Rachetaten
Katzenartige Augen blinzelten zwischen den Blättern hindurch. Sie waren tief grün, als würde ein tiefer Wald darin wohnen. Dann erhob sich die Gestalt mit den faszinierenden Augen und sah sich um. Sie war sehr groß und schlank und ihr Gesicht war wunderschön. Die beinahe weiße Haut ließ sie geradezu makellos erscheinen. Lange wallnussbraune Haare, worin kleine Zöpfe geflochten worden waren, umspielten ihr Gesicht. Auch kleine Federn und Perlen waren darin befestigt und verliehen der Elfe ein wildes Erscheinungsbild. Sie trug einen laubgrünen Umhang, eine lederne Rüstung und in der Hand einen langen Bogen, an dem sich geschnitzte Ranken hinauf wanden.
Hinter ihr tauchte ein Pferd auf; es hatte eine lange Mähne, die ebenso tief braun war wie sein Fell, und trug weder Sattel noch Zaumzeug. Die Frau hing sich den Bogen um die Schulter und schwang sich im nächsten Moment elegant auf den Rücken des Pferdes.
»Wir müssen hier entlang. Sie können nicht weit sein«, flüsterte sie ihm zu.
Ihre Stimme klang wie eine weiche Melodie, ein sanftes Lied. Der Hengst trabte los, kaum hatte sie ausgesprochen, und fiel nach wenigen Herzschlägen in einen weichen, schnellen Galopp. Wie der Wind fegten sie durch den Wald und kein Lebewesen begegnete ihnen. Die Landschaft wurde zunehmend hügeliger und der Wald lichter.
Auf der Lichtung eines Hügels brachte sie ihr Pferd zum Stehen. Ihre Augen verengten sich vor Wut, als sie auf der anderen Seite des vor ihr liegenden Tals zwei gerobte Gestalten auf Pferden sah. Sie ritten auf ihren Schimmeln gerade über das Haupt des nächsten Hügels und waren im Begriff, wieder aus ihrem Blickfeld zu verschwinden.
Der Hengst stürmte auf ihr Geheiß los in den Wald. Die Elfe schmiegte sich an seinen Hals und umfasste die Mähne; ihr Umhang flatterte wild hinter ihr her und dennoch schien sie Eins zu sein mit dem Pferd.
Sie erreichten rasch das Tal und schon jagten sie den Hang voller Schwung hinauf. Auf der Kuppe blieb sie stehen und sah tief hinab; nicht weit unter ihr trabten die Männer über einen schmalen Pfad, der Richtung Berge führte.
Wie in Trance nahm sie den Bogen zur Hand, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn an. Sie spannte sie Sehne und spähte ihrem Ziel entgegen; sie rechneten scheinbar nicht mit einer Verfolgung. Im nächsten Moment raste der Pfeil hinab und traf einen der Gestalten, einen rundlich wirkenden Mann, im Rücken. Er kippte seitlich vom Pferd.
Der Andere fuhr erschrocken auf, wand den Blick von seinem Gefährten hinauf zur Elfe und wurde bleich im Gesicht.
»Vorwärts, lauf«, schrie er sein Pferd an und trieb ihm die Hacken in die Seite.
Als sein Pferd los stürmte, begann sie die Verfolgung. So eilte sie ihm querfeldein nach und hing an seinen Fersen, bis sein Pferd plötzlich strauchelte und fiel. Es rappelte sich sofort wieder auf, lief davon und ließ seinen Herren allein. Er lag am Boden und versuchte gerade aufzustehen, als sie schon einen Pfeil auf sein Herz richtete.
»Bewege dich nicht, Mensch«, befahl sie ihm mit einer sanften eiskalten Stimme und nahm ihm seinen Säbel ab, warf ihn weg.
Dabei fiel seine Kapuze zurück. Er hatte ein markantes Gesicht, schulterlanges schwarzes Haar und einen Ziegenbart. Finster blickte er zu ihr auf. Obwohl er deutlich Angst hatte, sahen seine Augen trotzig zu ihr auf.
»Du kannst sein Leben nicht zurück haben, indem du mir meines nimmst«, sprach er mit rauer Stimme. „Ich hauchte es ihm aus. Er verdiente es nicht.«
Blanker Zorn funkelte in ihren Augen. Sie spannte die Sehne. Nun lachte der Mensch laut auf. Hohn war deutlich darin zu hören.
»Du hast ihn geliebt. Wie rührend, Langohr« sagte er mit gespielter Romantik.
»Still!«, zischte sie. Sogleich verstummte sein Lachen. »Du weißt nichts von der Liebe, nichts von dem Leben.«
Nachdem sie ihn eine Zeit lang still ansah, rann ihr eine Träne die Wange hinab. Wieder verging Zeit und allmählich sah der Mensch sie unruhig an.
»Ich werde dich nicht töten. Du hast Recht, ich kann ihn nicht lebendig machen«, sagte sie langsam mit ruhiger Stimme. Dann sah sie ihn funkelnd an. »Aber sei dir gewiss, Mensch, dass du des Lebens nicht mehr froh wirst. Du wirst dir wünschen, lieber gestorben zu sein.«
Und sie ließ ihn aufstehen und wies ihm den Weg durch das Unterholz, bis sie nach etwa zwei Wegstunden, in denen sie nicht sprachen, auf eine kahle Stelle im Wald trafen. Die Sonne war soeben untergegangen. Auf dieser kleinen Lichtung schienen zwei Steine eine Art Tor zu bilden, sie waren beide etwa mannsgroß und sehr flach.
Die Elfe fesselte ihn mit einer Ranke am nächsten Baum und stellte sich vor das Tor. Minuten vergingen, in denen sie einen Zauber wob. Ein Zauber der so mächtig war, dass sogar der Mensch etwas spürte, wenngleich er nicht sah, dass sich etwas tat. Doch ein Schauer lief seinen Rücken hinab und es wurde windiger. Dann konnte er es sehen.
Gleißendes weißes Licht erhellte die Umgebung und formte sich allmählich zu einer Art schimmernden, durchsichtigen Wand zwischen den Steinen. Sie sah aus wie ein dünner Wasserfilm und ließ das Dahinter verschwimmen. Er konnte die Elfe dahinter erkennen, die ihre Augen wieder öffnete. Sie ging um das Portal herum und löste die Fesseln des Mannes. Gemeinsam traten sie vor das Tor.
Er starrte es an. Lange sagten sie nichts, dann sprach er mit zitternder Stimme.
»Es führt in die Einsamkeit, nicht wahr?«
Sie nickte stumm. Er hatte schnell begriffen. Es schimmerte vor ihnen, rötliches Licht spiegelte sich vom Himmel kaum merklich darin.
Sie spürte einen Ruck, warmer Schmerz durchfuhr ihren Nacken. Er breitete sich rasch aus, über den Rücken bis in die Brust. Als sie sich umwandte, sah sie den dicklichen Mann einige Schritt weit weg stehen. Seine Miene war hasserfüllt, und in der linken Hand hielt er ein zweites Messer. Ein abgebrochener Pfeil ragte aus seinem Rücken.