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Proteus

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21.04.2004
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Proteus

PROTEUS

»Wir hatten uns geirrt. Der Große Alte war nicht verwundet, er hatte nur innegehalten, wahrscheinlich als er auf die Leichen seiner getöteten Artgenossen mit der höllischen Schleiminschrift an der Wand über ihnen gestoßen war. Wir werden niemals erfahren, was die dämonische Botschaft besagte – doch die Bestattungen in Lakes Lager hatten gezeigt, wie wichtig diesen Wesen ihre Toten waren.«

— H. P. Lovecraft: Die Berge des Wahnsinns

»Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln während in düsteren Gängen anderer Orte Formen die niemals waren und niemals sein durften sich mit der Ungeduld der Wenigen krümmen die nie erblickten was hätte sein können …«

— Jeff Vandermeer: Auslöschung (Trilogie)


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Ich hatte gehofft, ein wenig Frieden zu finden, hier, im welken, schleichend rottenden Arboretum dieser entlegenen Enklave aus Erzverhüttung und Schlacke; zwischen all den stinkenden, namenlosen Gestalten, die im Schlagschatten der Lampen vielmehr tierische als menschliche Züge tragen: Teufel, Gespenster; Ausgestoßene wie ich: kranke, gefallene Engel in ihrer Unterwelt abseits aller Handelsrouten – weit genug entfernt, um nicht mit einem einzigen, interstellaren Sprung zurück an den Ort gelangen zu können, der in meinen Träumen nistet wie ein monströses Tier; etwas Vages, etwas unangreifbar Böses, das mich mit eisiger Klaue gepackt hat und seitdem gefangen hält und krank macht, stärker wird und streut; nicht wie Metastasen, die meinen Körper brechen, ja, ich sterbe; nicht ausgelöst durch Strahlung, giftiges Essen, giftige Luft, sondern durch etwas tiefer Liegendes, etwas, das nicht in mir, unter meiner Haut, sondern jenseits der Oberfläche schwelt, mit Fingern nicht ertastbar und trotzdem immer da ist:

Ein Phantomschmerz.

Ein Summen im Ohr.

Im Ventilatorwind, der kraftlos abebbt, rascheln die Bäume trocken und tot. Je länger ich zuhöre, desto stärker mein Eindruck von … Stimmen, die knapp unterhalb der Hörschwelle in fremder, obszöner Sprache miteinander flüstern. Was reden sie? Was soll das bedeuten‽ Ich will verstehen, weiß:

Es geht nicht.

Wieder kriecht Angst in meinen Nacken, wie ein Insekt, dann ist das Gefühl verflogen, fort die Gänsehaut, als ich aufstehe, mich unter einen Wärmestrahler stelle und das rötliche Licht über mein Gesicht fließen lasse. Draußen, hinter der geodätischen Kuppel, gähnt der Abgrund des Weltraums.

An der Schleuse presse ich die antiquierte Gasmaske gegen mein Kinn, hole Luft, die septisch schmeckt, ehe ich mich durchs Gedränge aus Augen, Farben, Technik zu den Treppen der unteren Stockwerke schiebe:

Der Würfel bietet genug Raum für ein Bett, eine Toilette, eine Dusche, aus der braunes Wasser tröpfelt; für einen Kühlschrank, der leer bleibt, außer Getränken, weil ich unten, vom fettigen Imbiss, dessen Koch mich mit geschlitzten Augen feindlich mustert, mein Essen, wie jeden Tag, mit ins Exil nehme. Ich hocke am Bullauge, starre zu den Sternen, auf die klaffenden Räume dazwischen; auf das endlose Nichts, das an mir saugt wie ein Egel – oder vielmehr: ein Alb, ein Druck auf der Brust, eine Beklemmung, ein Drang, trotz allem nach außen zu fliehen … Ich halte stand. Obgleich alles sinnlos erscheint. Der kaputte Stuhl. Dieser Tisch. Diese dürren, lachhaften Essstäbchen in meiner Hand, mit den bizarren Lettern, die ich nicht entziffern kann: wie eine Inschrift auf ragenden, kosmischen Wänden: brennend, unlesbar. Und jemand schreibt, kratzend auf Papier, während die Zeitalter kommen und gehen …

Noch heute stehen wir an jener Reling: Die Crew geht an Bord; die Fracht wird verladen, als eine der Kisten vom Stapler fällt: ein Knall; bevor die süße Frucht auseinanderbricht, ein … Fliegenschwarm über fauligem Kadaver, der ekelhaft surrend zerstäubt! Eine Vision; für einen Augenblick, ein Blinzeln lang, doch wir haben sie gesehen: diese schmucklose Truhe aus Stahl, spaltbreit offen, und darin, darin … etwas Schwarzes, etwas namenlos Fremdes, das uns, früher als später, alle infizieren wird. Der Roboter trägt es ins Raumschiff, und dort wird das Geheimnis brüten als Geschwür, das lautlos wächst.

Anfangs, trotz des kurzen Schrecks, ist die Stimmung der Mannschaft gut und gelöst. Endlich Lohn auf den Stäben. Einen Frachtraum randvoll mit Behältern, die wir an drei Punkten der Handelsroute löschen werden. Auch ein Passagier: ein Archäologe, der im Staub eines unbekannten Mondes herumwühlen möchte und im Voraus bezahlt hat, sogar den doppelten Preis, weil er eine eigene Kabine beansprucht für seine Forschungen, sodass der Mechanist jetzt unten bei seinen geliebten Maschinen schläft. Und so viel Destillat an Bord, um uns nach Lust und Laune zu berauschen, sobald die Monotonie des Gleitflugs wieder unerträglich wird, nach der Beschleunigung, nach der Schleuder, die uns raus ins Weltall wirft. Als Astrogator berechne ich den Kurs, brüte bis tief in die Nacht über den Karten und Tabellen, über Gravitation, über Schub und Gegenschub, mutterseelenallein auf der Brücke, weil die anderen sich in billigen Kneipen besaufen, und mache mir Notizen unter einer Deckenlampe, deren Licht kränklich gelb auf mich runtertropft wie das Kondenswasser.

