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Pygmalion

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09.11.2005
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Pygmalion

„Wohin des Weg?“ kreischte Sophia und stürzte aus der Traube der Feiernden auf ihn zu. „Wir bekränzen deine Statuen mit Lorbeer und mit Granatapfelzweigen und du schleichst dich?“
„Die Kränze sind zum Lob der Götter“, wandte Pygmalion. „Von wem die Statuen sind, spielt keine Rolle dabei.“
„Du machst die Unsterblichen unsterblicher.“ Sophia drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst, die Hände hoch über den Kopf erhoben. Als sie wieder zum Stehen kam, entblößte sie ihre Brüste und hielt sie ihm entgegen, als böte sie Melonen zum Verkauf an.
„Ich will dir Modell stehen, Pygmalion. Mach mich unsterblich.“
Der Bildhauer schüttelte nur den Kopf und wandte sich um. Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie Timaios, der Schmied, torkelnd hinter die Betrunkene trat, die Arme ausgestreckt, die Pranken gespreizt, um die bloßen Brüste zu packen. Im Weggehen hörte Pygmalion die dröhnende Stimme, die Hammer und Esche mühelos übertönte.
„Laß mich durch dich weiterleben; Sophia, wenn ich schon nicht unsterblich werden kann.“
Beide lachten grölend.
In einem Hauseingang stand Agathokles, der Maurer, breitbeinig, den Schurz zwischen den Knöcheln und bearbeitete jemanden von hinten, den der Bildhauer im Schatten nicht erkennen konnte. Seine Ehefrau war es jedenfalls nicht. Die hockte um die Ecke zwischen den behaarten Knien eines Mannes, beide Hände flach auf den nackten Pobacken.
Als Pygmalion die beiden kopfschüttelnd passierte, blickte sich der Mann eben um.
„Ho, Pygmalion! Wieder der erste, der geht?“
„Du weißt, was ich von dieser Orgie halte, Kreon. Es widert mich an zu sehen, wie aller Sitte, Anstand und Moral gespottet wird. Ist das nicht Agathokles Weib?“
Die Frau lugte zwischen Kreons Knien hervor und blickte Pygmalion mit glasigen Augen an.
„Scher dich um deinen eigenen Dreck.“ Damit verschwand sie wieder hinter dem Maler. Der lachte. Pygmalion schüttelte wieder den Kopf und wollte gehen.
„Sei doch nicht so, so streng und gut. Heute gönnen uns Aphrodite und Dionysos einen Urlaub von Anstand und Moral. Dafür danken wir ihnen mit Opfern und bekränzen ihrer Bilder.“
„Was sagen wohl Hera und die jungfräuliche Demeter dazu?“ Pygmalion deutete auf den ruckenden Kopf von Agathokles Frau.
„Gib einem jeden Gott was ihm gebührt, wann es ihm gebührt.“
„Du lästerst.“
Pygmalions ganze Haltung war eine einzige Missbilligung. Er konnte nicht glauben, dass sein Freund so ruhig mit ihm argumentierte, während eine Frau ihn zu seinen Füßen bediente. Als ginge es den Kopf nichts an, was der Unterleib triebe.
„Ich gehe in meine Werkstatt“, sagte er laut. „Dionysos habe ich Wein geopfert und Aphrodite Weihrausch. Ich habe meine Schuldigkeit getan.“
„Du bist ein falscher Frömmler, Pygmalion. Aber das sage ich dir ja nicht zum ersten Mal. Du kannst dich nicht vor den einen ducken und die anderen gering schätzen, denn alles ist miteinander verwoben, die Keuschheit mit der Wollust, Völlerei und Hunger.“
Aber Pygmalion war schon weiter gegangen und hörte ihn nicht mehr. In seiner Werkstatt zog er das von einem großen Steinblock und betrachtete sein neuestes Werk. Viel gab es für das unkundige Auge nicht zu sehen. Dem zufälligen Betrachtet musste es scheinen, als sei der Marmor noch unangetastet und eben erst vom Steinbruch angeliefert.
Allein der Meister vermochte die im Quader verborgenen Konturen zu schauen, und der schauderte beim Anblick des Steins, legte die eben erst ergriffenen Werkzeuge wieder zurück.
Ganz unbehauen war der Block jedoch nicht. Links unten, in der Ecke, war ein Fuß aus dem Stein gehauen. Schon allein dieser Fuß hätte ausgereicht Pygmalion für alle Zeiten als größten Bildhauer zu rühmen. Dabei war es nicht so sehr der Fuß an sich, der so außergewöhnlich war, als vielmehr seine Gestaltung. Jede Ader, jede Rille des Zehennagels hatte Pygmalion naturgetreu wiedergegeben. Es hatte den Anschein, als stünde eine leibhaftige Frau hinter dem Quader verborgen und nur ihr Fuß wäre zu sehen. Man meinte, jeden Moment müsse sie hervortreten, die Muße des Meisters, und verlegen lächelnd die Spangen an ihrem Gewand befestigen.
