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Raingirl
Die Tropfen fallen vom Himmel. Einer nach dem anderen. Ein dichter Schleier hüllt die Welt vor dir in Grau und Nässe. Hinter dem Fenster beginnt eine Welt voll Wasser und fallenden Tropfen. Dein Zimmer ist dunkel. Du hast das Licht ausgeschaltet und stehst nun am Fenster. Blickst in den Regen. Schon eine Viertelstunde. Ohne dich zu bewegen.
Endlose Minuten lang blickst du noch starr geradeaus in eine Pfütze, beobachtest die Wellen, die die Tropfen beim hineinfallen erzeugen. Dann endlich hebst du deine Hand von der Brüstung, auf der du gelehnt hast, und öffnest die Balkontür. Ein Schwall kühler Luft, durchsetzt mit kleinsten Regenpartikelchen dringt in das Zimmer. Sofort spürst du die angenehme Feuchte auf der Haut. Deine Hose wird durchnässt, als du vollends auf den Balkon trittst. Du kannst ein leichtes Gefühl der Zufriedenheit spüren, als du deinen Kopf nach oben hebst und dein Gesicht den fallenden Tropfen entgegen streckst. Du hebst deine Arme, streckst sie weit ausgebreitet in den Regen. Ein Lächeln stiehlt sich auf dein Gesicht und du kannst nicht anders, musst lachen, laut jauchzend stehst du im Regen, schüttelst dich. Du weißt nicht, ob du etwas am Körper trägst, das Wasser hat inzwischen alles durchweicht. Du spürst den Regen, als ob er aus den Wolken direkt auf deine Haut fiele, zwischen deinen Armen hindurch, den Rücken herunter an den Beinen entlang auf den Boden. Deine Haare hängen nass und schwer zwischen deinen Schultern, ein schweres dunkelrot. Lidschatten, hättest du welchen aufgetragen, Make-up, Wimperntusche; alles wäre inzwischen vom Regen hinfort gespült. So wie deine Gedanken und Sorgen. Immer, wenn du im Regen stehst, fühlst du dich so unbeschwert und frei. Gleichzeitig auch hypnotisiert. Regen hat etwas einschläferndes. Nicht bei dir. Regen ist das schönste das es auf der Welt gibt, sagst du immer. Niemand versteht dich. Im Regen stehen macht krank. Im Regen stehen macht traurig. Der Regen ist schlecht, er bringt Überschwemmung und Tod.
Du denkst nicht so. Für dich ist Regen das Beste, das Schönste. Ohne Regen könntest du nicht fröhlich sein. Du schmunzelst, als du an deinen Nachbar denkst. Ein gutaussehender Junge. Aber total verzogen. Steht wann immer möglich in der Sonne. Wie er wohl heißen mag? SunnyBoy nennst du ihn. Er ist vom Weg abgekommen. Regen ist das einzig Wahre. Sonne, Sonne, immer Sonne – du verstehst nicht, wie er das aushalten kann. Wann immer es regnet, stehst du draußen. Bei Regen kann man die schönsten Sachen machen. Wer weiß, vielleicht hat Gott etwas mit dir vor. Regen und Du. Du und Regen. Es gibt da eine Verbindung. Etwas, das noch nicht erwacht ist. Aber jetzt schon zieht es seine Spuren.
Endlich lässt du die Arme sinken und neigst den Kopf. Du bedankst dich im Geiste bei Gott. Für den Regen, für die Freude, für diesen Tag. Regen, denkst du, Regen ist gut für mich. Dank sei Gott, dem Herrn für jeden einzelnen Tropfen, der fällt. Du blickst noch einmal nach oben in die Wolken, die schwer-grau-düster-flockig am Himmel hängen. Nickst ihnen noch einmal zu. Drehst dich um. Gehst in dein Zimmer zurück und schließt die Tür. Machst die Tür wieder auf, legst dich auf dein Bett und lässt dich trocknen. Lauschst dem Regen, wie er fällt. Tropf, tropf, troppelditropf. Es plitscht. Du hörst es plitschen. Dein Bett ist langsam genauso feucht wie du, doch du bleibst immer noch liegen. Wartest, dass die Scheibe birst und der Regen zu dir herein dringt. Du wartest vergebens. Langsam öffnest du die Augen und blickst an die Decke. Ein Bild von einem einzelnen Tropfen, einer Welle im Wasser. Du lächelst und stehst auf. Schälst dich aus deinen nassen Sachen, trocknest dich vollends ab.
Es regnet immer noch, der Wind hat sich gedreht. Die Tropfen prasseln jetzt an deine Scheibe und auf ein nahes Wellblechdach. Du liebst dieses Geräusch. Nun stehst nackt in deinem Zimmer, unschlüssig, ob du noch einmal auf den Balkon gehen solltest. Vielleicht sieht dich jemand. Vielleicht sogar SunnyBoy... Doch das wäre dir egal. Du machst das so oft, ob nun einmal mehr oder weniger... Schließlich gehst du noch einmal in den Regen heraus. Vorsichtig mit den Augen durch die Regennacht suchend, räkelst du dich in deinem Element. Es fühlt sich noch besser an, wenn man nichts an hat. Die Tropfen sind inzwischen größer geworden, die Regenwolken dunkler, die Nacht schwärzer. Irgendwie überkommt dich ein Gefühl des Wissens. Du bleibst unbeweglich stehen und lauschst in dich hinein. Du spürst das Wasser, wie es in kleinen Kugeln auf deinen Kopf fällt, deine Augenlider, deine Schultern, deine Brust und deinen Bauch, deine Beine und den Boden um dich herum. Hörst das Prasseln des Regens auf dem Wellblechdach und das dumpfe Plunk auf der Scheibe. Und du fühlst dich gut. Endlos lange stehst du unbeweglich da. Überlegst, welche Verbindung du und der Regen haben könnten.
Aus einem Reflex heraus setzt du dich auf die schmale Kante des Geländers. Du fühlst dich, als ob du eins wärst mit dem Regen. Du kannst so hoch steigen wie die Wolken und so tief fallen wie die Tropfen. Du bist so klar wie Wasser und so rund und geschmeidig wie die Tropfen, die deinen Körper herunterfließen. In kleinen Sturzbächen von deinem Hals aus, zwischen deinen Brüsten hindurch, durch den Schoß, die Beine herunter, zu den Fußsohlen. Und von dort beginnt ein neuer Fall, noch tiefer, das Haus hinunter. Die Wohnungstür hinter dir wird im gleichen Moment geöffnet, als du entscheidest, dein Leben dem Wasser gleichzusetzen. Eins sein mit der Natur, entscheidest du und stellst dich langsam und zitternd, Gleichgewichtsuchend, auf das Geländer. Hinter dir in der Wohnung erklingen Schritte und deine Zimmertür wird geöffnet. Zeitgleich öffnet jemand neben dir auf dem benachbarten Balkon die Tür. Zeitgleich hebst du die Arme über den Kopf und drückst die Fersen nach oben. Ein kurzer, überraschter Schrei hinter dir und ein enttäuschter Ausruf neben dir, als du dich nach vorne fallen lässt.
Eins mit dem Regen fällst du nach unten.
Und eins mit dem Regen vergehst du.
Und du fühlst dich gut.
Okkultus