Was ist neu

Ramona

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12.08.2006
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Ramona

Erzählung von Leichnam (frei nach E. A. Poe)

Am Grabe einer jungen Frau würde es mir besser gehen, sagten die Kumpane am Zechtisch. (Gregor Sai)

Das Siechtum ist vielfältig sowie breit gefächert. Das Dasein auf Erden weist Erbärmlichkeit auf, erscheint in Tausend fratzenhaften Masken. Irdisches überdeckt weite Fläche, die Farbtöne jener Wölbung setzen sich kaum durch gegen Grau und noch größere Dunkelheit. Es könnte dies alles schillernd sein und prächtig, doch nur Unliebliches bietet sich meinen eigensten Weltbetrachtungen. Wie bin ich nur von durchaus vorhandenen Naturschönheiten -, man sagte mir, es gäbe diese -, zu Häßlichkeiten übergegangen? - Vom Typus der Friedlichkeit auf ein Übersymbol der Gram? Doch im Annehmbaren ist das Böse dem Guten fast gleich, und so, wahrlich, entspringt die Bedrückung dem Spaße. Bestimmt gestaltet Sinnieren über einstige helle Landschaft, über Frohsinn, Unbekümmertheit -, die Gegenwart zur Tortur um; oder aber alle Qual, die VORHANDEN, ZUM GEGENWÄRTIGEN PUNKTE, hat den Quell, die Qualenquelle, in den Genüssen, welche HÄTTEN SEIN KÖNNEN.
Mein Name lautet Eugen; jenigen meiner Familie möchte ich nie und nimmer nennen. Doch majestätischer präsentieren sich keine Häuser in der Umgegend als die im Dämmerschlafe liegenden, finstrigen Hallen meiner Vorfahren. Unser Stamm wurde von jeher als ein Geschlecht von Sehern, auch von Phantasten, bezeichnet; und in etlichen Details, die wirklich auffällig - dem äußeren Habitus unseres Herrenhauses - den dämonisch wirkenden Steinfratzen an den Außenmauern - den Tierhäuten in Schlafgemächern - den Ornamenten gewisser Strebepfeiler in der Waffenkammer - aber eindringlicher noch an alten Büsten im Bilderzimmer - am Stile unserer Hauptbibliothek - und, letztlich, an der merkwürdigen, ja bizarren Grundnatur des Bibliothekeninhaltes - existieren genügend Anstriche, um derartige Meinung stärkstens zu rechtfertigen.
Meine frühesten Entsinnungen sind verschweißt mit eben jenem Reiche der Schrift, den schier endlosen Reihen seiner ledernen Buchrücken, seinem eindringlichen Geruch. Doch will ich spezielle Nennung von Werktiteln nicht tätigen. Meine Frau Mutter verblich im Lesesessel, und vorher noch wurde ich darin geboren. Aber ich bin der festen Ansicht, daß ich schon weitaus früher existierte. Dieses Ich als Seele, schweift es nicht ewig bereits durch die Gezeiten des Universums? Ich streite mich nicht mit den Skeptikern; sie glauben, das Ihre zu wissen - ich hingegen weiß Meines. Zutiefst eingenommen von Grenzwissenschaften, besonders der Metaphysik, versuche ich nicht zu überzeugen. Es treiben Reste durch meine angestrengten Erinnerungsversuche - weißliche Schlieren sehe ich, Stückwerk nur, doch deutlichst. Die ruhige Fahrt im wohlwarmen Gebiet schöner, ja herrlicher Farben, und es zeigt sich, dünkt es mir, eine Musik vorhanden. Doch alles Gedankengut hieran weist starke Instabilität auf, Schatten gleich, rasch hinweg huschend. Es ist geisterreichvielsagend Äugendes, da sind schwache Schlingen, ob gefährlich oder nicht - wer weiß es? Alles verwaschen und sich wandelnd, doch ich mag heute danach greifen, ohne es zu erlangen, solange man im Fleische ist.

