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Raider heißt jetzt Styx
bedeutet das nicht, dass sie aufgehört hat, zu existieren.
[Bartholomäus von Tyrone, spätes 16. Jahrhundert]
Fulda ist mir nie trostlos erschienen. Bis jetzt.
Es gab vor ein paar Jahren einen Werbespot. Zahnlose Rentner, leergefegte Straßen, grau in grau: Fulda.
So ein Werbefuzzi hat den gedreht, weil ihn mal eine Tussi aus Fulda hat sitzen lassen, oder weil er in Fulda warten musste, nachdem er abgelegt wurde. Das weiß ich nicht mehr genau.
Wieder sehe ich auf die verlockende Bank, wieder gehe ich zwei Schritte auf sie zu. Doch sie ist noch immer taunass und ein rosafarbenes Kaugummigeschwür prangt dort, wo ich eigentlich sitzen sollte.
Vier Uhr zweiundzwanzig, zeigt die Busbahnhofsuhr. Eigentlich keine Zeit, in der man wach sein sollte. Der Körper ist daran gewöhnt, in Daunen zu schlafen, und nicht zu stehen und auf einen Bus zu warten.
Ich greife in die Tasche meines Mantels. Lucky Strike, eine jungfräuliche Packung. Ich reiße sie auf, knittere die Folie kurz zwischen meinen Fingern und will sie schon an meinem Bein vorbei zu Boden gleiten lassen - unauffällig, obwohl mich keiner beobachtet -, aber dann sehe ich den Mülleimer und, na ja, ich werfe die Folie hinein. Ökologisches Bewusstsein und auch ein bisschen Mitleid für die Straßenkehrer, nehme ich an. Aber wahrscheinlich liegt es vor allem an dem Kaugummi.
Die Lucky-Folie segelt in den Mülleimer hinab, gesellt sich zu einer Twix-Packung und den Titten des gestrigen Bildzeitungsmädchens.
Ich verdränge das Déjà-vu-Gefühl, schiebe mir die Zigarette in den Mund, zünde sie an, ziehe, schmecke und vermisse den Geschmack der alten Luckies, denn der wurde auch geändert, genau wie Twix. Man hat etwas erhöht, was „Barley“ heißt. Also den Anteil daran, oder den Gehalt, oder so was. Mir haben sie früher besser geschmeckt, aber das will nichts heißen. Sie haben bestimmt umfangreiche Befragungen durchgeführt, also vorher, und ich habe eben ein Minoritätsgeschmacksempfinden. Damit muss ich leben. Daran kann ich nichts ändern.
Ich lehne mich gegen einen Pfeiler, während ich rauche, und winkle ein Bein an, damit die Fußsohle gegen den Pfeiler drückt. Dann fällt mir auf, dass ich jetzt bestimmt so aussehe wie eine Nutte in einem amerikanischen Film, aber das stört mich nicht, weil ich alleine bin, und irgendwie ist es ja auch gut, sich wie in einem Film zu fühlen, egal in welcher Rolle. Außerdem kann ich meinen Rücken ein bisschen am Pfeiler reiben und das fühlt sich gut an.
„Du solltest nicht in den Bus steigen“, sagt der Pudel zu meinen Füßen.
Natürlich sehe ich gleich, dass es ein Pudel ist. Und ich frage mich auch, warum ich ihn nicht vorher gesehen habe. Ein weißer Pudel, um genau zu sein. Am Schwanzende – er wackelt damit – hat er so einen Bommel, wie man ihn an Wintermützen trägt oder wie ihn Clowns als Knopf benutzen. Der Pudel erinnert mich ein wenig an den Hund von dem dicken Schwulen, der in München gestorben ist.
So, sage ich. Sprechender Pudel, was? Bist du mit Mister Ed verwandt?
„Tu dir einen Gefallen und steig nicht in den Bus“, sagt der Pudel.
Dann lächelt er, obwohl Hunde gar nicht lächeln können. Aber dieser Hund lächelt. Er zieht die Lefzen hoch und lächelt. Sein Zahnfleisch hat die Farbe von einem Steak medium. Eine Schweißperle wird auf des Pudels Stirn geboren, hinterlässt eine drückende Spur im weißen Fell und kullert zu Boden.