Dieses Schiff ist zu alt; hätte in einer Werft längst abgewrackt werden und einen würdevollen Tod finden sollen; stattdessen halten wir die einst schlanke Fregatte künstlich am Leben: mittlerweile ein Monstrum, abnorme Anbauten aus klobiger Technik und Stahl – und dann Mulden an anderen Stellen, nur Löcher, wie ausgeschabt. Und trotzdem ein Sandkorn, ein rostiges, winziges Rädchen, bloß eine Zelle im schamlos wuchernden Netzwerk aus Bergbau, Produktion und Transport, das alles umschließt wie eine Krake, ganz langsam, fast zärtlich, und nie mehr loslässt: jeden von uns, ganze Planeten. Mich fröstelt es, während ich müde von den Formeln aufsehe, die wie fremde Glyphen vor meinen Augen verschwimmen, den Stift beiseitelege; mich strecke und vom Ledersitz aufstehe.

Auf dem Weg zur Koje laufe ich an seinem Quartier vorbei … bleibe stehen, lausche: Kein Laut dringt durch die Tür, obwohl ich weiß, dass sie nicht richtig schließt, die Dichtungen sind porös. Für gewöhnlich höre ich den Mechanisten selbst am Ende des Gangs wie einen Holzfäller schnarchen – jetzt nervöse Stille, die mich seltsam stört.

Ich wasche mich, nehme die Tabletten ein; es dauert lange, bis ich auf der Matratze in den Halbschlaf finde: zu jenem Punkt, wo Bilder aus der Tiefe der Seele aufsteigen, vertraute Eindrücke aus meinem Leben, aus vergangenen Tagen, der Kindheit. Zeitweise das strenge Gesicht meines Vaters vor mir, ehe sein Körper verfiel, seine Muskeln, sein Intellekt – bis dieser Fels aus Weisheit und Kraft in geistiger Umnachtung versank. Dann bin ich weg, träume nichts, außer ein dumpfes Gefühl von Einsamkeit, als hätte mich jemand, den ich liebe, jetzt und für immer verlassen. Darauf steige ich zur Oberfläche wie eine Luftblase, und es wird heller, wärmer … Doch ich kann kein Auge öffnen. Schon wach, gleichzeitig schlafe ich noch! Mein Körper liegt gelähmt; ich versuche, mich hoch, irgendwie heraus zu reißen, sehe es auch, im Traum, schlage um mich und komme nicht frei: Der Schlaf hält mich gefangen wie ein Feind.

Mürrisch, zerfurcht von letzter Nacht, kauern wir zusammen in der engen Kombüse, würgen uns das trockene Brot rein, dazu Kaffee aus irgendwelchen Wurzeln. Von der Zecherei sind die Augen fast violett: blau am Rand, blutig durchschossen von Adern, als würde darin ein Pilz austreiben. Keiner sagt ein Wort: ein Murren, ein Handzeig, ein Nicken, gar nicht ungewöhnlich am Morgen vor dem Start. Als Mannschaft sind wir derart eingespielt, dass Worte überflüssig geworden sind: Jeder kennt seine Aufgaben. Jeder vertraut dem Können des anderen.

Und doch war etwas … anders, das mir erst im Rückblick völlig bewusst wird: Schon da lag etwas in der klammen Kabinenluft, wie ein Gas – oder: ein Gift, im Trinkwasser gelöst, dessen Konzentration steigt, wobei der Pegel im Tank stetig abfällt, mit jedem Tag im Weltall, das uns nach dem Leben trachtet.

Der Archäologe ist nicht erschienen. Vielleicht zu sehr mit seinen Forschungen beschäftigt oder er hält sich für was Besseres, anstatt mit uns zu speisen. Der Bordarzt hat ihm, wie gewünscht, ein Tablett vor die Tür gestellt: Reste vom Frühstück, doch nur die Hälfte davon ist verzehrt; im Brot kann ich Bissspuren sehen, und es ekelt mich, dieser Abdruck aus schiefen Schneidezähnen.

Ein Signallicht ruft uns, und während ich durch den Korridor laufe, scheint der Frachter endlich aufzuwachen: diese Bestie der Unterwelt, die an ihren Ketten rasselt … Auf der Brücke hat jeder seinen Platz eingenommen. Alles blinkt, ist hell und belebt. Kabel. Stecker. Vakuumröhren. Auf den Leinwänden, durch ein komplexes System aus Linsen und Spiegeln: verwinkelte Optiken, unscharf, aber leserlich draufprojiziert, kann ich einen Blick in die Innereien des Schiffs werfen – wie ein Chirurg, der die Bauchdecke, den Brustkasten des Patienten geöffnet hat, am Darm oder am offenen Herzen operiert: die Zuleitungen von Strom, von Hydraulik; und der Motor: das Herz! Auf den Instrumententafeln zittern die Zeiger, drehen sich. Die Skalen steigen an. Ich prüfe alle Werte. Hebe schließlich die Hand, und der Kapitän nickt mir zu und löst die Andockklammern: Wir treiben … ein flaues Gefühl von Fallen, bevor der Steuermann die Zündung einleitet.

Ich habe den Kurs strikt vorgegeben: enge Kurven, erst an den Monden, am Planeten, dann an den epochalen Gravitationsbaken vorbei, wo man seine Magensäure, den Druck auf den Ohren spürt – alles vergessen, als plötzlich das monumentale Sternentor vor uns aufragt, von seiner Aura, seiner Korona eingefasst, dem Heiligenschein, dessen Licht in die Schwärze wunderbar prismatisch abstrahlt.

Wir steuern darauf zu, auf dieses Nadelöhr, das wir treffen müssen, diesen abgrundtiefen Schlund: Unser Schiff wird noch schneller, als würde es eingesaugt, obwohl ich weiß, dass es nur den letzten Schwung ausnutzt, bis die Schleuder es anstößt, hart, kurz, und rauskatapultiert wie eine Billardkugel. Schmerz! Mir wird schwarz vor Augen …

Die Blätter unter meinen Stiefeln knirschen, während ich, wie jeden Tag, das Arboretum verlasse, die Schutzmaske aufsetze, ein Messgerät anschalte, das den Abstand zwischen den Leuten prüft, per Funk, und mir eine Warnung anzeigt, falls mir einer von denen zu nahe kommt … Erneut ein Fieber, verursacht durch ein pathogenes Bakterium, das die Lunge befällt, sich in den klaustrophobischen Straßenschluchten, zwischen den Märkten, den Bordellen, so rasch wie Geld verteilt. In den Augen sehe ich das Misstrauen, den Argwohn, wobei ihre Mäuler freundlich grinsen.

Jemand hustet!

Und ich laufe, mit gesenktem Kopf, den Kragen hochgeschlagen als würde es regnen, an den geschlossenen Geschäften und am obskuren Kino vorbei, das immer nur einen Film zeigt, seit Monaten.