In jenem Raume bin ich geboren, auffahrend aus Schwärze herauf, die jedoch kein Nichts ist, wie vielleicht mancher Lappen behaupten will. Ein Riesengebiet der Fantasie erwartete mein Sein, doch auch die wild-ernsten Bezirke skolastischer Denkelei & Gelehrsamkeit - doch es verwundert nicht, warum ich aufging in all Jenem. Mit gierigem Aug´ blickte ich umher, schon stöhnend vor Wonnen, doch ich vertat meine Knabenzeit eben bei raschelnden Buchblättern sowie beim Gekratz der Schreibfeder. Befremdlich aber ist es, daß ich aus diesem Vakuum nicht herauskam, eventuell - ich weiß es nicht - auch gar nicht wollte, und all die Jahre gingen dahin, immer bei Kopfarbeit und angestrengtem Blicke. Meine körperliche Gesundheit kam merkwürdig zum Stillstand; fast war es, als würde das Herz kein Blut mehr pumpen. Und Träume wurden meine reale Welt, kleinste Eindrücke schon packten mich, um mich durch Kolonien neuer Bücherberge zu schleudern - doch die Welt da draußen, vor den Wänden, unter dem Himmel, diese trat zurück in Unbedeutsamkeit. Das starre Sitzen sowie die halluzigenen Splitter & Gesamtgebäude - es handelte sich um das Dasein selbo.

Ramona und ich waren Cousin und Cousine; wir wuchsen nebeneinander in den elterlichen Hallen auf. Doch welch Gegensätze nur waren es? Ich beständig bei schlechter Gesundheit, schier ohne Aussicht auf Besserung - sie hingegen voller stolzer Lebensfreude, übersprudelnd vor Erlebnislust und Tatendrang. Sie federnden Ganges dahinstreifend über die Hügel. Ich: Gebückt wie ein Geschundener, einsiedlerisch konzentriert auf Studien beim trüben Kerzenschein, lediglich lebend ureigenste Seelenlandschaft, in Meditation versunken, schon schmerzlich umgarnt vom Düster. Sie: Sorglos schwebend durch die Tage, ohne auch nur einen Gedanken an tiefere Dinge zu hegen, wie an Tod und Weltenende, an die Verbrennung der Farbe. Doch Ramona - beschwörend schon rufe ich ihren Namen: Ramona! Und aus den Untiefen des Gedächtnisses schießen, fontänengleich, Milliarden von reißenden Gewalten empor, lediglich ob dieses Klanges. Überklar steht es itzo mir gegenüber -, ihr Bild, aufregend wie in jenen Zeiten, wo sie frohen Mutes und so herzlich. Ach! Prunkende Ästhetik des Weibes! Doch bei allem Weltgewissen - was ist da in der Gegenwart? Nichts mehr als Graus, Geheimnis. Nichts mehr als eine Geschichte, die im Dunklen bleiben sollte.
Krankheit, Leid. Beides kam mächtig über sie. Dieses Opfer, Pfuhl der Qualen, des Vergessens -, ausgerechnet Sie! Ihr Gemüt, ihre Gestalt, nichts wollte ich wiedererkennen, obwohl ich sie doch noch durch den Seidenumhang der Albdrücke hindurchschimmern sah. Ihr ganzes Wesen verstört auf die gräßlichste Art. Der Vernichter kam, und er ging; und alles geschah so unnatürlich schnell & langsam zugleich. Als Ramona, ja als Ramona, erkannte ich sie schier nicht mehr. Oder kannte ich sie gar noch genauer?
Unter den zahllosen Heimsuchungen meiner Cousine, die sich ihrer anscheinenden Hauptkrankheit hinzugesellten, muß eine Art Epilepsie genannt werden, mit der freilich kein Arzt der Welt etwas anfangen konnte. Es schloß sich hier nämlich eine Trance an, welche dem Zustande völliger geistiger Umnachtung unheimlich nahe kam. Allerdings geschah der Punkt des Aufwachens schlagartig. Es passierte in der Tat derartig jäh, daß es nur noch für Erschrecken beim Beobachter sorgte.