Ich denke an das Déjà-Vu-Gefühl von vorhin und frage mich, was Barley nun eigentlich genau ist und ich frage mich auch, ob das jetzt vielleicht der Flashback von den Pilzen ist, die ich vor vier Jahren gegessen habe, obwohl ich an dem Abend schon Whiskey getrunken hatte.
Die ganzen Gedanken dauern nur Sekunden und enden alle in einer Sackgasse, bis auf die Idee mit dem Film von vorhin, die wieder auftaucht. Also beschließe ich, ganz ruhig zu bleiben.
Son of Sam, frage ich ihn sehr ernsthaft und mit meiner besten Filmstimme.
Aber ich muss geblinzelt haben, denn der Pudel ist verschwunden.
Dann kommt auch schon der Bus. Ich krame in meiner Manteltasche nach dem abgezählten Fahrgeld. Ich zähle es immer ab, am Abend vorher schon, ein bisschen neurotisch, das mag sein, das gestehe ich mir gerne zu. Aber heute sind meine Taschen leer.
Die Türen öffnen sich geräuschlos. Dabei ist das hydraulische Schnaufen meine Lieblingsstelle bei jeder Busfahrt. Ich habe gar nicht gewusst, dass sie das geändert haben.
Ich steige in den Bus und krame in meiner Potasche nach dem Portmonee und versuche mich daran zu erinnern, wo ich eigentlich hin will.
Der Fahrer hält sein Lenkrad fest und starrt stur geradeaus.
Er hat keinen Bart, fällt mir auf, obwohl alle Busfahrer einen Bauch und einen Bart haben. Aber vielleicht wurde auch das geändert.
Guten Morgen, sage ich. Es sei mir etwas peinlich, aber ich hätte vergessen, wo ich hin wolle und auch meine Brieftasche verlegt.
Der Bus setzt sich in Bewegung, aber der Fahrer nicht. Starrt stur gerade aus.
Guter Mann, könnten Sie mir wohl ein wenig Aufmerksamkeit schenken, frage ich ihn.
Dann gerät er in Bewegung, eine Hand erhebt sich vom Steuerrad, langgliedrige Spinnenfinger weben ein mystisches Muster in die Luft und tippen schließlich auf ein Messingschild oberhalb seines Kopfes: Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.
Ich drehe mich um, aber natürlich ist die Tür schon geschlossen.
Also greife ich mir mit Mittel- und Zeigefinger an die imaginäre Hutkrempe, räuspere mich, sage Nichts für ungut und setze mich auf einen freien Platz in der Mitte des Busses. Dort sind die Räder, dort wird mir nicht so leicht übel.
Ich winkle die Beine ein wenig an und drücke sie gegen den Vordersitz. Man sollte das eigentlich nicht machen, man ist ja keine vierzehn mehr und auch in Filmen sieht man das nicht, zumindest nicht oft, aber mir ist danach. Dann spiele ich das alte Spiel und linse in den Spiegel des Fahrers hinein. Das fand ich schon immer toll. Ganz egal, wo man sitzt, man hat das Gefühl, dem Fahrer direkt in seine bananengelben Augen zu schauen und man hat das Gefühl, als würde der Fahrer einen selbst, und nur einen selbst, zurückbeobachten. Dabei weiß man, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, natürlich, dass dem nicht so ist. Und dass so was mit konkaven oder konvexen Spiegeln zu tun hat und mit Optik und mit Physik.
Aber der Fahrer schaut ohnehin nicht nach oben und ich kann nur die gelben Augen sehen. Die würden normalerweise gut zu Fulda passen. Dort ist nachts alles orange, so ein angenehm sattes, orangiges Orange, ein wenig fruchtig. Aber anscheinend haben sie auch das geändert, denn die Stadt ist nicht orange, sie ist schwarz.
Ich halte Ausschau nach der himmelblauen Leuchtreklame des Maritim Hotels. Ich vermisse das nervöse Flackern der dauerdefekten Straßenlampe an der Kreuzung. Ja, ein bisschen sehne ich mich sogar nach der kalten Beleuchtung des Hospitals, wo ja rund um die Uhr im Hellen gestorben wird.