Seit einem Monat hatte niemand mehr Pygmalion zu Gesicht bekommen. Die Lebensmittel bekam er vor die Türe geliefert. Die Fenster seines Hauses waren zu jeder Zeit verrammelt. Den Magistrat hatte er unterrichten lassen, dass er nie wieder einen Auftrag für die Stadt übernehmen würde, sollte jemand versuchen einen Blick in seine Werkstatt zu erhaschen. Gleichzeitig hatte er angekündigt von jedem Magistratsmitglied kostenlos eine Büste zu fertigen, war sein Werk glücklich vollendet. Seither bewachten schwer gerüstete Hopliten sein Haus.
Solche Maßnahmen entfachten die Neugierde der Städter. Nichts wünscht man dringlicher zu erfahren als etwas, das man nicht wissen soll. Wie der Sumpf eine Brutstätte für Mücken ist, so wurde Pygmalions geheimes Schaffen Geburtshelfer für allerlei Gerüchte.
Einige meinten, wenn der Meister so lange an einem Werk arbeitete und es niemanden zeigen wollte, so müsse es sich um eine große und heilige Sache handeln. Man wollte sogar genau wissen was es sei, eine Gruppe, den Kampf der Götter gegen die Kinder der Erde darstellend.
Andere argumentierten, Pygmalion hätte schon viele Götter in Stein verewigt und nie so ein Geheimnis daraus gemacht. Daß niemand das Werk vor der Vollendung sehen dürfe bedeute, dass der Meister seiner Stadt und seinen Mitmenschen ein Denkmal setzen wolle. Darum die Heimlichtuerei, damit ihn niemand dreinrede wie er diesen oder jenen darzustellen habe.
An Feiertagen, wenn der fromme Bildhauer seine Werkstatt ausnahmsweise zu verlassen pflegte, den Göttern zu opfern, trug jeder seine besten Sachen und verwandte viel Zeit auf die Toilette. Man achtete darauf, nur schöne Gesten zu machen, um von Pygmalion nicht in einer unvorteilhaften Pose abgebildet zu werden. Man tritt der Ewigkeit nicht gerne sich am Kopf kratzend gegenüber.
Eine beklagenswert große Anzahl seiner Mitbürger glaubte jedoch schlicht, der Meister habe nicht mehr alle Amphoren im Keller. Es gäbe kein geheimnisvolles Werk. Bestenfalls machte sich Pygmalion über sie lustig. Ausgerechnet sein Freund, Kreon, der Maler, führte diese Fraktion an.
Das Werk gedieh indessen, langsam aber stetig. Der Kopf war bereits fertig gestellt. Glattes Haar umrahmte das eher schmale Gesicht, aus dem große Augen nachdenklich auf den Betrachter zu blicken schienen. Die schmale Ober- und die vollere Unterlippe gaben in Kombination mit der Stupsnase gaben dem Gesicht etwas Unschuldiges, beinahe Kindliches. Kein Gesicht, das sich verzerren würde in schrecklicher Lust. Wenn Pygmalion es betrachtete, erwachte in ihm der Wunsch es lächeln zu sehen. Er dachte dann an Sonnenuntergänge über dem Meer, an die Liegen, die in dem Garten hinter seinem Haus standen und von denen aus man an klaren Tagen bis zur nächsten Insel sehen konnte. Er stellte sich schweigendes Beieinanderliegen vor, und wie sie versonnen lächelnd zum Meer hinausblicken würde. Und er würde ihr Lächeln betrachten.
Dem Fuß folgend war das Bein bereits gestaltet, endete aber an der Hüfte unvermittelt im Marmorblock. Auf der rechten Seite schälte sich sein Arm aus dem rosa geäderten Stein. Leicht abgewinkelt schien sich die Hand auf die Hüfte zu stützen, die, erst grob zurechtgehauen, nur zu erahnen war.
Der Kopf thronte nicht auf einem schlanken Hals, sondern schien wie scharfkantigen Stein geklebt.
So gleich die Statue noch einem Mosaik, das jemand mit mehr Begeisterung als Sachverstand ungeschickt zusammengefügt hatte. Pygmalion arbeitete jedoch mit Bedacht auf diese Weise. Indem er mal hier, mal dort arbeitete, wollte er den Augenblick, da er sie in ihrer ganzen Schönheit erblicken würde, so lange wie möglich herauszögern.
Er tat das nicht aus Furcht vor Spionen, sondern aus einem unbestimmten Misstrauen gegen sich selbst heraus. Diese Statue rührte ihn mehr an, als jede andere Arbeit, die er je angefangen. Sie rührte ihn mehr an, als die meisten Menschen, denen er begegnet war. Er war fasziniert von der kindlichen Unbekümmertheit, die sie ausstrahlte, und gleichzeitig umgab sie eine zurückhaltende, bescheidene Aura. Als wäre sie Kind und Mutter zugleich.