Das Abendrot am Firmament: ein ewiges, heißes, rötliches Glosen der Essen, obgleich es für immer Nacht bleiben wird, hier draußen. Ich nehme die Mahlzeit mit aufs Zimmer: wieder Suppe, wieder weiche, seltsame Pilze darin mit den braunen Lamellen, deren Sporen zwischen den Fettaugen schwimmen. Betrinke mich mit schalem Bier – starre zum Projektor, der mich an irgendwas erinnert, vielleicht, wie ich früher einmal war. Um recht früh aufs Bett zu sinken, in der Hoffnung, rein gar nichts zu träumen, doch ich falle, falle, falle durch galaktische Leere … ins Loch: ein Bergbauschacht, ein bodenloser Brunnen, dessen Wand mich ringsum einsperrt; darauf eine Schrift ohne Worte, die in der Finsternis wächst, leise, unsichtbar, schleichend, ein öliges Geflecht aus Hyphen!

Zuerst, nach dem Sprung, sehe ich an der Decke die Glühbirnen in ihrer Fassung zittern: gelockert, bis sie rausfallen und zerplatzen. Ich spüre sofort, dass etwas nicht stimmt, die Vibrationen am Stuhl, wo keine sein dürften. Dann höre ich ein nasses Würgen, drehe den Kopf:

Der Kapitän kniet; hat sich, beim Wiedereintritt, die Zunge abgebissen, die blutig vor ihm liegt wie ein fremder Parasit. Gerade stopft ihm der Bordarzt einen Lappen ins Maul, um irgendetwas zu tun; Arm in Arm, hochgehievt, wanken beide zur Krankenstation.

Was ist passiert? Ein Kalkulationsfehler? Unmöglich. Ich prüfe die Skalen ... Tatsächlich vom Kurs ab, nicht sehr, aber auf große Distanz wirkt sich jegliche Abweichung dermaßen aus, dass wir den nächsten Punkt nicht erreichen könnten. Verdammt! Auch der Steuermann flucht. Wir starren uns an, und ich bemerke ein Lauern in seinem Blick: eine Hyäne, die Zähne gefletscht; dann lacht er, heiser, und ich lache auch, hysterisch, bis ich abrupt abbreche. Es liegt am Sternentor, das manchmal neu im Sonnenwind funkelt – oft alt und schwarz angelaufen ist wie ein Silberlöffel in der Schublade, seltsam oxidiert im luftleeren Raum. Solche Unwägbarkeiten sind eben: unberechenbar; also nicht meine Schuld, das wissen wir, und verlieren darüber kein weiteres Wort, während ich das Feuerwerk zünde, um uns auf Linie zu bringen. An Backbord beobachten wir das Spektakel: lautlose Explosionen aus grellen, bunten Farben.

Seine Zunge konnte wieder angenäht werden; später abgefallen, blauschwarz verfärbt und nekrös wie ein abgestorbener Zeh im Winterkrieg. Geredet hat er nie wieder.

Mein Würfel hat die vertrauten Dimensionen mit einer Kantenlänge von wenigen Metern, dazu die Zeit als vierte. Ich fühle mich sicher, vieles hat seinen Platz: die Wände, die Decke, der Teppich. Das Regal mit den Büchern. Mein Schreibtisch, auf dem, von draußen, eine Leuchtreklame flackert. Am Morgen klebt noch Bierschaum am Glas: Blasen; Planeten, die knisternd zerfallen. Ich trinke den letzten, ersten Schluck; schmeckt abgestanden. Lege mich aufs Bett, stehe auf und gehe zum Kühlschrank und nehme eine Flasche heraus. Trinke; pinkle in die Spüle, wo sich das Geschirr und Besteck stapeln. Und warte, weiß nicht worauf, starre bloß auf die Uhr, auf diese beiden Zeiger: Minuten vergehen, dann Stunden, während draußen die Seuche grassiert. Mir ist schlecht.

Bin betrunken …

Unruhig wälze ich mich in fleckigen Laken – als Wurm durchs Erdreich, blind, taub, schleimig kalt vor Angstschweiß. Um abermals vor jenen Monumenten zu stehen, die epochal emporragen, halb begraben vom Wüstensand, in dieser todesstarren, ergreifenden Mondlandschaft, in der nichts überleben kann. So dachten wir.

Schreiend wache ich auf!

Ich lese das neue Wort, das er ungelenk mit Kreide auf die Schiefertafel kratzt. Nicke ihm zu. Ein Murren, ein Grunzen aus seinem Mund. Aber wir alle missachten seine Befehle, seit der Kapitän seine Stimme verloren hat; reden selbst kaum miteinander, egal, wo und was wir gerade tun – und hören alles dumpf, als läge ein schweres Tuch über dem Papageienkäfig.

In meiner Kajüte dringt sein Stöhnen durch die Bordwand: tiefe, gutturale Laute wie von einem waidwunden Bär, die mir Schauer über die Haut jagen. Ich will nicht träumen! Schwerfällig stehe ich auf und schleiche durch die Eingeweide des Schiffs, wo der Mechanist, unten, als Schemen auf seiner Pritsche sitzt. Ein Gruß, keine Antwort. Im Schatten steht das Porträt seiner jung verstorbenen Frau: Ihren Namen habe ich vergessen.

Die elende Ruhe des Gleitflugs – wenig zu tun, alles läuft wie von selbst; also hängen wir in der Kombüse, atmen das Destillat, jodbraune Wolken, aus unseren Pfeifen, sind apathisch; waschen uns nicht, essen kaum, trinken wenig, sodass unser Urin eine Färbung hat und stinkt. Anders als bei früheren Reisen, bei denen wir uns lachend in den Armen lagen, bleiben wir auf Distanz: kein Handschlag, kein Schulterklopfen – als hätte jemand eine infektiöse Krankheit eingeschleppt; als würden wir fürchten, uns beim anderen anzustecken. Meist stehe ich allein am Bullauge, das in die Finsternis glotzt, um irgendwas zu sehen, etwas Schönes, etwas Edles, vielleicht einen goldenen Spiralnebel oder einen Eiskometen auf seiner einsamen Reise durchs All …

Nichts, nur ewige Nacht.