Aber nichts, nur Dunkelheit. Vielleicht haben sie das geändert. Energiesparmaßnahmen. Liest man ja viel drüber. Sollte froh sein, dass wenigstens im Bus ein paar Kerzen an der Wand hängen.
Ich wüsste gerne, ob sich ein Déjà-Vu-Gefühl bei allen Menschen gleich anfühlt. Da spricht man ja nicht drüber. Ich weiß auch gar nicht, ob ich jemals so was hatte. Natürlich, es kommt einem dann kurz etwas merkwürdig vor, klar, aber ist das schon ein Déjà-Vu-Erlebnis? Es spricht ja keiner darüber. Also woher soll man das wissen?
Ein Fahrgast steigt zu. Ich kann ihn mit dem Fahrer reden hören. Natürlich antwortet der nicht, Messingschild, und so weiter.
Dann kommt der Gast durch den Gang und im Kerzenschein sehe ich, dass es eine Frau sein muss, denn sie trägt ein Kleid. Ein recht hübsches Kleid sogar. Ein weißes Kleidchen, das ihr nur bis zum Oberschenkel reicht und die Schultern freilässt. Über die Schultern fallen wild straßenköterblonde Haare. Sie hat eine richtige Mähne, diese Frau, und irgendwie denke ich bei so einer Mähne immer an Amanda Marshall. Das ist eine Sängerin, die kaum einer kennt.
Als Amanda näher kommt, sehe ich, dass am Saum ihres Kleids so kleine gestickte Muster sind, wie auf einer Tischdecke, und ich sehe auch, dass sie barfuss ist.
„Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?“
Ich nicke, aber sie bleibt stehen.
Ja, sage ich. Natürlich.
„Kennen Sie das?“, fragt sie. „Man sieht jemanden und hat das Gefühl, als würde man ihn schon kennen.“
Hmm, sage ich. Aber ich denke, dass es eigentlich eine Frechheit ist, mit was für Sprüchen Frauen so durchkommen.
Sie setzt sich neben mich und legt eine Hand auf meinen Oberschenkel. „Ich glaube, ich hatte gerade ein Déjà-Vu“, sagt sie.
Ich winde einen Arm um ihre Schulter und ziehe sie zu mir. Schön, sage ich und meine sie.
„Wo wollen Sie hin?“, fragt sie und reibt ihren Kopf leicht an der Kuhle meines Schlüsselbeins, also an dieser Stelle, an der man bei den Bundesjugendspielen die schwere Kugel hält.
Ach, sage ich.
„Sie wissen nicht, wohin?“
Weil sie dabei den Kopf ein wenig wegnimmt, sage ich schnell Doch und sie bettet ihn wieder auf den angestammten Platz, so dass ich anfangen kann, ihren Nacken zu kraulen.
„Fällt Ihnen der Geruch auf?“
Nein, sage ich. Ich röche nichts.
„Ja“, sagt sie. „Das ist es ja.“ Dann küsst sie mich. Sie küsst herb, irgendwie ägyptisch, ein wenig märzig, mit einem Schuss November und dabei berühren sich nur unsere Lippen. Keine Zunge, das macht man ja nicht.
Schönes Kleid, sage ich, während ich ihre linke Brust durch den Stoff knete. Fühle sich irgendwie erfrischend an.
„Ach, das ist doch nur mein Nachthemd“, antwortet sie.
Hmm, sage ich, massiere weiter und hoffe auf den nächsten Kuss.
„Sie machen das sehr gut.“
Danke, sage ich.
„Ein angenehmes Gefühl. So lebendig.“
Ich visiere jetzt den mittleren Kreis an. Dazu muss man wissen, dass Brüste ja etwas von Zielscheiben haben, mit drei immer kleiner werdenden konzentrischen Kreisen: Die ganze Brust, der Warzenhof und die Nippel.
Aber irgendwas mache ich falsch, denn auf einmal hält sie meine Hand fest, schaut mir in die Augen und sagt: „Kommt Ihnen das nicht seltsam vor?“
Ich nicke ein wenig, streiche mit der Zunge über meine Unterlippe und versuche, ihr mit meiner freien Hand zwischen die Beine zu fassen.