Zwischenzeitlich erhöhte sich auch mein eigenes Leiden, das ich nur als ´Leiden´ beschreiben kann, da anscheinend hierfür kein Fachbegriff existiert. Es war eine gewaltige Steigerung zu verzeichnen, deren Gründe ebenso im Unklaren lagen wie jenes Seltsame auch. Vielleicht sollte ich sagen, daß ich den Hang zur Gleichförmigkeit und Monotonie, welcher seit jeher mir innewohnt, mehr oder weniger unbewußt selbständig ins fast Unermeßliche trieb. Doch wieder sage ich, daß ich es geschehen ließ, oder Etwas ließ es mit mir geschehen. Mein Interesse für Details sowie belanglose Kleinigkeiten, meine stete überreizte Aufmerksamkeit, meine Fähigkeit - der Dumpfheit etwas abzugewinnen - welches lediglich nichtssagend war, (von wenigen Ausnahmen abgesehen), dies alles waren Punkte, die sich stündlich mehr mit dem Gesamtknäuel meiner unlogischen Psyche vermischten -, drehend, drallend. Ich schaute, hörte, fasste auf, und wie Axtschläge ins entsprechende Hirnzentrum nahm sich die Wirkung der Außeneinflüsse aus. Meine Beobachtungsgabe zeigte sich überartet, und all meine Existenz war wie im Zwange gefangen.
Stunden nimmermüder Betrachtung, das Aufmerken zum Fetzen Papier gerichtet, den die Hauskatze im Zimmer hinterlassen. Konzentration auf die Kerzenflamme in ihrer leichten Bewegung, und ab und an ein Zischen, ein Laut, der in seiner Überbedeutung seinesgleichen sucht. Ein Abendschatten kriecht schräg über die Bodenleiste des Aufenthaltsraumes -, meine Versenkung hierin: Nahezu unlösbar. Der Duft einer Lilie -, Tage, ach Wochen, verträume ich darüber; oder aber die Glut im Kamine -, ein ganzes Leben könnte ich hier nachsinnen. Der Klang eines Wortes, ewiglich vor sich hingemurmelt, solange, bis ich ob seiner gewordenen Sinnentleerung gepackt vom nackten Entsetzen. Ich führe dies stur aus -, es ist, ich weiß es, pervertiert. Weder Sinn noch Nutzen, Frieden wird keiner erlangt, kein Glück deswegen, aber es muß, ja es muß doch geschehen! Freunde habe ich nicht, und Bekannte schütteln nur traurig das Haupt, wenn ich berichte. Bei meinen Sinnen ist alles, wirklich! - und doch, da ist der Kern, den auch ich nicht verstehe, denn keinerlei Genuß entsteht mir, im Gegenteile: Es ist angestrengte Arbeit der Augen, Ohren, des Geistes -, und ich hasse dies! Schweiß trieft mir von der Stirne, doch ich muß es tun: In die Dunkelheit einer Zimmerecke starren, nächtelang, und dort, versteckt, einen Gegenstand vermuten, von dem ich denke, daß er bei Helligkeit zerfließt zu Nichts. Die Gespinste der Nerven: Ständig angespannt und unter Anstrengung. Das Sein: Etwas Seltsames!
Es wäre fatal, wenn man hier unrichtig verstehen würde. Der simple Tagträumer geht von einem Punkte aus, der ihn anregt -, vielleicht eine grüne Wiese, eine Wolke am Himmel. Er spintisiert darüber, schreitet von Vergleichspunkt zu Vergleichspunkt, und allmählich geht der Startbereich völlig verloren. Man ist vielleicht gedanklich bei einem kühlen Bade angelangt, oder denkt über die Zubereitung eines speziellen Naschwerkes nach. In meinem Falle hingegen nahm sich das Ausgangsobjekt oder der Ausgangssinneseindruck vollkommen banal aus; beispielsweise starrte ich die Ecke - und nur diese - eines Möbelstückes an. Durch das Prisma meines Ich´s hindurch konnte jedes noch so belanglose Ding allerdings eine gewisse Wichtigkeit erlangen, und ich wich bei meinen Betrachtungen und Beobachtungen so gut wie nicht von den ursprünglichen Schemen ab - ein Topf blieb ein Topf, ein Diwan blieb ein Diwan. Der Ursprungsanlaß blieb das saugende, mysteriöse Zentrum. Weiterhin sage ich nochmals: Ich litt bei der Betrachtung und glitt kaum vom Hauptthema ab, während der gewöhnliche Tagträumer Gedankenserie durchgeht, die vollendet zu etwas Anderem hinführt. Man schweift hier ab und schwebt über Dinge hinweg.