Pygmalion ertappte sich mehr als einmal dabei, wie er sich während der Arbeit vorstellte wie es aussähe, wenn sie sich bückte, den Kopf lauschend schief legte oder aus vollem Herzen lachte, oder wie es aussähe, wenn sie weinte. Manchmal glaubte er zu wissen wie es aussähe, wenn sie sich am Morgen vor dem Spiegel frisierte, wie eine Erinnerung an etwas, das noch nicht geschehen ist.
So langsam und gewissenhaft Pygmalion auch arbeitete, sein Werk näherte sich doch der Vollendung. Schon galt es nur noch letzte
Unebenheiten auf der linken Brust auszugleichen. Ein kleiner Stoß mit dem kleinsten Meißel noch, noch mit feinem Sandpapier die Stelle blank polieren, dann wäre sie vollendet.
Pygmalion trat einen Schritt zurück. Sie war schön. Sie war vollendet. Die rote Sonne, die eben im Meer versank, verlieh ihr einen rosa Teint und machte die Illusion, sie sei am Leben, perfekt.
Pygmalion trat näher an die Steinerne. Mit kritischem Künstlerblick betrachtete er die Stelle, an der er zuletzt gearbeitet hatte. Die kundigen Hände befühlten den Stein nach Unebenheiten, die sich dem Auge verbergen mochte, doch wie seine Finger über den Stein glitten, der ihren Busen bildete, musste das auf einen heimlichen Beobachter wirken wie das Liebkosen einer Geliebten.
Pygmalion strich ihr mit dem Handrücken über die Wange und über die gemeißelten Haare und schüttelte den Kopf wie einer, der aus einem Tagtraum erwacht. Er trat wieder einen Schritt zurück und fand es plötzlich ungehörig, dass sie unbekleidet war. Dabei musste man genauer hinsehen, um zu bemerken, dass sie nackt war. Ihr Blick und ihre Haltung hatten etwas so Selbstverständliches an sich, dass man sie sich gar nicht anders vorstellen konnte als in diesem Zustand.
Dennoch schämte sich Pygmalion plötzlich, dass er nicht für eine Bedeckung gesorgt hatte. Er eilte die Stufen zu seiner Dachwohnung herauf und kehrte mit einem Leinenkittel zurück.
Was für den groben Körper des Bildhauers angemessen war, war jedoch eine Zumutung für die zierliche Gestalt der Marmornen. Der Kittel wirkte an ihr, als hätte man ihr einen Sack übergestülpt, und wo sie unbedeckt blieb, wirkte sie auf obszöne Weise nackt.
Am nächsten Morgen, in aller Frühe, sah man Pygmalion zum ersten Mal seit Wochen wieder in der Stadt. Er kaufte ein Gewand aus hellblauer Seide und verschwand wieder in seinem Haus, ohne mit jemand anderem als dem Tuchhändler gesprochen zu haben.
An diesem Abend trug Marmorne ein blaues Gewand, am nächsten ein weißes und silbernen Schmuck dazu. Den dritten Abend verbrachte sie nicht mehr in der Werkstatt, sondern in seiner Stube und vor dem Schlafengehen wünschte ihr Pygmalion eine gute Nacht und streichelte zärtlich über ihre Wange, doch der harte Stein erwiderte seine Berührung nicht. Lange betrachtete der alte Meister sein Werk darauf hin und es wollte scheinen, als glitzerten in seinen Augen Tränen.
Der nächste Morgen fand ihn schon kurz nach Tagesanbruch in seinen besten Kleidern auf dem Weg zum Tempel der Hera.
Vor ihrem Altar ging Pygmalion auf die Knie. Er wartete, bis sein Weihrauch zu brennen begonnen hatte und richtete dann seine bescheidene Bitte an die Götterfürstin, sie möge ihm eine Braut schenken, die der Marmornen gleiche, ebenso sittsam und tugendhaft schön solle sie sein.
Auf dem Thron des abwesenden Göttergatten sitzend, vernahm die Göttin diese Bitte und schüttelte langsam und bestimmt den Kopf. Verglichen mit seinem neuesten Werk waren die Statuen, die er ihr zu Ehren geschaffen hatte von der Eleganz einer Seekuh. Auf keinen Fall würde sie ihn dafür noch belohnen.
Da näherte sich Aphrodite der Herrscherin, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas zu. Sie überredete Hera die Bitte zu gewähren und es ihr zu überlassen dem Bildhauer Demut und Gottesfurcht beizubringen, als Strafe für die mangelnde Verehrung, die er ihr selbst entgegenbrachte.
Eben wollte sich Pygmalion gesenkten Hauptes vom Altar erheben, als eine Taube ins Tempelinnere flog, in Panik geriet, weil sie den Ausgang nicht wiederfand und zweimal um Pygmalions Kopf flatternd schließlich auf der Schulter des überlebensgroßen Standbild der Hera landete.
Ein Prister trat zum erschrockenen Bildhauer und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Worum immer du die Göttin gebeten hast, Pygmalion, sie ist dir gewogen. Selten habe ich ein deutlicheres Zeichen gesehen.“