„Nein, jetzt wirklich“, sagt sie und hält meine andere Hand nun auch fest. „Hat der weiße Papagei Sie nicht gewarnt?“
Pudel, antworte ich. Und irgendwie hat sie es jetzt ruiniert, also den magischen Moment.
Ohne den Feenstaub über ihrem Gesicht, sehe ich sie jetzt natürlich ganz anders. Also gerade war sie noch Amanda und jetzt ist sie eben eine Sterbliche. Aber so schlimm ist das gar nicht, es ist eine recht hübsche Sterbliche, wenn auch schon ein bisschen älter, zugegeben. Noch nicht verlebt, oder so, aber halt Abnutzungsspuren. Ein paar Fältchen auf der Stirn, Tränensäckchen, etwas knollige Nase. So was halt.
Dann fällt mir auch ein – Oh, wie hatte ich das vergessen können? – ihr auf die Fingerspitzen zu schauen. Aber im Kerzenlicht könnten da Verfärbungen sein, oder auch nicht.
Deshalb frage ich sie, ganz offen und ehrlich heraus, denn das ist ja wichtig. Ich frage sie also, ob sie denn rauche. Denn Rauchen, füge ich gleich hinzu, ginge ja mal gar nicht bei Frauen. Das wisse wohl jeder. Man müsse sich nur anschauen, was das Rauchen aus Penélope Cruz gemacht habe, also in diesem Film. Die rissen den Männern das Herz raus, diese Raucherinnen.
„Glauben Sie, dass wir tot sind?“, fragt sie.
Ach, denke ich mir. So eine ist das also. Rauchbomben zünden. Blendwerk und so weiter. Bestimmt eine Raucherin.
„Schauen Sie sich doch mal um“, sagt sie.
Ich tue ihr den Gefallen und stelle fest, dass sich der Bus gefüllt hat. Um uns herum sitzen Gestalten. Dort drüben ein Motorradfahrer in voller Kluft. Den Helm noch auf den Schultern. Aber das Visier hat einen Riss und auch sein Lederanzug hat ein paar Verfärbungen, wie von Asphalt.
Neben ihm: Eine dicke Frau in Blümchenkleid mit Brille und wachen Augen.
Vor ihnen sitzen zwei Säuglinge, nicht mal in Kindersitzen oder angeschnallt, sondern sie sitzen einfach nur da. Aber vielleicht haben sie das ja auch geändert, also die Kindersitzpflicht. Das ist ja wirklich nicht mein Fachbereich.
„Fällt Ihnen nichts auf?“
Ich sage, dass es vielleicht ein wenig kühl sei für ein Blümchenkleid, aber das müsse man schon zugestehen. Freier Wille, und so weiter. Und sie könne da wahrlich nicht den ersten Stein werfen. Sie solle sich doch mal ansehen. Nachthemd, das hätte sie ja selbst gesagt.
Sie schaut mich mit leeren Hundeaugen an und es tut mir ein bisschen leid, dass ich sie so angefahren habe.
„Gucken Sie sich doch mal ihn an“, sagt sie und zeigt auf jemanden.
Ich murmle noch, dass es unhöflich sei, mit nacktem Finger auf angezogene Leute … und dann sehe ich ihn. Verkohlte Hautfetzen blättern in Purpur und Pastell von ihm ab. Fast meint man, vom kahlgebrannten Schädel noch Rauchzeichen aufsteigen zu sehen. Aber das kann auch an den Kerzen liegen.
Der habe wohl im Bett geraucht, sage ich. Davor hätte mich mein Vater auch immer gewarnt.
„Sehen Sie es denn nicht?“, fragt sie. „Sie sind tot.“
Unsinn, sage ich. Tote führen nicht mit dem Bus. Dies sei allgemein bekannt.
Aber so ein bisschen freue ich mich auch. Eine Verrückte hatte ich noch nie, die sind ja irgendwie spannend, weil unberechenbar. Und ich ziehe sie wieder ein Stückchen zu mir, greife um sie und streiche über die Stelle, an der ihr Rücken zum Po wird. Sie murmelt irgendwas, aber dann streichelt sie auch über meinen Rücken und ich grinse ein bisschen vor mich hin und mache dabei die Augen zu.