Im Arboretum ist ein weiterer Baum verfault, seine Äste, sein Stamm wie geschmolzenes Glas, hell und durchsichtig, nicht abstoßend, sondern von einer bizarren Anmut, die mich traurig stimmt. Und für einen Moment lüpfe ich die Gasmaske, um diesen Geruch einzusaugen, ein bitterer, erdig morbider Duft von Wasser und Verfall.

Seit dem Sprung sind die Optiken verstellt: der Fokus verschoben wie durch Regentropfen auf der Linse – oder grauer Schimmel bewuchert von innen das Glas. Deshalb kann die Maschinenkraft nicht gemessen werden. Ich habe das seltsame Gefühl, dass wir langsamer werden; als würde unser Ballast nicht sinken, sondern steigen, obgleich wir Trinkvorrat und Rationen verbrauchen und unsere Ausscheidungen ins Weltall blasen. Leichte Abweichungen, gewiss, doch ich spüre sie genau. Der Mechanist wirft einen Blick ins Periskop, schüttelt danach den Kopf: Keine Reparaturen möglich.

Mist!

Abends in der Koje nehme ich eine Pille gegen die Müdigkeit, anstatt mich hinzulegen und zu schlafen: Es ist eine Grenze, ein Strand, den ich nicht länger überqueren will. Beim nächtlichen Rundgang komme ich auch am Quartier des Archäologen vorbei: Es bleibt verriegelt, still. Ich sollte anklopfen, fragen, ob alles in Ordnung ist, und krümme schon meinen Zeigefinger, ehe ich von der Tür zurücktrete: Er möchte nicht gestört werden, so die Anweisung. Ist doch egal, was er tut, solange er gut bezahlt.

Mit nagenden Kopfschmerzen sitze ich am Raumhafen, der dieser Bezeichnung kaum gerecht wird: ein provisorisches Gebilde aus derb verschweißten Metallplatten, aus Rohren und Kisten, aus Stahlseilen und Winden, aus Kolben, Schläuchen, Druckbehältern und Motoren, das korrodierte Rampen und Stege bildet, sogar Hebebühnen, ganze Kräne. Überall blitzen Lichtbögen, grell; man sieht den Fortschritt. Trotz der dünnen, giftigen Atmosphäre bleibt es ein lautloses, stummes Schauspiel: Hinter den insektoiden Masken hören die Hafenarbeiter bloß Befehle, sonst nichts, bevor sie zu einem Container schwärmen wie Ameisen zum Zuckerwürfel, mal hier, mal dort fließen sie zusammen, verstreuen sich wieder. Von außen ist für mich keine Ordnung erkennbar, alles wirkt chaotisch, obgleich es natürlich eine logistische Struktur hat. Keine Roboter. Alles entsteht von Menschenhand …

Beim Abflug zünden die Schiffe ihren Antrieb: Feuerfunken, die in der Nacht verglühen, sobald sie den Orbit erreichen. Manchmal, selbst in den schäbigsten Bars, spüre ich diese Stimmung von Aufbruch in eine bessere Zukunft, den Weltraum zu erobern, dann überlagert von meiner Furcht vor dieser unsichtbaren, kosmischen Strahlung, die alles durchdringt, alles korrumpiert und zersetzt: eine Mutation auf Zellebene, die den Organismus, das große Ganze tötet.

Viel zu lange haben wir diesen Gestank ignoriert, der seit Tagen unsere Schleimhäute reizt und sich als Belag auf der Zunge niederschlägt: aschig im Geschmack wie Kohletabletten. Alle waren auf Droge, apathisch, verloren, abgestumpft. Jetzt stehen wir gemeinsam vor der Tür. Wir rufen. Wir klopfen. Wir poltern dagegen! Bis der Mechanist mürrisch sein Schweißgerät holt und das Schloss dampfend ausbrennt …

Der Anblick verschlägt uns den Atem.

Nicht sein Kadaver, der, wie von einer Pistolenkugel getroffen, rücklings verkrampft daliegt, sondern die Wand gegenüber: Davor steht eine Art von Vakuumglocke, die geplatzt ist und aus der ein Substrat träufelt, das sich zu teerigen Pfützen sammelt, darin auch der Archäologie. Aus diesem Nährboden ist etwas hervorgesprossen, das jetzt die Kabine füllt – feuchte, arabeske Ranken, die eine fremdartige Schrift zu bilden scheinen.

Schockiert beugen wir uns über den Forscher: Jedes seiner Augen ist anders, die linke Pupille ein opakes Loch: die dunkle Seite des Mondes, umrahmt von einer Korona aus gestocktem Blut. Und das rechte: glitzernde Scherben. Da bemerke ich eine scheinbare Neigung des Raums – ja, die Tropfen sickern zur Wand; obgleich das Schiff gar nicht in Schräglage stehen kann. Oder doch? Wie denn im Weltall‽ Verdammt. Alle raus! Der Kapitän steht schon im Gang, winkt uns zurück und bedeutet dem Mechanisten, diese Tür zu versiegeln: Funken fliegen, als dieser die Schweißnaht zieht, eine wulstige Narbe, die den Türspalt abdichtet. Damit fürs Erste erledigt.

Kein Wort mehr darüber! Unser Schiff hat schon viele giftige, gefährliche Stoffe transportiert: Im nächsten Raumhafen wird die Kabine einmal gründlich dekontaminiert, mit Chemikalien, mit Feuer, wenn es sein muss; danach wie neu. Vielleicht erhält der Archäologe ein anständiges Begräbnis, vielleicht wird er gleich mit verbrannt. Aus den Augen, aus dem Sinn!

Doch es wächst im Stillen weiter …

In einer Wachphase berechne ich das zusätzliche Gewicht, das den Kurs stärker nach Steuerbord zieht. Ich habe es extrapoliert: Er bringt uns direkt zum Mond, der neben der Handelsroute liegt, eben jenem, auf dem der Archäologe landen wollte. Das kann kein Zufall sein! Als stünde eine fremde Entität am Steuerrad, ein fremder Wille, dessen Absicht wir nicht kennen. Ich harre der Dinge, die da kommen, denn alle Raketen sind verschossen; sage auch den anderen nichts: Die Mannschaft wirkt verstört. Zwar marschiert der Kapitän noch auf die Brücke: Schultern gerade, Brust raus; aber seine Hände zittern, wenn er nach der Tasse greift – und sein Augenlid zuckt wie ein Käfer.