Meine Lektüre zu dieser Zeit untermauerte meine persönliche Nebengleißigkeit -, ich las begierig italienische Mode-Autoren, bei denen ich, obwohl dies von ihnen mit ziemlicher Sicherheit nicht beabsichtigt, häufig Ansätze vorfand, die alles, was ich Tag für Tag, Nacht für Nacht, durchlebte, durchstehen mußte, in obszön-verkitschter Manier repräsentierten. Man beschrieb sehr viel und sagte eigentlich wenig über Ähnliches und Ähnliches und Ähnliches. Meine ungeteilte Aufmerksamkeit erhielten auch schriftlich niedergelegte Grabreden, die sich ganz & allein auf eine Person bezogen, was freilich hier in der Natur der Sache liegt.
Man wird mannhaft einsehen können, nach all den getätigten Betrachtungen, daß mein Verstand nur durch Triviales, nicht aber durch Wucht der Wirkung eines majestätischen Eindruckes, beeinflußt werden konnte. Es ist, als wäre man in der Lage, sich in der Wüste über ein Sandkorn in Betrachtung zu begeben, ohne jedoch dem anliegenden Palaste Aufmerksamkeit zu gewähren. Ramona´s Krankheit hatte allerdings auf die Anwandlungen meiner Person keinerlei Einfluß; das, was bei mir geschah, war einzig und allein mein Lebenspaket, welches ich zu tragen beauftragt war, durch wen oder was auch immer. In hellen Momenten empfand ich mit meiner Verwandten Mitleid und dachte gar über mögliche Ursachen ihres jammervollen Elends nach, doch ich bezweifle intensiv, daß jene straffen Überlegungen etwas gemein hatten mit den eigenen Grillen -, es ist wohl eher so, daß jeder besorgte Mensch sich grüblerisch verhält, wenn es um Unglück eines nahestehenden Menschen geht. Allerdings nahm es sich wahrlich aus, daß ich, anfangs nur von Verwunderung getrieben, damit begann, die unheimlichen Wandlungen ihres Körpers zu beobachten -, dies ging einher mit keinerlei Faszination; im Gegenteile, die Veränderung einst untrüglicher Körperkennzeichen schockierte mich. Was dabei zunächst, wie gesagt, als Beobachtung, Betrachtung startete, entwickelte sich zum Schwelgen im Grauen. Ich hatte meine Cousine früher akzeptiert, sogar sehr hochachtungsvoll, nun aber, im Angesichte all der Dinge, die sich an ihr taten, empfand ich etwas wie Freundschaft, ich möchte eher sagen Kumpanei. Ramona rückte mir näher, obwohl sie sich eigentlich unwillentlich mehr und mehr entfernte. Ein Objekt trockener Analyse, wie in alten Tagen, stellte sie längst nicht mehr dar -, sie war zum Gegenstand unwirklichen, verwischten Interesses meinerseits geworden, allein durch sämtliche Einzelheiten, die itzt neu. ´Ein Wahnsinnsmensch´, so dachte ich mir, ´vielleicht eine echte Freundin´.
So sann ich wieder einmal, geschehend an einem späten Nachmittage im Winter ihres Krankheitsjahres, über all die mentalen Wallungen nach, die mir doch erstaunlicherweise geschahen -, hervorgerufen durch Entstehung von gewissen Monstrositäten am Körper der Verwandten. Ich hatte eines der Bleiglasfenster meiner Studierstube geöffnet und starrte, während ein Räucherstab abbrannte, versonnen in den leichten Schneegriesel hinaus. Unentwegt murmelte ich den Namen der Cousine, und darüber kühlte die wahre Nachdenklichkeit allmählich ab. Ich war angeödet, angewidert vom eigenen Tun, das doch so nutzlos, so melancholiebringend an diesem Tage, so schmerzherbeirufend. Doch ich konnte und konnte nicht aufhören, leise das Wort ´Ramona´ zu sagen. Und als ich einmal zur Seite hin schaute, stand sie plötzlich mitten im Raume, ganz so, als hätte sie mein sinn- und zweckentleertes Geflüster vernommen.