Dann ist aber schon wieder was, denn sie stöhnt auf, schubst mich von sich weg und hält mir ihre nasse Hand genau vor die Nase.
„Blut“, sagt sie. „Auf deinem Rücken. Du blutest. Dreh dich mal um, ich glaube, da ist ein großes Loch.“
Während ich mich umdrehe, frage ich mich, ob es jetzt ein gutes Zeichen ist, dass sie mich duzt.
„Was hast du eigentlich gestern gemacht?“, fragt sie und berührt mich dabei mit ihren Fingerspitzen. Ein seltsames Gefühl, denn ich weiß nicht so recht, wo sie mich berührt.
Ach, sage ich.
„Du weißt nicht, was du gemacht hast?“, fragt sie.
Ach, sage ich. Man könne sich ja nicht alles merken. Außerdem sei es verfrüht, solch intime Fragen zu stellen. Was habe sie denn, bitte schön, wo wir gerade dabei seien. Was also habe sie denn gestern gemacht!
„Ich weiß es nicht“, sagt sie.
Aha, sage ich. Quod erat und so weiter.
Das hat sie jetzt getroffen. Ist auch unhöflich von mir, so mit ihr umzuspringen, wo sie doch Raucherin ist und ein bisschen verrückt. Ihre Augenlider flattern auf und ab, so als blättere jemand ein Daumenkino durch. Das macht mir Angst, also schaue ich auf die beiden Wölbungen unter ihrem Nachthemd und frage mich, wie sie wohl so aussehen und schmecken.
„Es tut mir leid, Stefan“, sagt sie.
Ihre linke Brust ist größer als die rechte. Ich frage mich, ob sie spezielle Büstenhalter braucht. Das müsste ich vorher wissen, im Falle eines Geschenks.
„Es tut mir wirklich leid.“
Es ist jetzt natürlich noch zu früh, sie danach zu fragen, aber spätestens morgen sollte ich das tun. Ich werde ihr bald ein Geschenk machen. So viel steht schon mal fest. Bevor sie die Preise ändern oder entscheiden, dass Frauen nur noch eine Brust haben oder eine dritte oder so was.
„Wir müssen hier raus. Wir fahren beide in die Hölle.“
Sie greift mich am Handgelenk und schleift mich hoch. Sie hat etwas sehr Resolutes und Amazoniges, etwas Archaisches und auch, ich sage es nicht gerne, Verkehrtes. Denn eigentlich, wenn wir in einem Film mitspielten, dann wäre das ja mein Part. Also das Retten. Aber Frauen und Verrückten sollte man ihren Willen lassen, und für verrückte Frauen gilt das wahrscheinlich doppelt.
Also tipple ich im Kerzenschein hinter ihr her, stoße gegen Schienbeine und Ellenbogen, während sie mich zum Eingang und zum Busfahrer schleppt.
Der Bus muss gerade angehalten haben, denn sie schreit: „Schnell jetzt, solange die Tür noch auf ist!“ Und schon sind wir an der Tür und wir lassen einen jungen Mann an uns vorbei, der eine Heftklammer in seiner Nase trägt, aber ansonsten nackt ist.
Sie greift jetzt fester um mein Handgelenk und schreit: „Spring!“
Und wir springen auf die Tür zu, die Stufen hinunter, aber da wo eigentlich die Tür ist, prallen wir von der leeren Luft ab. Obwohl die Tür ja noch gar nicht zu ist, sondern noch offen steht.
Der Abprall tut nicht richtig weh, eigentlich gleiten wir eher von der Luft nach unten. Also nicht wie in einem Cartoon, sondern ganz sanft, so dass wir mit den Beinen auf dem Busboden zum stehen kommen.
Die Tür schließt sich stumm.
„Kein Wind“, sagt sie. „Ich spüre keinen Wind.“
Ja, sage ich. Kein Wunder. Die Tür sei ja auch mittlerweile wieder verschlossen.