Mittlerweile strengt ihn das Schreiben so an, dass ihm der Schweiß auf der Stirn steht: unter Volldampf, aber kein Ablassventil, wie ein Kessel, der bald platzt; als würde er etwas herausschreien wollen, aber nicht können. Gefährlich. Der Mechanist riecht nach saurem Schweiß und Alkohol. Der Bordarzt hat sich im Labor isoliert; keine Ahnung, was er tut … Möglicherweise liest er seine Klassiker, die alphabetisch sortiert im Bücherregal stehen. Oder er spritzt sich Morphium, um alles besser zu ertragen. Auch der Steuermann liegt in seiner Koje, starrt auf Fotografien von nackten Mädchen, masturbiert bei offener Tür, wie ein Perverser, ein Geisteskranker; als hätte er die Syphilis.

Nachts, wenn die Tabletten versagen und ich am Schreibtisch eingeschlafen bin, stehe ich im Raum des Forschers, vor diesen Arabesken, die sich mathematisch falsch verzweigen, zwar wie Kapillare eines Blutkreislaufs, aber nicht stringent weitergeführt; als hätte der Künstler die Tuschefeder vorher abgesetzt: ein düsteres, abnormes Gebilde aus Arterien und Venen, durch das etwas Öliges fließt wie in Schläuchen – oder wie Wurzeln, die im Erdboden nach Halt greifen, Wasser saugen. In einer Pfütze, die zum Spiegel wird, verteilt sich ein Spritzer der Tinte in der Flüssigkeit, wo ich Sterne unter dem Schiffsrumpf sehen kann, in einem Loch wie rostzerfressen. Dort glänzt ein Mond als Silbermünze, die am Grund des Wunschbrunnens liegt. Und während ich in diesen Abgrund starre, legt mir jemand eine eiskalte Hand auf die Schulter:

Der Forscher.

Schrecke hoch! Mein Herz klopft bis zum Hals.

Auf meinem Weg zum Arboretum, am Hafen vorbei, fällt mir ein zerbeulter Behälter ins Auge, der das Emblem der Frachtgilde trägt: ein Kreis, blutrot, darin ein Baum, der seine blattlosen Äste weit ins Nichts ausstreckt: das Netzwerk. Und es schaudert mich. Plötzlich ein Schrei! Am Imbiss hat einer dem anderen die Schutzmaske vom Gesicht gerissen, jetzt balgen sie wie Wilde – und während ich zuschaue, leicht belustigt, leicht angewidert, weil es lächerlich ist, gleiten meine Gedanken zurück ins Schiff, wo mich solche Kampfgeräusche zum Labor rennen lassen:

Ich komme zu spät; kann die Hände des Kapitäns zwar wegreißen, aber der Bordarzt ist tot, brutal erdrosselt – die Flecken am Hals sind blaue Würgemale. Der Kapitän wehrt sich, heftig, kratzt mich mit Fingernägeln, die er seit Wochen nicht geschnitten hat: lang und fiebergelb von Schmutz und Nikotin. Infektiös! Als er mich beißen will, schlage ich ihm mit der Faust ins Gesicht, bis seine Nase bricht. Er sackt zusammen, knurrt – spuckt mir sein Blut vor die Stiefel; und dann weint er wie ein Kind.

Keuchend blicke ich mich um, sehe: das geplatzte Reagenzglas im Ständer; auch aus dem Objektträger des Mikroskops sprießt die dunkle Saat! Der Arzt hat eine Probe genommen, heimlich, als wir abgelenkt waren: Was, zum Teufel, hat ihn dazu bewogen? Forscherdrang? Oder Wahnsinn‽

Diesmal haben wir den Raum nicht versiegelt, sondern das ganze Schott geschlossen. Doch es ist schon zu spät. Wie über Sporen hat sich das Myzel im gesamten Schiff verteilt, wächst als schwarzer Rost an Stahlträgern und Verkleidungen.

In einer Verzweiflungstat leiten wir brüllend heiße Abwärme durch die Räume und Korridore, wobei wir uns in der Kombüse verschanzen, nackt bis auf die Unterkleidung und schwitzend. Aufmerksam prüfe ich mein Thermometer in der Hand: zweiundvierzig, dann sechzig, dann ein Sprung auf über achtzig Grad Celsius ... Beiläufig mustere ich den Steuermann: Seine Hose ist feucht, als hätte er sich eingenässt.

Nachdem alles mit Kühlgasen geflutet ist, sitzt er wieder in der Ecke des Lüftungssystems, seine Arme um die Beine geschlungen, und brabbelt wirres Zeug, wobei er sich selbst wiegt wie eine Mutter den Säugling. Später hat er sich in seiner Koje erhängt.

Ich lasse ihn allein. Gehe in meine Kabine, um unseren Misserfolg zu protokollieren: Auch das Fieber hat nicht geholfen, die rätselhafte Verseuchung einzudämmen. Ohne den Bordarzt können wir auch kein Antidot, kein Pestizid herstellen. Welche Maßnahmen bleiben? Noch glaube ich, dass wir die Oberhand gewinnen, mit Besonnenheit, mit Routine, mit Fachwissen, obwohl, in einer Kettenreaktion, die Dominosteine längst fallen.

Am Bullauge verfolge ich, wie das Schiff in den Mondorbit gleitet … in einer perfekten Ellipse: goldener Schnitt! Als jähe Stöße durch die Bodenplatten laufen, wir abrupt nach Backbord driften und in den Sinkflug kippen. Mein Gott! Ich renne raus – auf halbem Weg zur Brücke schließt der Mechanist zu mir auf, und wir laufen, Seite an Seite, auf die Feuertür zu, die sich verschließt: Durch den schmaler werdenden Spalt kann ich den Kapitän erkennen, der vor den Projektionen steht, splitternackt, fremde Laute gurgelnd, als würde er an Blut ersticken. Jetzt sehe ich die Schreibtafel gesplittert am Boden liegen, kann die letzten Worte noch lesen: Und schreie!

Aus Reflex zerre ich den Mechanisten mit mir – zurück, zurück zu den Landefähren: Er nimmt eine, ich die zweite, die des Forschers; wir steigen ein. Ich handle rein mechanisch, schon oft geübte Griffe: Raumanzug und Taucherhelm anlegen. Anschnallen. Ventile aufdrehen. Knöpfe drücken. Am Hebel ziehen, um die Andockklammern zu lösen.

Schub geben!