War es die eigene Überreiztheit - oder der Einfluß des dunstigen Wetters - oder das ungewisse Zwielicht hier im Zimmer - oder die grauen Faltenwürfe um ihre Gestalt - was ihre Umrisse so undeutlich & schwankend machte? Noch heute weiß ich es nicht zu sagen. Sie schwieg, und nicht einmal ein Atmen vernahm man. Ich selbo: Saß wie erstarrt zu Steine, und nie, wirklich nie, hätte ich in jenen sphärischen Momenten auch nur einen Laut über die Lippen gebracht. Ich fühlte eine drückende Angst, eine unsagbare Beklemmung -, doch ich konnte nicht anders, als immer nur zu starren. Mein Blick war wie verschweißt mit ihrer Figur. Bei Gott - sie war abgemagert über alles Begreifen; fast gar nichts nahm sich in der Lage aus, Erinnerungen an einstigen optischen Eindruck zu schaffen. Dann schaute ich ihr endlich ins Gesicht.
Die Stirne: Hoch, im oberen Bereich von einer häßlichen Haube überdeckt. Die Färbung der Gesichtshaut allgemein war eigentlich ein fahles Gelb; es sah gespenstisch aus, und mir schien fast das Herz zu stocken. Jenes unbegreifbare Antlitz war die Schwermut selbst, doch gleichzeitig stellte es einen schon fantastisch zu nennenden Charakter dar -, recht beschreibbar scheint es aber nicht. In den Augen lag kein Leben, sie waren stumpf, glanz- und gar pupillenlos; ich schauderte unwillkürlich vor ihrem glasigen Stieren zurück. Die Lippen erinnerten an dünne, schmutzige Schnüre, und sie waren halb geöffnet. Die Zähne dahinter: Dunkel und fast vollständig verfault.
Doch dann hob Ramona, diese Spukgestalt, eine dürre Hand. Sie glitt - oh nein! - nach oben, griff schwächlich zu, und dann, oh dann..., zog diese die dreckige Haube vom Kopfe. Nie! - Nie hätte sie das tun dürfen. Haar, langes Haar, ergraut und wie tot, schlängelte sich langsam über die Schultern. Wollte Gott, daß ich Diesem nie ansichtig geworden, oder aber, im selben Moment, sterbend zu Boden gesunken wäre!