Ein Strahlen erschien auf dem Gesicht des Meisters und er stürmte aus dem Tempel, ohne dem Priester Dank zu sagen.
Immer noch im Laufschritt eilte Pygmalion den steilen Weg zu seinem Haus hinauf und riß schließlich mit hochrotem Gesicht und perlendem Schweiß auf der Stirn die Haustüre auf.
Drinnen war es still. Pygmalion rief und erhielt keine Antwort. Er streifte durch sämtliche Räume und traf niemanden an, nur Menschen nachgebildete Steine.
Schließlich stand er vor und sank auf die Knie.
„Es wäre ohnehin Verrat gewesen“, sagte er mit kraftlos gewordener Stimme. „Sie wäre dir ähnlich gewesen, vielleicht genauso, aber ich hätte es immer gewusst.“ Er tippte sich gegen die Schläfe. „Ich hätte nie vergessen könnten, dass sie nicht du ist.“
Mit Tränen in den Augen erhob sich Pygmalion, umarmte seine Marmorne und überschüttete sie mit Küssen.
Wo seine Lippen den Hals verließen und wo die Hände den Stein liebkosten, färbte er sich rosa. Härte und Kälte wichen aus den ihren Gliedern. Er berührte ihren Busen und meinte darunter eine Regung zu spüren. Tatsächlich hob und senkte sich die Brust. Die Statue lebte.
Er ergriff der Schönen Hand und bedeckte sie mit Küssen und zum ersten Mal erwiderte die Spröde seine Zärtlichkeiten und streichelte die tränennasse Wange des Meisters.
Als sie ganz Fleisch geworden war, hielt Pygmalion seine Geliebte lange im Arm. So reich hatte die Göttin ihn beschenkt, mit mehr als er zu hoffen gewagt hatte, dass er nicht wusste wie er es ihr je würde danken können.
Er sah die Schöne wieder an, die noch kein Wort gesprochen hatte und
küsste ihre weichen Lippen, die auch wirklich seinen Gruß erwiderten, und noch etwas anderes geschah, während sie engumschlungen beieinander standen; eine Hand schlüpfte unter seinen Schurz und wurde dort fündig.
Behende streichelten und massierten ihn die Finger und provozierten eine Reaktion, die auch erfolgte. Als sein Glied sich aufgerichtet hatte, entzog sie sich seiner Umarmung. Sie ließ sich auf die Knie nieder und zog seinen Schurz beiseite.
Zunächst schloß Pygmalion die Augen und genoß die Behandlung, die sie ihm zuteil werden ließ, aber dann riß er die Augen auf und wich entsetzt zurück. Die Frau vor ihm, mit den blanken Brüsten und der Hand zwischen ihren Schenkeln, war das wirklich seine Marmorne? Sie erhob sich und kam auf ihn zu und er wich weiter vor ihr zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
Sie versuchte ihn zu küssen, doch er drehte sich weg. Ihre Hand suchte seinen Schurz, doch er wehrte sie ab, doch es gab auf Dauer kein Entrinnen. So sehr er sich sträubte, ihre Reize schienen allgegenwärtig zu sein und sie verfehlten ihre Wirkung zumindest körperlich keineswegs. Irgendwann hatte sie ihr Ziel erreicht und ihn zwischen ihren Schenkeln platziert.
Wenig später lagen sie an der Wand auf dem Boden. Sie hatte sich an ihn geschmiegt und er kreiste mit dem Zeigefinger über ihre bloße Schulter. Wie sie so dalag hatte sie etwas Katzenartiges an sich. Fast erwartete er, dass sie zu schnurren begänne.
Pygmalion versuchte zu verstehen was geschehen war. Diese Wildheit, diese Seite hatte er nicht an ihr bemerkt, die ganze Zeit über, die er an ihr gearbeitet hatte. So eine Frau hatte er in dem Stein nicht gesehen. Und doch, wenn er genauer hinsah, dann entdeckte er all das in ihr wieder, das er hatte ausdrücken wollen. Jetzt, da ihre Augen geschlossen waren, hatte ihr Gesicht wieder diesen Ausdruck, im dem zu gleichen Teilen Ernst lag wie kindliche Unschuld. Genau das, was er in dem Stein gesehen hatte, fand er hier in Fleisch und Blut wieder. Wie hatte ihm ihre Wildheit, ihre Leidenschaft entgehen können?
Plötzlich schlug sie die Augen auf und blickte ihn eindringlich an. In ihren Pupillen schwammen goldene Punkte.
„Laß dir das eine Lehre sein, Pygmalion“, sagte sie mit plötzlich veränderter Stimme, „Aphrodite gering zu achten.“
Augenblicklich verschwanden die goldenen Punkte und sie sah den Meister orientierungslos an. Der war selber einen Augenblick fassungslos, doch dann ging ein Wetterleuchten des Begreifens über sein Gesicht und er nahm sie in den Arm.
„Vergib mir, Aphrodite“, flüsterte er, während er seine Marmorne sanft in den Armen wiegte. „Ich werde mich bessern.“