In der Abstiegssequenz versinkt hinter dem Mond die erste der zwei Sonnen: ein alter, kränklicher Gasriese, fast ausgeglüht, tiefrot glosend wie ein verlassenes Lagerfeuer in der Nacht; sie blendet kaum, während wir ganz in den Schatten des Trabanten eintreten. Auch das Frachtschiff habe ich aus den Augen verloren: sicher am Boden oder an einem Felsen zerschellt oder es hat einen Krater geschlagen. So fallen wir, als Samen, in eine leblose Wüste.

Das Arboretum ist tot, alles abgestorben, weil ein Kometentrümmer durchs Kuppelglas gebrochen ist: das Loch zwar geflickt und die Luft ersetzt; die Türen bleiben trotzdem verschlossen. Ich wende mich ab; ich will gar nicht hier sein und diese starren Gebilde anschauen, die nichts Schönes mehr haben, nackte Skelette, Knochen und Staub.

Ich stapfe durch Wüstensand, der scharfkantig ist, spitz wie Eisenspäne, und an meinen Beinen schabt – sinke ein, ziehe die Stiefel heraus, während ich einem Schimmer folge, in der Hoffnung, dass es die gläserne Haube seiner Landefähre ist. Und tatsächlich: Soeben klettert der Mechanist aus der Kugel und zerrt die Notausrüstung heraus, ein Metallkoffer, solch einen trage ich selbst in der Linken; darin: eiserne Rationen, Werkzeug, Wasser und ein Stahlseil neben Dingen wie Ersatzflaschen mit Sauerstoff. Mehr haben wir nicht. Auch sein Gefährt ist stark beschädigt. Wir grüßen uns, ein Nicken des Helms, weil im Funk nur Störgeräusche brausen.

Beim Sinkflug habe ich etwas von oben gesehen, vielleicht ein Bauwerk, längst zerfallen. Ich deute in diese Richtung; er schüttelt den Kopf, läuft dann doch hintendrein, als ich unbeirrt auf den Schatten zumarschiere, als hätte ich einen Rettungsplan.

Etwas lockt mich: ein Klang, eine Stimme, die im weißen Rauschen der Interferenzen mitschwebt. Hinter uns verwehen die Schritte, obgleich es hier keine Atmosphäre geben kann. Kein Wind, der bläst – ist es vielmehr ein Sog, der eine ungewisse Substanz inhaliert? Was könnte den Sand bedecken, etwa ein schweres Gas? Ich bleibe stehen, starre auf einen Stein, der so porös ist wie versteinerter Schwamm. Ganz genau erinnere ich mich an diesen Stein, an die Abdrücke meiner Sohlen daneben – den Moment; an dem ich ein allerletztes Mal nach Erklärungen suche, danach nicht mehr; bald wurden alle Phänomene von mir blind akzeptiert, in der Gewissheit, niemals eine logische Antwort zu finden.

Streng nach Protokoll halten wir gemeinsam Ausschau nach Landmarken: Ein Geröllfeld? Ein markanter Hügel? Ein erodierter Fels, ein Berg in der Ferne, zerklüftete Schründe und Grate – notfalls Dünen, obgleich sie keine feste Form haben, sondern sich verwandeln, wie von gigantischen Würmern umgewälzt. Aber da ist nichts, außer dem Horizont, außer dem Lauf der Sterne, die mir vertraut und doch fremd erscheinen; als hätten wir das Sonnensystem verlassen.

Dieser Schatten am Horizont, den selbst die zweite Sonne, eine viel jüngere, grellere, nicht erhellen kann, wird mit jedem Schritt klarer – zum Maul, einer Mundhöhle oder einer weit offenen Vulva, in die wir eintreten wie Helden in den Venusberg antiker Legenden. Alle Wände ähneln kalter Lava, im Fluss erstarrt, seltsam organisch, aber abweisend, feindlich. Am Ende ein Muttermund, ein ovaler Tunnel, den wir durchsteigen, dahinter ein Schacht, der als Luftröhre in die Tiefe abfällt.

Hier ist die Substanz verdichtet; wir bewegen uns schwerfällig, jede Regung ist langsam, kräfteraubend. Am Abgrund werfe ich einen Stein, der nicht gleich fällt, sondern wie durch Teer hindurchsickert … Also verankern wir die Seile, riskieren den Sprung! Leicht schweben wir, sind Embryos im Fruchtwasser, an Nabelschnüren von Zwillingen – vorbei an Formationen von Fleisch und Insekt, die als abstoßende Fossilien in den Wänden vergraben liegen. Unten ein Hangeln, Stolpern, Fallen, ein Klaffen der Dimensionen, links ist rechts, unten ist oben, bis wir auf die Füße kommen. Uns umgibt ein monströses Gewölbe, von dem zwei riesenhafte Korridore abzweigen, gleich Eileitern oder Bronchien. Wieder Druck auf den Ohren, ein Donnern im Gehörgang, wo es still sein sollte: das stete Fließen des Blutes, das Pochen meines Herzschlags! Im Funkrauschen ist die Stimme jetzt melodischer, halb dumpf, halb klar; ein Schlaflied. Wir schalten das Helmlicht an, ehe wir uns in die zyklopischen Kavernen dieser Lunge, dieses Uterus vortasten. Vorsichtig folgen wir den wurzelhaften Abzweigungen. Überall klebt, wabert, sickert, tropft das teerige Substrat wie Baumharz, haftet an den Wänden.

Ein Bauwerk.

Es muss ein Bauwerk sein! Aber wenn es ein Bauwerk ist: Wer ist dann sein Erbauer? Ich will Antworten, doch mein Verstand kratzt sich die Krallen blutig; eine Ratte im Käfig.

Als unser Sauerstoff verbraucht ist, wechseln wir unsere Taucherflaschen; sind aber bald gezwungen, die Helme abzunehmen: Anstatt zu ersticken, können wir diese Luft tatsächlich atmen, feucht-schwer wie in den Tropen, dazu ein medizinisch stechender Geruch nach Kampfer oder Ethanol; auch ein Hauch von exotischen Gewürzen, nach Zimt, nach Kurkuma.

