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Propusk
Für Porcupine
Der erste Zwerg kam am Donnerstag kurz vor Ladenschluss, als ich gerade die verbilligten Okkultisten-Anfänger-Sets einsortierte. Kleinokkultismus-Sonderangebotswoche. Dämonenbeschwörung in zehn Lektionen für jedermann zugänglich gemacht. Inklusive Schrumpfköpfeset, Taschennecronomicon, schwarzen Kerzen und Zauberkreide. Manchmal hatte ich diese Arbeit satt. Besonders die Räucherkatzen schrieen jedes Mal furchtbar, wenn ich sie in ihre Käfige zwängte.
Es kamen sowieso nie viele Kunden. Schon bei meinem Vorstellungsgespräch hatte ich bezweifelt, dass eine Filiale auf dem Feldberg besonders erfolgreich sein würde. Und ich sollte Recht behalten. Gegen Mittag kamen üblicherweise die zwei alten Wetterhexenschwestern, und am Nachmittag dann ab und zu der eine oder andere Bergtroll. Aber Arbeit war Arbeit und der Lohn war nicht schlecht. Nur die Ein-Glas-Konfitüre-mit-Zweihunderterschein-Zahler und Kleingeldhervorkramerer lösten inzwischen bei mir allergische Reaktionen aus. Und in dieser Lidl-Uniform sah ich total bescheuert aus. Wieso musste man eine Haube tragen?
Jetzt kam auch noch ein Zwerg. Na ja, höflich war er ja, aber er hätte etwas weniger lang vor den Tiefkühltruhen stehen können. Ich beobachtete ihn, wie er sich über den Rand einer Truhe beugte und sein Kopf darin verschwand. Seine Beine zappelten hilflos in der Luft. Ich stand auf, ging zur Tiefkühlabteilung und fragte ihn, ob ich ihm irgendetwas zeigen könnte. Der Zwerg murmelte etwas, was nach einem „nein“ klang. Erst jetzt erkannte ich, dass sein Bart an einer Packung indischer Kolonial-Pizzen festklebte.
Okay, dachte ich und kehrte wieder zur Kasse zurück.
Minuten später kam der Zwerg mit einem Ingwer-Eis in der Hand und wollte mit rotem Sand zahlen. Gut, Ingwer-Eis war sowieso nicht so ein Renner, aber roter Sand ging nun wirklich zu weit. „Wir nehmen nur Goldmark oder Taler!“, erklärte ich ihm so geduldig wie möglich.
„Roter Sand ist das Doppelte wert“, grummelte er.
Aber so leicht fiel ich nicht drauf herein. Nicht mit mir, Kleiner. Schimpfend zog er darauf eine kleine Lederbörse hervor und legte ein paar Goldnuggets auf die Theke. Seufzend öffnete ich die Kasse. Amerikanische Währungen - wie ich das Umrechnen hasste. Mit geübten Fingerbewegungen schob ich die Kugeln auf dem Abakus herum, bis ich die gewünschte Summe herausgefunden hatte.
Ich gab ihm seine siebenhundertzweiundsechzig Taler heraus und folgte ihm mit den Augen, als er in Selbstgespräche vertieft den Laden verliess. Dann schloss ich endgültig die Kasse für den heutigen Tag und ging in die Lagerräume, um das Futter für die Eisdämonen zu holen. Ich schob die getrockneten Menschenfinger in die Futterluken der Tiefkühler und warf nebenbei noch einmal einen Blick in die Truhe selber. Der Zwerg hatte auf der Suche nach seinem Eis sämtliche anderen Waren beiseite geschoben und den Boden beinahe komplett freigelegt. Einige schwarze Haare klebten an der Seitenwand. Entnervt beseitigte ich auch noch diese Unordnung. Das Schmatzen der Dämonen war dabei kaum auszuhalten.
Am nächsten Abend waren es schon zwei Zwerge. Wieder kamen sie, als ich grade meine Kasse schliessen wollte. Zuerst versuchten sie, sich gemeinsam durch das Drehkreuz zu zwängen, aber dieses Unterfangen gaben sie aus Platzgründen nach kurzer Zeit auf. Der Zwerg vom Vortag riss mit seinem Axtgriff versehentlich einen der Katzenkäfige vom Regal und eine violette Rauchfahne kräuselte sich aus der Gittertür. Unter dem grässlichen Gekreische der Katze stiefelten beide Zwerge zur Tiefkühltruhe.
Ich konzentrierte mich auf meine Abrechnung und versuchte zu ignorieren, wie einer der Zwerge dem anderen in die Truhe half. Das gelang mir ganz gut, ich schaffte es sogar, die Eiszapfen in seinem roten Bart zu übersehen, als die beiden mit ihrem Ingwer-Eis an die Kasse kamen. Ein Blick zur Tiefkühlabteilung sagte mir, dass sie dieses Mal sämtliche Waren ausgeräumt hatten.