Ein Laut ließ mich hochschrecken - es war das Zufallen der Tür gewesen. Als ich verdutzt schaute, gewahrte ich, daß meine Cousine das Zimmer verlassen hatte. Nicht heraus war sie allerdings aus den Räumen meines Gehirns -, gnadenlos präsentierte sich hier ihre schaudervolle Anwesenheit, ihre fast spukhaft zu nennende Existenz, vor allem aber: Das Haar, IHR HAAR! Nichts daran war in der Erinnerung verflossen, überdeutlich bildete sich alles ab, wenn ich nur die Augen schloß. Jede kleinste Nuance in der Abweichung vom grauen Grundfarbton sah ich, spürte fast körperlich das Trockene und Kranke jenes Kopfputzes -, mein Gedächtnis zeigte sich hiervon gebrandmarkt. Deutlicher und schärfer noch gar hatte sich alles vor mir abgelegt, und diese Haare, diese Haare! - ließen mich nicht zur inneren Ruhe zurückkommen. Schon begann sie, meine ureigene Monomanie, mit gewaltigem Einfluß, größter Wucht & Wut. Vergebens kämpfte ich dagegen an, gab schon nach wenigen Sekunden hoffnungslos auf, da ich mich, und eigentlich wußte ich dies auch, bedingungslos beugen mußte. Und so geschah es also -, nur das Haar wies noch Bedeutsamkeit auf, alle übrigen Abermilliarden von Welteinzelheiten waren unerreichbar fern ins Universum zurückgewichen. Ich gierte nach dem Anblick jener stumpfsträhnigen Zotteln, nach all dem Ungesunden daran; ich verzehrte mich in Leidenschaft sowie an überhohen Wellen der Aufregung. Ein Verlangen stand da in mir, eine tiefe Betrachtung nur noch gab es, und ich sann nach über Belange wie Haarlänge, verglich hier geistig Einzelhaare miteinander - dachte immer und immer an Färbung - überlegte mir, wie sich diese Haare anfühlen mußten. Ich sah sie in Ruhe vor mir, dann wieder in Bewegung -, meist lag es vor mir wie eine Daguerreotypie, eben so, wie der letzte Eindruck gewesen, als Ramona noch vor mir gestanden hatte.

Es kehrte keinerlei Ruhe ein, jegliche Überlegung wurde wühlender und intensiver, ein neuer Grundton meiner ganzen Mentalität, alles überlagernd und bedeckend, nahm sich erreicht aus. Der Haarschopf wurde von mir geistig durchkämmt, gedreht, von allen möglichen Seiten sowie auch Blickwinkeln angestrengt fixiert. Neugier über den Feinbau des Haares überflutete meine ohnehin wildbewegte Seelenlandschaft. Da war doch etwas mit diesem Haar! - da war doch etwas, ja mußte, mußte etwas sein! Der sonderliche Einfall kam mir, daß -, und dies war die Idiotie, die mir zum Verhängnis wurde -, jedes Haar für sich eine Anschauung auf die Welt symbolisierte. Herr über ALLE Philosophie sein - ach! Nun wußte ich, daß jenes Haar Frieden & Beruhigung bringen konnte - dieses Haar allein! Diesen stillen Nebengedanken hegte ich, doch er trat rasch ins Hintertreffen, denn wieder und wieder erschienen die teuren, schier rein optischen Bilder, welche mich nun subtil zu quälen begannen.
Dergestalt übermattete mich der Abend. Finsternis kam, verweilte, ging. Und erneut ein Tag, dann die Dünstungen der nächsten Nacht, die sich erhoben -, und noch immer saß ich reglos da -, spintisierend, grübelnd. Sie erloschen nicht, die Bilder des Kopfhaares der Cousine. Ich sah und sah nur diese, sie regierten in Oberherrlichkeit, vor der mir so sehr graute. Ich wurde umschwebt von den Eindrücken, inmitten der sich ändernden Lichtverhältnisse des Raumes, mit allerlebhaftester & scheußlichster Schärfe von Konturen. Und auf einmal brach es ein in meine Träumungen -, es waren, wie aus weiter Ferne, Schreie zu hören, wie von Schreck, Bestürzung und Schmerz zugleich. Stimmen huschten heran, verstört und schattenhaft, und da war ein Geseufz und Gestöhn in den dämmrigen Tiefen des Hauses. Ich erhob mich, seit ungezählten Stunden erstmalig, stieß eine der Büchersaaltüren auf, um eine Dienerin im Vorraum zu sehen, aufgeweicht von ihren Tränen. Mir wurde mitgeteilt, daß Ramona - nicht mehr sei. Ein heftiger Anfall habe sie überkommen und überwältigt, früh am Morgen. Und itz, wo die Nacht wieder Stelldichein hielt, war schon das Grab bereitet für Die, welche es anging, und sämtliche Bestattungsvorbereitungen bereits getroffen.