Aber wir leben! Nach diesem Hochgefühl schnürt mir Angst die Kehle zu: jeden Moment das Gefühl zu ersticken. Erschöpft sinken wir an eine weiche, deformierte Säule, schlafen ein. Stehen auf, gehen weiter; um nach langer Suche eine Halle zu erreichen, domgroß, geflutet mit kathedralem Licht, nicht bunt, sondern bleich. Mittig ein Becken am Fuß einer obskuren Apparatur in der Form eines Baumes, dessen Äste sich still im Wind bewegen. Wir gehen hin … wir stehen am Rand dieses stinkenden Tümpels und blicken hinein: Zögernd, langsam, steigt etwas zur Oberfläche, eine ölige Blase, die sich aufbläht: eine Knospung – und zerplatzt, und im Hohlraum etwas zurücklässt, etwas Amorphes, einen grotesken Fötus, eine obszöne Missbildung, die versucht, Gestalt anzunehmen. Ich trete näher, prüfe, was es ist:

Eine Hand, deren Finger zucken, dürre Spinnenbeine, die ruckartig verkrampfen … Und da erkenne ich, dass es meine Hand ist, meine! – mit den Kratzern des Kapitäns, aus Pech modelliert oder mit abnormen Werkzeugen aus Opal herausgeschnitzt. Dann zerfällt der Klumpen zu Schatten.

Sie schaffen die Toten aus der Enklave, auf Karren, auf Gabelstaplern wie Zementsäcke. Nachts, wenn die Leute schlafen, fahren sie hinaus zum Massengrab, wo sie alle Leiber einfach reinkippen, die in dieser dünnen Luft nicht verwesen, in dieser Kälte, in der nichts wachsen kann.

Bald lernen wir, den Inkubator zu bedienen, der uns mit Wasser, mit Nahrung versorgt, die jedoch schnell verdirbt. Auch das Wasser schmeckt schal und seltsam. Treibstoff herzustellen wollen wir nicht riskieren, zu flüchtig, zu instabil und gefährlich, daher zapfen wir den Rest aus meiner Landefähre ab, rollen die Fässer durch den Wüstensand.

Wir stellen Ersatzteile her, Streben, Stahlplatten für die Außenverkleidung der Landesphäre, um sie zu reparieren; auch diese rosten zwar schnell, sind aber wesentlich stabiler als organisches Material. Der Mechanist hat mehr Talent, sich Dinge zu wünschen, trotzdem gelingt es uns nicht, komplexe Dinge zu erschaffen, bloß Zahnräder, Schrauben, kein Uhrwerk.

Zur Übung versucht er sich an Pflanzen, an Tieren, doch das Ergebnis ist ein Bestiarium grotesker Kreaturen, die kläglich winselnd zerfallen … Dabei läuft ein heftiges Zittern durch die Nerven des Baumnetzwerks: Ist das verboten, ein Sakrileg? Auch die Stimme wirkt empört!

Die Enklave fällt: In den Straßen ist ein Krieg ums Serum ausgebrochen, um diese kleine, braune Ampulle, die man sich mit einer Spritze injiziert. Bei Tag und Nacht, an den Uhren ablesbar, weil es keine Sonne gibt, herrscht Chaos! Schutzwehr prügelt die Massen nieder. Nackte Angst lässt sie die Arztstuben plündern, die Bars, die Krämerläden, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen oder Dinge zu horten, die sie eintauschen können: Zigaretten; Schnaps und Dunst; Dosenfutter für Tiere. Ich habe meine Tür mit dem Kühlschrank verbarrikadiert, traue mich nicht mehr heraus; eine Ratte in der Falle …

Wiederholt schweben wir im Abgrund, nach oben, nach unten, als wäre es das Natürlichste der Welt. Aber ich merke, wie mein Körper abbaut und mein Geist zerfasert, bald deliriert: Ich denke nicht; ich schlafe oder träume kaum; stur, ein Roboter, nehme ich die Reparaturen vor, biege ein Blech zurecht, das mit schwarzen Muttern am Rumpf festgeschraubt wird …

Bald ist die Landefähre startklar für ihren Rücksprung in den Orbit. Ich betrachte unser Werk: eine Ausgeburt der Hölle! – hässlich, entstellt, aschgrau wie ein Tumor, den man aus der Lunge operiert hat. Aber es wird fliegen, dessen bin ich mir sicher. Raus aus diesem endlosen Alptraum! Nochmals überprüfe ich jede Mutter, jede Schraube, während ich warte … Doch der Mechanist kommt nicht. Als die zweite Sonne am Firmament versinkt, trete ich fluchend den Rückweg an.

Ich finde ihn am Inkubator stehen, rufe ihn, mit stillen Echos, werfe den Schraubenschlüssel, doch er dreht sich nicht um: In seinem Rücken kann ich nicht erkennen, was er mit gespreizten Armen – als Magier, als Hexenmeister – aus dem Becken heraufbeschwört. Erst nach dem Ausfallschritt, ich laufe diagonal, sehe ich sie: eine Wölbung, eine Perle, menschengroß, über die kaleidoskopische Farben fließen. Und begreife! Nein, schreie ich stumm. Nein!

Die Blase zerplatzt.

Kurz steht sie da, eine Venus auf der Muschel: seine Gattin, aber invertiert, als groteskes Negativ dieser einst so hübschen Frau, die viel zu früh gestorben ist, lächelnd, bis die Lippen sich verziehen, sie einknickt, zum amorphen Klumpen zerfließt. Wie konnte er‽ Ich packe ihn, lasse ihn gleich wieder los, und er sackt zu Boden – als ein Sturmwind durch die verästelten Glyphen fegt, dann heftige Stöße, ein Beben, das Kreise ins Fruchtwasser stanzt. Raus hier! Ich versuche, den Mechanisten erneut auf die Beine zu zerren, doch er bleibt sitzen, sein Gesicht in den Händen vergraben.

Hinter mir zerfällt die Maschine in einer Kakophonie aus Klängen, worauf die Stimme für immer verstummt. Ich jage durch die Gefäße, Ganglien, Kapillare oder Wurzeln des Bronchialbaums – eine teuflische Gebärmutter, bei der alle Worte versagen, bis ich den Schacht erreiche … und steige auf, um ein allerletztes Mal wiedergeboren zu werden.

Draußen hat sich die Lage beruhigt: Es ist still, sodass ich wage, vor die Tür zu treten. Nach Tagen der Isolation erschlägt mich der Anblick des Weltraums: grenzenlose Weite, in der alle Sterne, egal, ob lebendig oder tot, als Sandkörner am Meer der Stille liegen. Ich lege die Gasmaske an; laufe zum Arboretum, da ich nicht weiß, wohin sonst. Hinterm Kuppelglas ist alles kahl gerodet, die Bäume sind weg, ausgerissen, zu Spänen geschreddert als Heizmaterial. Als ich schon umkehren will, angewidert vom Tod, sehe ich die Setzlinge, die in Reih und Glied stehen, soldatengleich. Und weine bittere Tränen.