„Für diesen Aufwand muss ich Ihnen drei Taler mehr berechnen“, hielt ich ihnen entgegen. Sie nickten nur und brummten irgendetwas auf zwergisch. Mit sehnsüchtigen Blicken in Richtung der Tiefkühlabteilung verließen sie den Lidl.
Als sie außer Sichtweite waren, schloss ich die Ladentür ab, brachte die Katzen zum Schweigen, fütterte die Dämonen und räumte die Truhe wieder ein. Inzwischen war mir klar, dass die Zwerge höchstwahrscheinlich nicht an unserem Ingwer-Eis interessiert waren. Ich versuchte, zu entdecken, wonach sie um aller Dämonen willen suchten, aber die Mahagonikühltruhe sah für mich völlig normal aus. Gut, vielleicht bis auf die Eispickelspuren am Boden. Ich war mir ziemlich sicher, dass die vorher noch nicht da gewesen waren.
Am nächsten Tag kamen sie zu viert. Nacheinander duckten sie sich unter dem Einlass für die Einkaufwagen hindurch und marschierten zielstrebig zu den Kühltruhen. Die Dämonen begrüßten sie bereits mit einem übellaunigen Zischen, so ganz anders als ihr gewöhnliches sanftes Brummen.
Etwas besorgt blickte ich ihnen hinterher. Solange keine anderen Kunden dadurch vertrieben wurden, konnte es mir ja eigentlich egal sein, was sie da hinten ausheckten, aber ich hatte endgültig keinen Bock mehr darauf, die Tiefkühlabteilung zu schrubben.
Doch soweit sollte es dieses Mal gar nicht kommen. Kaum hatte ich sie aus den Augen verloren, erklang ein ohrenbetäubendes Krachen, der Boden bebte, und ich verlor das Gleichgewicht. Ich taumelte gegen das nächste Regal, stürzte und konnte gerade noch verhindern, das Regal ebenfalls mit umzureißen. Eine Räucherkatze raste kreischend an mir vorbei, eine schwefelgelbe Qualmwolke hinterlassend.
Benommen setzte ich mich auf, und versuchte, herauszufinden, was geschehen war, aber über dem gesamten Innenraum lag eine Wolke aus Staub und Rauch, sodass ich erst einmal überhaupt nichts sehen konnte. Ich machte den Fehler, einzuatmen. Sofort bekam ich Staub in den Hals und ein fürchterlicher Hustenreiz schüttelte mich. Meine Augen tränten.
Durch die dünner werdenden Rauchschwaden konnte ich erkennen, dass dort, wo einst die Tiefkühlabteilung war, ein metergrosses Loch im Parkettboden klaffte. Von den Kühltruhen keine Spur. Immerhin sind wir das blöde Ingwer-Eis los, ging mir durch den Kopf.
Die Zwerge standen am Rand der Öffnung und starrten mit ihren kleinen Augen in die Dunkelheit hinunter. Offensichtlich störte es sie nicht, dass ihre Bärte und Haare rußschwarz und angekohlt waren.
Einer der Zwerge begann so etwas wie „Propusk“ zu murmeln, worauf die anderen einstimmten. „Propusk! Propusk! Propusk!“ erklang es im Zwergenchor. Sie hoben ihre Äxte und wirbelten sie wie Windmühlenflügel um den Kopf. Bevor die Zwerge irgendetwas anrichten konnten – ich wäre doch sehr erbost gewesen, wenn ich die Schrumpfkopf-Pflegespülungflacons wieder ordentlich hätte einräumen müssen – kam mein Abteilungsleiter herbeigeeilt und rettete mich aus der Verlegenheit, eingreifen zu müssen.
„Was fällt Ihnen denn ein? Haben Sie denn keinerlei Benimm gelernt?“, fauchte er die Zwerge wütend an. Inzwischen bediente ich die alte taubstumme Wetterhexe, die von der ganzen Sache gar nichts mitbekommen hatte und seelenruhig eine Dreierpackung Rührstäbe, den Schrumpfkopf-Lockenstab und ein Glas voller Froschlaich einpackte. Sie zählte die Taler einzeln auf die Theke, während ich die ganze Zeit versuchte, einen Blick auf die Tieflkühlabteilung zu erhaschen. Dann schenkte sie mir ihr zahnloses Grinsen, schwang sich auf ihren Besen und brauste davon.
Mein Chef und der Kutscher, der die Ware täglich auf den Feldberg brachte, hatten die vier Zwerge am Kragen gepackt und trugen sie nun Richtung Ausgang. Alles Zappeln nützte nichts. Die „Propusk“-Rufe wurden immer kleinlauter, bis sie schließlich verstummten, als die kleinen Kerle vor der Türe abgesetzt wurden.