Als ich zu mir kam, wie aus einer starken Betäubung heraus, saß ich in der Bibliothek, wieder allein, umgeben von Stille. Ich versuchte, mich an einen eventuellen Traum zu erinnern, doch es gelang nicht. Es schien mir gegen Mitternacht zu sein, doch hatte ich kein Gefühl mehr für Anzahl von Tagen. Ich riß gierig eine Flasche Wein heran, schlug am Schreibtisch den Hals ab, und soff die Flüssigkeit in einem Zuge hinunter. Und das Wissen, daß Ramona, die teuer gewordene Cousine, nun schon im Sarge unter feuchter Erde befindlich, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Und eines fragte ich mich auch: Hatte ich teilgenommen am Begräbnis, oder doch nicht? Die schwarzbraune Farbe von Erdreich tauchte mir auf, doch zu sagen brauchte dies nichts zu haben. Und dennoch -, bloßes Denken daran war randvoll mit Grauen -, Grauen, ob seiner Unbestimmtheit wesentlich erhöht. Es nahm sich ungestaltet aus, konfuser noch als all die Bereiche, die ich bisher besucht. Etwas Fürchterliches glitt durch die gramschwere Stickluft, welche ich atmete, und ich suchte nach Schlüsseln, die mir das einfache Entsinnen auftun konnten -, vergebens.

Doch etwas war da - etwas wie das gespenstische Geschalle von Frauenkreischen, und dies, so glaubte ich, hallte mir doch in den Ohren. Da gab es eine unumstößliche Sachlage, und mit dieser hatte ich etwas zu tun, äußerst direkt gar. Was war es doch? Diese Frage stellte ich mir laut, und ein flüsterndes, geheimnisvolles Echo im Raume sagte wiederholend: ´Was war es doch?´
Auf dem Tisch mir zur Seite brannte allmählich der Lampendocht herunter, und im Schwachlichte sah ich plötzlich einen Kissenbezug liegen. Er hatte achtlos auf dem Diwan der Bibliothek gelegen, aber wie war der doch recht teure Bezug hierher gekommen, auf meinen Tisch? Ich schüttelte mich und wollte auf keinen Fall in tiefere Betrachtung des Gegenstandes verfallen - mich schauderte ohnehin davor, aber warum? Über nichts vermochte ich mir mehr Rechenschaft zu geben; ohnehin glitt der Blick ab - dazu zwang ich mich - und erreichte die Seite eines aufgeschlagenen Buches. Dort fand sich ein Satz, unterstrichen. Merkwürdige Worte des Dichters Ebn Zaiat: ´Wer das Grab besucht, will wissen. Oder aber wendet er sich fürchtend ab, wenn schier ein Gespenst sich ihm zeigt. Real oder bestehend aus eigenen Gedanken?´
Ich atmete heftig, heftig vor Entsetzen und Angst.
Da klopfte es sacht an die Türe, und, fahl wie ein Laken, tauchte auf Zehenspitzen ein Diener auf. Sein Blick war irr & wild, und die heisere Stimme, mit der er zitternd zu mir sprach, sehr leise. Was wollte er? Ein wenig seiner Rede vernahm ich, da sagte er etwas von schlimmen Rufen, die die Nachtstille zerfetzt hätten. Die Dienerschaft, aufgeschreckt und sich versammelnd, nahm eine Suche auf, in Richtung des Geschreies. Hier wurden seine Worte lauter und deutlich, als er denn berichtete, das Grab wäre geschändet, ja, das neue Grab. Und er verlor Speichel, als er keuchte, die entstellte Gestalt im Leichentuch: Noch immer atmend & zuckend, noch immer am Leben!
Mit dürrer Hand deutete er auf meine Kleider am Leib - da war Schmutz an vielen Stellen, feuchte Erde, geronnenes Blut. Ich konnte nicht sprechen, während er sich meine Hand krallte und mich aufmerksam machte auf Eindrücke von Fingernägeln. Ja, genau sah ich die Muster. Und er zeigte hin zur Wand, an der ein Spaten lehnte. Ich starrte diesen an, einige Minuten lang. Und da entkrampfte sich etwas in mir, und ich griff nach dem Kissenbezuge auf dem Schreibtisch, langte hinein, zerrte Dinge hervor, die ich zu Boden fallen ließ. Zu meinen Füßen lag ein verschmiertes Messer, doch bebender noch sah ich betrübt das Andere, was da noch war. Ein Skalp, blutig, und das graue Haargewirr zeigte in alle Richtungen des Himmels - hierhin, dorthin, und schau, dahin.