 

lukas_iskariot schrieb:
Du hast Glück, dass hier am board keine Feministinnen unterwegs sind.

Doch, FeministInnen sind hier gelegentlich unterwegs.

Aber weshalb sollte eine historische Form der Frauenfeindlichkeit nicht in der Literatur beschrieben werden dürfen?

Grüße
Chris

 

"Schwierige Aussage, welche Sitte wird verletzt, wenn die Orgie Sitte ist?" Du hast hier ein wenig vorschnell Christentum = Sitte und Antike = Orgien angenommen. Die Myterien des Dionysos, bzw Bacchus waren immer ein zeitlich begrenzter Ausbruch aus der gesellschaftlichen Norm, in die man wieder zurückkehren mußte. In Rom wurde der Bacchus-Kult 183 v.Chr. sogar per Senatsbeschluß verboten, die Mysterien in Privaträume verbannt und auf nicht mehr als 5 Personen beschränkt. Pygmalion kann durchaus angewidert sein, ohne ein Fremdkörper in der Gesellchaft zu sein. Prüderie ist halt zeitlos.
Zeigt mir mal, wo sich Pygmalion frauenfeindlich verhält. Daß er sich eine Geliebte nach seinen Wünschen modelliert finde ich nicht frauenfeindlich, sondern eher sozial bedenklich, daß er sich nicht mit realen Personen auseinandersetzen kann.
Abgesehen davon macht er das ja auch gar nicht. Er modelliert keine Frau, in die er sich verlieben kann, sondern verliebt sich in sein Werk (man könnte ihm vielleicht Narzissmus vorwerfen).
Interessanter bei Pygmalion finde ich die Fage, und ich habe versucht sie zu betonen, erschafft der Künstler sein Werk oder ist das Werk im Stoff bereits vorhanden?

 

lukas_iskariot schrieb:
Ich hatte den Eindruck, dein Pygmalion erschafft, angewidert von der Fleischeslust um ihn herum, ein Bild bzw. Abbild/Idealbild der nicht irdischen Reinheit, ...
Dem kann ich nur teilweise zustimmen, Lukas. Er war vielleicht nicht angewidert von der Fleischeslust an sich, sondern nur über jene, der er angeblich auf Schritt und Tritt begegnete - angeblich deswegen, weil die Griechen es lieber mit Knaben trieben, die Frauen waren ja nur zum Kinderkriegen da.