Zündung! Ruckend steige ich auf, während, tief unter mir, alle Monumente in die Spalte zurückfallen; ein Wurm, der sich im Orkus verkriecht. Nichts bleibt, außer Sand und Erinnerung. Die Fähre erreicht den Orbit, gleitet zu einer Notbarke, die alle Handelsrouten flankieren, wo sie das Signal sendet: Aufgelesen wie Bernstein am Strand, verwahrlost, stinkend; mein Bart ein zottiges Moos. Das abnorme Gefährt wurde klinisch entsorgt, ich weiß nicht wie und wo …

Ich bin zurück! Im vertrauten Raum: Länge mal Breite mal Höhe. Obgleich etwas mit mir gereist ist, ein karzinogenes Wort, ein böser Splitter; der Same einer Panspermie, der überall und tief im Herzen quellt … Fremdes lauert im Schatten der Tiefsee: Kälte, Abgrund. Schwärze. Nacht und Traum.

Diese Welt scheint längst beschädigt, erschaffen von einem trunkenen Gott, der Gutes will, dabei Abscheuliches erschafft – oder vom Zauberlehrling, der die Blaupause einer edlen Schöpfung mangelhaft umsetzt, voller Fehler, voller Makel, eine dilettantische Kopie des originalen Entwurfs. Was war vor dem ersten Wort? Später korrumpiert von uns selbst! Oder zieht jemand die Fäden abseits dieses lächerlichen Puppenspiels? Regiert das Chaos‽

Oder … War ich es selbst? Habe ich einen Brandbeschleuniger mitgebracht, ein Teer, ein Harz, Zunder oder Schießpulver, das jetzt grell wie Magnesium alles ausbrennt und das Ende katalysiert, vielleicht erst möglich macht? Habe ich die Büchse der Pandora geöffnet?

Ich weiß es nicht.

Alles vergeht: jede Pflanze, jedes Tier – im Equinox von Tag und Nacht, zwischen Wärme und Kälte fallen die Blätter, der Kadaver zerfällt, und die Sonne explodiert zum schwarzen Stern, der beides in sich aufsaugt.

Ich frage mich, ob der Kapitän mit einem letzten Funken an Verstand das Frachtschiff gezielt zum Absturz brachte oder ob es der allerletzte Schritt in die geistige Umnachtung war: eine Mondfinsternis des einst so klugen Mannes. Wo hat der Archäologe den Samen gefunden – in einer weiteren Grabungsstätte? Hat sich diese Saat längst im Kosmos verteilt, vor Äonen, heute noch? Und wer hat sie ausgesät? Ich denke an das Emblem der Gilde. An diesen Stein im Sand. Asche zu Asche, Staub zu Staub, in dem neues Leben wächst, blüht, stirbt, um wieder zu sprießen …

Ehe ich mich zurück ins Bett lege, wage ich einen Blick in den Spiegel: Meine Augen sind dunkel wie das Weltall.

Fin.

 

Hallo Rob!

eine lange Geschichte mit sehr vielen Ideen einer Space Opera, du bringst auf jeden Fall den Schmutz dieser Welt, die Enge ... deutlich rüber. Also mal keine bunte und spaßige SF-Welt, finde ich gut gelungen, und auch mal ein anderer, interessanter Erzählstil.
Danke dir! :)

Was ich nicht so gut finde, ist die große Distanz zu den Protagonisten. Du bezeichnest sie z.B. nur als "Der Kapitän" oder "Der Mechanist", sie sind ziemlich seelenlos. Das gleiche gilt leider auch für die Hauptperson, aus deren Sicht du schreibst.
Nun ja ... Ich will denen jetzt keine Tiefe verleihen, sondern sie als weitere Rädchen im Getriebe behandeln ... :D

Das ist schade, deine Geschichte würde m.E. noch deutlich intensiver, wenn du die Personen entsprechend ausarbeitest und sie Namen hätten.
Wie gesagt: Wer diese Leute sind, interssiert mich nicht weiter ... Sie sind auf ihre Funktionen reduziert.

Aber dennoch, hat Spaß gemacht zu lesen, du hast viele gute Ideen zu deiner Welt und der Handlung, und ich fand auch das Ende gelungen.
Na, das freut mich. :) Vielen Dank für's Zeitnehmen & Lesen. <3

Der Dante

 

Der Anfang hat mich total gepackt und gefesselt, jedoch hast du mich, als Leser, in der Mitte des Textes verloren, da die Szenerie und alles rundherum dauerhaft zu bildgewaltig konzipiert war. Am Anfang war der Einsatz von vielen Unterbrechungen und Einschüben hervorragend eingesetzt, aber während der Geschichte hat es eher abgelenkt und aufgehalten.

Auch die fehlende Individualität war am Anfang gut eingesetzt, da es eine sehr geheimnisvolle Welt und mysteriöse Charaktere zeichnet, wobei man im Verlauf der Geschichte durchaus eine gewisse Nähe zu den Figuren hätte einbauen können.

 

Der Anfang hat mich total gepackt und gefesselt, jedoch hast du mich, als Leser, in der Mitte des Textes verloren, da die Szenerie und alles rundherum dauerhaft zu bildgewaltig konzipiert war. Am Anfang war der Einsatz von vielen Unterbrechungen und Einschüben hervorragend eingesetzt, aber während der Geschichte hat es eher abgelenkt und aufgehalten.
Hey Laevus. Meiner Meinung nach sollte der gewählte Stil dann auch konsequent beibehalten werden ... Das habe ich getan. :) Und klar, es ist alles überladen und barock, so erzielt man die gewünschte Wirkung. Letzlich ist diese Story eine Hommage an H.P.Lovecraft, der ist im Einsatz von opulenten Beschreibungen auch nicht gerade zimperlich. ;)

Auch die fehlende Individualität war am Anfang gut eingesetzt, da es eine sehr geheimnisvolle Welt und mysteriöse Charaktere zeichnet, wobei man im Verlauf der Geschichte durchaus eine gewisse Nähe zu den Figuren hätte einbauen können.
Ich wollte einen Beobachter haben, keinen Freund. Er ist gerade so, dass eine gewisse Sympathie aufkommen kann, mehr nicht. Wäre das hier ein Roman, würde ich dir soweit zustimmen; dann hätte der Protagonist sicher ein wenig mehr Tiefe gebraucht ... :)

Danke für deinen Kommentar! <3

Der Dante

 

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