Ein bisschen schäme ich mich für sie. Sie benimmt sich sehr unhöflich. Versucht sich an der Frau im Blümchenkleid und am Motorradfahrer vorbei zu quetschen. Will nach dem Fenster greifen und am Öffnungsgriff rütteln. Also an diesen Klappen, wo normalerweise ein bisschen Luft reinkommt.
Woher ich weiß, was sie vorhat, weiß ich nicht so genau, aber ich weiß es. Telepathie wahrscheinlich. Müssen sie geändert haben.
Wir sollten das bei den Säuglingen machen, sage ich geistesgegenwärtig. Die störten wir nicht. Die schliefen bestimmt. Es sei ja schon spät. Wenn man das nicht auch geändert habe.
Sie liegt schon halb auf der dicken Frau, als ich das sage. Und dann rappelt sie sich hoch, dreht sich zu mir, nimmt meinen Kopf in beide Hände, schaut mir in die Augen und sagt: „Ich liebe dich.“
Ich nicke und sage, dass ich es wisse. Und dass es wohl auch okay sei. Dann schürze ich ein wenig die Lippen, aber sie zerrt mich schon weiter.
Grob reißt sie den linken Säugling vom Sitz und reicht ihn mir. Ich halte ihn eine Weile im Arm, er hat etwas Karamelliges, aber es kann sein, dass das jetzt das falsche Wort ist. Dann reicht sie mir auch den zweiten Säugling und ich komme mir ziemlich blöd vor, mit diesen zwei Karamelldingern im Arm, während sie auf die freigewordene Sitzbank klettert – sie hat einen ganz knochigen Hintern, der gar nicht zu ihrer Mähne passt - und mit beiden Händen an der Klappe rüttelt.
„Luft, Stefan. Da ist Luft. Schnell das Fenster. Wir müssen das Fenster aufmachen.“
Irgendwo tief in meinem Hirn taucht ein Gedanke auf. Ich verstehe ihn nicht richtig, ich glaube, er ist auf französisch und das habe ich nur zwei Jahre in der Schule gehabt. Aber der Gedanke ist da. Und ich bekomme eine Gänsehaut.
Sie dreht sich zu mir und sieht mich an. Sie steht ein bisschen gebückt, weil ihr Kopf sonst gegen das Dach des Busses stoßen würde.
„Sie stehen dir“, sagt sie. Und ich schaue auf die beiden Babys in meinem Arm.
Dann drischt sie ihren Ellenbogen gegen die große Fensterscheibe. Drischt einmal, drischt zweimal, drischt dreimal. Doch nichts.
Ich kann das Elend nicht mehr mit ansehen, gehe zu der Bank mit der dicken Frau und dem Motorradfahrer und reiche der Frau die beiden Babys.
Sage noch, dass sie gut auf sie aufpassen solle. Sie sei jetzt ihre Mama. Aber vielleicht spreche ich auch französisch, denn die Säuglinge müssen sich am Blümchenkleid festkrallen, die Frau schaut nämlich weiter gerade aus.
Ich greife an ihr vorbei zu dem Motorradfahrer, löse mit spitzen Fingern den Kinnriemen seines Helms. Murmle dabei, dass es für einen guten Zweck sei und er sich keine Sorgen machen müsse.
Mit einem Ruck ziehe ich den Helm von seinem Kopf. Und der Schädel, ohne den Panzer des Helms, baumelt zur Seite weg, aber zur Fensterseite hin, so dass ich und die Babys seine Augen nicht sehen müssen.
Mit dem Helm gehe ich zurück zu Veronique, deren Ellenbogen schon ganz aufgeschrammt und blutig ist, so als hätte sie ihn aus Versehen in eine frische Pizza gesteckt.
Hier, sage ich und reiche ihr den Helm.
Sie reißt ihn mir aus der Hand und schlägt damit gegen das Glas. Eigentlich wieder mein Part, aber es hat sich so viel geändert in letzter Zeit, dass es bestimmt okay ist.
Das Glas bekommt einen Riss, ein Spinnennetz entsteht, salzige Luft dringt in den Bus ein, aber es gibt kein Geräusch.
