur noch ein Fleischstummel nah bei der Schulter blieb übrig, zeugt vom einstigen Dasein eines gesunden Armes. Halb so schlimm, könnte man sagen, auf Menschen verweisen, denen beide Arme, die Beine, das Geschlecht oder Niere oder Lungenflügel fehlen. Da bin ich mit meinem fehlenden Arm sogar ganz gut weggekommen, habe keinen Grund zu Klagen, sollte froh sein.
Es ist seltsam aufzuwachen und festzustellen, dass etwas fehlt. Dass es nicht langsam gegangen ist, nicht mit Verabschiedung und langsamen Von-einander-Lassen, sondern auf einen Schlag verschwunden ist. Zack - einfach so. Ist ja auch klar: Wie sollte sich ein Arm stückweise verabschieden? Bei einem Arm ist es eine Ganz-oder-gar-nicht Entscheidung, er ist da oder nicht. Keine Kompromisse, so schmerzhaft es auch ist.
Manchmal lasse ich Dinge fallen, weil ich versuche, sie mit dem linken Arm zu fangen, der nicht mehr da ist. Mein Kopf hat sich auch noch nicht daran gewöhnt, was mein Körper schon weiß. "Wann fängt der Film heute an?", fragt mich ein Freund, ich zeige ihm acht Finger, woraufhin er um fünf Uhr da ist. Missverständnis.
Ich versuche den fehlenden Arm zu kaschieren, schäme mich, ihn verloren zu haben. Stelle mich auf Fotos hinter Menschen und Gegenstände. Stopfe den leeren Ärmel aus, probiere verschiedene Prothesen an, die sich aber alle tot und fremd anfühlen. Nichts kann meinen Arm ersetzen.
Ich bin jetzt zu groß für meinen Körper. Das fehlende Glied ist als Negativbild immer noch da, als Loch, als Raum, der nach Ausfüllung schreit. Vieles scheint jetzt zu groß geworden zu sein. Die Kleidung, das Auto, mein Schreibtisch. Mein Bett, vor allen Dingen. War es immer so riesig? Ohne linken Arm kann ich die andere Seite nicht ertasten.
Wohin verschwand mein Arm? Wo ist er jetzt? Was tut er da? Denkt er manchmal zurück an mich, seinen alten Körper? Fühlt er sich noch verbunden, jetzt da alle Bande gerissen sind?
Als ich meinen Arm noch hatte und aus der Klinik zurückkam, da kam plötzlich meine Mutter ins Zimmer und sah, womit ich wieder einmal beschäftigt war. Sah mich mit dem Mund den Gürtel um den Arm festschnallen und das Zeug auf meinem Stuhl schon bereitliegen. Sie war nicht wütend. Sie war nur unendlich enttäuscht und das war noch schlimmer, denn es machte mir klar, in was ich mich hineingesteigert hab.
"Es hat keinen Sinn, wenn ich es dir wegnehme. Das hab ich immer gemacht und du hast immer irgendwoher neues gekriegt. Wieso tust du das? Willst du wirklich dein Leben daran lassen?"
War auch ganz schön unverantwortlich von mir, das im Haus zu machen, aber wer nicht selber drin steckt, weiß nicht, was es bedeutet. Und das eine Klink nichts ändern kann, wenn man es im Kopf nicht begreift.
Ich habe es an dem Abend nicht gemacht, es ungedrückt beiseite gelegt und stattsdessen gebetet. Ich betete, Gott möge mir helfen, davon loszukommen.
Musste das sein?
Ich bin in einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die ihre (eine oder mehrere) Gliedmaßen verloren haben. Wir sitzen zusammen, singen, machen Bewegungsübungen, erzählen, wie wir damit umgehen und was wir erlebt haben. Wenn ich sie sehe -Freddy, Jan, Axel, Marie, Julia, Alex, Tine, Lea, Christian- dann fühle ich mich schuldig. Sie haben ihre Arme und Beine in Unfällen verloren. Im Verkehr oder Haushalt oder an der Arbeit, ohne etwas dafür zu können, ohne es kommen gesehen zu haben, ohne eigene Schuld daran. Und jetzt kämpfen sie. Um Alltag, um Rückkehr zum normalen Leben.
Ich dagegen sah es kommen und habe nichts getan. Als gegen Ende mein Arm erst dunkelblau wurde und dann schwarz, fixte ich immer noch. Ich weiß nicht, ob ich wirklich in diese Gruppe gehöre oder ob ich mein Schicksal nicht einfach verdient hab.
Es ging mir besser als ich mir folgendes klar machte: Mein Arm musste amputiert werden, weil das die einzige Methode war, wie ich von der Droge loskommen konnte. Auf diese Weise beantwortete Gott mein Gebet. Mein Leiden wurde sinnvoll. Ich sehe ein, dass ich so verbohrt und so fanatisch süchtig wurde, dass nichts anderes zu mir durchdringen konnte. Wenn dieser Abriss mich nicht gestoppt hätte, wäre ich jetzt tot. Süchtig sein heißt, nach und nach kleine Teile von sich selbst abzuschneiden und wegzuschmeißen, bis am Ende gar nichts mehr da ist. Bis man am Ende nur noch eine leere Hülle ist, ein wandelnder Toter. Und davon war ich nicht mehr weit entfernt.
Ich wusste schon vorher, dass mein Tun falsch war. Mutter, die Leute in der Klinik, der Pastor: Sie warnten mich vor dem Weg, auf den ich mich begeben hab, zeigten mir wohin er führte. Warum ich tortzdem nicht davon abwich?
Ich hatte Angst. Ich hatte Angst vor dem, wie es sein würde, wenn die Droge nicht mehr da wäre. Wenn ich mich der Welt unbetäubt stellen müsste. Meine Freunde hangen auch alle an der Spritze. Würde ich mit ihnen noch befreundet sein können ohne selbst mitzumachen? Und die Freunde, die vor meiner Zeit mit der Droge waren, habe ich total vernachlässigt. Würden sie mich wieder in ihre Mitte aufnehmen?
Ich sah nichts, womit ich die Lücke füllen könnte, wenn ich nicht mehr spritzte.
Ich hab mich dieser Angst ergeben, dass war mein Fehler. Auf diese Weise wurde ich hart, ein unflexibler Brocken. Wir Menschen sind als weiche Wesen geschaffen, formbar, veränderlich. Als ich Gott bat, etwas an mir zu verändern, konnte er mich nicht formen. Er musste etwas abschlagen. Und das tut weh.