„Ich will Euch nicht mehr bei Lidl sehen!“, schrie der Abteilungsleiter hinter ihnen her. Ich erhaschte noch einen Blick auf das kleine Grüppchen Zwerge, wie sie niedergeschlagen den Berg hinunter trotteten.
Ich wollte gar nicht daran denken, was mir jetzt bevorstand. Die Kolonial-Pizzen liefen ja ganz gut. Eigentlich das Einzige, was gut lief. Hoffentlich musste die Filiale nicht geschlossen werden. Ich hatte keine Lust, wieder als Kindermädchen unten in der Stadt zu arbeiten. Kinder konnte ich nicht ausstehen.
Die Öffnung im Boden bedeckten wir behelfsmäßig mit einigen Planken und stellen die Käfige mit den Räucherkatzen darauf. Danach half ich dem Kutscher dabei, die Eisdämonen einzufangen, die zu Dutzenden aus dem Loch gekrabbelt kamen und überall über den Parkettboden wuselten. Einer davon biss mir ziemlich schmerzhaft in den Zeigefinger, so dass ich mich gezwungen sah, die Ektoplasma-Heilsalbe zu einsfünfzig zu kaufen. Wenigstens half sie ganz gut gegen die Schmerzen.
Draußen war es schon längst finster, als ich endlich die Kronleuchter ausmachen und die Lidl-Uniform in meinem Schränkchen verwahren konnte. Der Abteilungsleiter, der ebenfalls geblieben war, bot mir an, mich in seinem Heißluftballon nach Hause zu bringen, was ich dankend annahm. Ich war wirklich sehr müde. Wie froh war ich, dass morgen Sonntag war.
Nach dieser anstrengenden Woche hatte ich vorgehabt, am nächsten Tag auszuschlafen und mich von den Strapazen zu erholen. Doch daraus wurde leider nichts. Es mochte so etwa fünf Uhr gewesen sein, als ich von einem ohrenbetäubenden Knall aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich fuhr hoch, schlüpfte rasch in Morgenrock und Pantoffeln und eilte zur Haustür. Mir schwante Fürchterliches.
Von meiner Hütte hatte man einen recht guten Blick auf den Berghang und meinen Arbeitsplatz. Ich erkannte sofort, dass sich die Zwerge nicht an das Verbot des Abteilungsleiters gehalten hatten. Eine nicht enden wollende Reihe kleiner bärtiger Gestalten stapfte stetig bergan, um einer nach dem anderen im Lidl zu verschwinden.
Zumindest in dem, was von dem Lidl noch übrig geblieben war. Ich konnte nur noch Teile der vorderen Wand mit der Eingangstür erkennen, der Rest war in einem riesenhaften gezackten Loch verschwunden, aus dem sich verschiedenfarbige Rauchfahnen schlängelten. Der Morgenwind trug leisen rhythmischen Gesang an mein Ohr, immer wieder erklang ein vereinzeltes „Propusk!“, wenn wieder ein Zwerg in dem Loch verschwand.
Ich warf mir einen Mantel über, zog Schuhe an und eilte bergan. Warum, weiß ich nicht genau, Wahrscheinlich wollte ich mich mit eigenen Augen von dem Ausmaß der Katastrophe überzeugen. Ich passierte einige äußerst gut gelaunte Zwerge, bog um die letzte Kurve und dann konnte ich es sehen.
Dort, wo einst die Filiale gestanden hatte, führte nun eine sehr alt aussehende breite Steintreppe in die Tiefe. Zwerg um Zwerg wanderte die Stufen hinunter, singend und lachend. Im Schein ihrer Grubenlaternen (in einigen erkannte ich unser Montags-Sonderangebot wieder) konnte ich am Fuß der Treppe ein wunderbar gearbeitetes riesiges Steintor erkennen. Einer der Torflügel stand offen und dahinter funkelte etwas wie Gold im Lichtschein.
„Propusk“, kicherte eine heisere Stimme direkt neben meinem Ohr. Erschrocken fuhr ich herum und starrte genau in das Gesicht der jüngeren Wetterhexenschwester.
„Was?“, stammelte ich.
„Die alte Stadt Propusk, die Heimat der Zwerge. Ich wusste schon immer, dass sie hier irgendwo liegen musste“, gluckste sie. Dann wurde sie ernst und betrachtete mich von oben bis unten. „Sag mal, Mädchen, du brauchst doch bestimmt jetzt eine neue Arbeit, oder? Ich könnte jemanden gebrauchen, der meine Kröten ausführt, was meinst du?“
Ich seufzte, und nickte dann. Es war eine Arbeit, und wenigstens würde ich keine Haube tragen müssen. Während ich der Hexe zu ihrem Haus folgte, verklang in der Ferne der letzte „Propusk“-Ruf, und mischte sich mit dem Kreischen der fliehenden Räucherkatzen.