„Halt mich“, sagt sie und lässt sich zu mir hinunterfallen, so dass ich ihr unter die Achseln greifen muss. Der Helm fällt zu Boden. Sie hebt ihre nackten Füße hoch, stemmt sich gegen mich und tritt wuchtig und beidfüssig gegen die Scheibe.
Es macht Klirr und die ganze Scheibe fällt heraus. Nur noch Luft und jetzt rieche ich sie. Und jetzt bin ich in einem Film. Und jetzt erinnere ich mich.
Sie hieß Veronika und war meine Frau. Ich liebte sie einmal, aber dann nicht mehr. Sie hatte Leukämie und eine Schwester. Die Schwester war bei uns eingezogen, weil meine Frau Leukämie hatte.
Ich schlief mit ihrer Schwester, weil die keine Leukämie hatte. Und sie schlief mit mir, weil ich keine Leukämie hatte.
Ich schlief mit ihr im Wohnzimmer.
Und meine Frau schlief im Schlafzimmer.
Zu schwach, um aufzustehen. Zu schwach, um zu hören. Dachte ich. Im Film.
Aber sie konnte hören. Sie konnte aufstehen. Sie konnte den Umweg in die Küche machen. Sie konnte die Geschirrspülmaschine öffnen. Sie konnte das große Messer nehmen.
In dem Moment, bevor Menschen sterben, das habe ich einmal gehört, geht ein letzter Kraftschub durch ihren Körper.
„Jetzt weißt du es“, sagt sie mir.
Ja, sage ich.
„Schlimm?“, fragt sie. Während wir weiter in dieser abnormalen Position stehen. Ich aufrecht, sie halb in meinem Armen, halb auf der freien Sitzbank. Mit dem offenen Fenster vor uns.
„Dafür kommen wir in die Hölle“, sagt sie. „Du wegen Ehebruch und ich wegen Mord. Wir müssen jetzt springen.“
Hm, sage ich.
Wir klettern über die freie Sitzbank hinaus auf den Rand des Fensters. Sie sitzt schon dort wie ein Vogel auf der Stange, als ich mich zu ihr setze. Es ist unbequem, im Fensterrahmen ist noch Glas und meine Hände tun weh, weil ich sie mir am Glas aufgeritzt habe. Aber das sind wahrscheinlich Phantomschmerzen, von dem Küchenmesser merke ich ja auch nichts.
Sie hält meine Hand fest und drückt sie.
Unter uns ist nur die Dunkelheit, hinter uns der Bus im Kerzenschein.
„Vergibst du mir?“, fragt sie ganz leise.
Hmmm, sage ich. Und sie lässt meine Hand los.
„Auf drei“, sagt sie.
Was ist aus der Schwester geworden? Ist sie im Himmel? Gibt es einen zweiten Bus? Ohne Kerzen, ohne einen Fahrer mit gelben Augen?
„Eins.“
Und wenn sie ihre Schwester nicht umgebracht hat? Wie sah die Schwester überhaupt aus? Könnte sie hier im Bus sitzen und mir nicht auffallen?
„Zwei.“
Der Pudel. Faust. Dort ist Mephisto der Pudel. Und Mephisto der Teufel. Aber das ist ein schwarzer Pudel. Und wie zum Teufel passt ein Papagei da rein?
Und … seit wann kommen Säuglinge in die Hölle? Nein, ich muss …
„Drei.“
Veronika springt, ich nicht.
Ich höre ein dumpfes Platschen und einen schrillen Schrei.
Ich schlucke zweimal und weine.
Dann hangle ich mich wieder in den Bus hinein und gehe auf den Fahrer zu.
Die beiden Säuglinge schlafen friedlich unter den gewaltigen Brüsten der Frau im Blumenkleid.
Ich stehe vor dem Fahrer, mein Mund öffnet sich und will ein Wort, einen Namen formen, einen Namen, den ich noch nie gesagt habe. Charon.
Aber bevor ich diesen schwierigen Namen artikulieren kann, tippt er auf das Messingschild. Und irgendwie weiß ich nicht mehr, was ich von ihm wollte, also setze ich mich wieder auf meinen Platz.