Wie du schon richtig sagtest: (Ehe-)Frauen wurden lange Zeit für ein Ding gehalten, das ist noch im christlichen 10. Gebot sichtbar: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat. (2. Mose 20:1-17, Lutherbibel, Standardausgabe 1984)

Und Pygmalion schafft sich auch ein Ding, allerdings eines, das nicht zum ficken da sein soll, sondern … ja wofür eigentlich, Hartlap? Da bist du seltsam unentschlossen, es wird mir nicht ganz klar, was Pygmalion will.

Hartlap schrieb:
Diese Statue rührte ihn mehr an, als jede andere Arbeit, die er je angefangen. Sie rührte ihn mehr an, als die meisten Menschen, denen er begegnet war. Er war fasziniert von der kindlichen Unbekümmertheit, die sie ausstrahlte, und gleichzeitig umgab sie eine zurückhaltende, bescheidene Aura.

Die schmale Ober- und die vollere Unterlippe gaben in Kombination mit der Stupsnase gaben dem Gesicht etwas Unschuldiges, beinahe Kindliches. Kein Gesicht, das sich verzerren würde in schrecklicher Lust.

Jetzt, da ihre Augen geschlossen waren, hatte ihr Gesicht wieder diesen Ausdruck, im dem zu gleichen Teilen Ernst lag wie kindliche Unschuld.
Am ehesten, so scheint es mir, will er - wenn nicht einen Knaben - eine Kindfrau.

Ist Pygmalion bei dir, Hartlap, ein Pädophiler, also ein ganz normaler Grieche der Antike?

Dion

PS: Die Griechen kannten kein Papier, also auch kein Sandpapier.

 

Ähm, ich versuche mich ja zurückzuhalten, um Interpretationen nicht zu lenken. Ich bin weißgott nicht mit allem einverstanden, was lukas_iskariot im Text liest, respektiere das aber als mögliche Interpretation. Die Pädophilenschiene läßt sich am Text allerdings nicht belegen und die zusammengesuchten Zitate sind zu dürftig und nicht stichhaltig. Daß mit "etwas Unschuldiges, beinahe kindliches" keine biologische Kindheit gemeint ist, müßte sich einem eigentlich erschließen. Zumal später das Wort "Kind" nirgendwo mehr auftaucht.

 

Möglicherweise irre ich mich, Hartlap und Lukas, und ich will hier auch keine neue Pädophiliediskussion beginnen, aber zu Untermauerung meiner Ansicht kann ich noch einen weiteren Aspekt der Geschichte bringen: Einer der wesentlichen Merkmale dieser Menschen ist es, mit Erwachsenen sexuell nicht befriedigend verkehren zu können.

Und genau so verhält sich dieser Pygmalion:

Hartlap schrieb:
„Was sagen wohl Hera und die jungfräuliche Demeter dazu?“ Pygmalion deutete auf den ruckenden Kopf von Agathokles Frau.
„Gib einem jeden Gott was ihm gebührt, wann es ihm gebührt.“
„Du lästerst.“
Pygmalions ganze Haltung war eine einzige Missbilligung.

Zunächst schloß Pygmalion die Augen und genoß die Behandlung, die sie ihm zuteil werden ließ, aber dann riß er die Augen auf und wich entsetzt zurück. Die Frau vor ihm, mit den blanken Brüsten und der Hand zwischen ihren Schenkeln, war das wirklich seine Marmorne? Sie erhob sich und kam auf ihn zu und er wich weiter vor ihr zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
Die erwachsenen Frauen sind ihm, inklusive seiner eigenen Schöpfung, allesamt zu aufdringlich, zu fordernd. Die logische Konsequenz dieser Haltung ist für mich: Er will eine Kindfrau, also eine, die noch keine oder erst zu entwickelnde Sexualität hat.

Wenn nicht das, was will er dann?

Dion

 

Beim 1. angeblichen Zitat richtet sich die Missbilligung in erster Linie gegen die vermeintliche Gotteslästerung.
Du hast recht, die Frauen in der Geschichte sind ihm zu aufdringlich. Pygmalion ist prüde (aber auch nicht mehr). Man merkt, daß auch an den Göttern, die sich gegenübergestellt sind: Hera (Herdfeuer, Familie) und Demeter (die jungfräuliche) vs. Aphrodite (Liebe & Lust) und Dionysos (Wein & Rausch).
Aus deiner Erkenntnis er möchte keine sexuell selbstbewußte Frau haben könnte man auch den Schluß ziehen, er möchte eine, die so prüde ist wie er.

 

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