ENDE

(geschrieben von Leichnam alias Karsten Breitung, original im Sommer 2002, frei nach Poe´s "Berenice")

 

Ey, hier hat ja in all den Monaten keiner geantwortet!
Das werd ich dann mal im Lauf der Woche nachholen.

r

 

relysium schrieb:
Ey, hier hat ja in all den Monaten keiner geantwortet!
Das werd ich dann mal im Lauf der Woche nachholen.

r


Würde mich wirklich freuen, wirklich!!

RAMONA ist mir doch gelungen, oder? BERENICE von Poe stand Pate, keine Frage. Allerdings: Hatte schon vorher ähnliche Gedanken - sprich: bevor ich Poe´s Story las. Dann las ich BERENICE. Und KLICK: "Verdammt, ähnlich deinen eigenen Gedanken..." Dann schrieb ich seeeehr viel später ne Kuge nach Berenice. Der Grundgedanke liegt bei Edgar Allan, doch ich hatte auch solche Idee... Insofern: Blutsgedanken auch nach dem Tode des Größten? Einige Verwandte und Bekannte belächeln mich wegen dieses Einfalls...

Aber Poe ist Gott für mich!!!

an relysium: Deine Spinnen-Geschichte fand ich wirklich gut! Ehrlich!

 

Ist Berenice nicht die mit dem Typen, der seiner lebendig begrabenen Cousine mit 'ner Zange die Zähne rausbeult, anstatt ihr zu helfen :hmm: ?

 

Das ist jetzt zwar ein wenig jugendlich, wie du dich angesichts dieses Meisterwerkes ausdrückst, jedoch: Das ist BERENICE, stimmt.

Gruß Leichnam

 

Hallo Leichnam, ist natürlich schwer Anmerkungen zu einem so eigenen Stil zu machen, deshalb beschränk ich mich nur auf einige Fetzen:

skolastischer Denkelei & Gelehrsamkeit
Scholastischer

Aug’ (mit dem Rauten-Apostroph)

Ramona und ich waren Cousin und Cousine; wir wuchsen nebeneinander in den elterlichen Hallen auf. Doch welch Gegensätze nur waren es? Ich beständig bei schlechter Gesundheit, schier ohne Aussicht auf Besserung - sie hingegen voller stolzer Lebensfreude, übersprudelnd vor Erlebnislust und Tatendrang.
Wahrscheinlich begehe ich in deinen Augen ein Sakrileg damit, aber: Das sollte der erste Absatz deiner Geschichte sein. Bis hierhin kamen Reflexionen und allgemeine Betrachtungen ohne festen Verankerungspunkt, so eine Art düstere Bauchnabelschau, die ich schon während des Lesens vergessen habe, weil ich noch nicht im Text war.

Milliarden von reißenden Gewalten empor
Myriaden oder Unzahl, würden zu diesem Stil besser passen

als ´Leiden´
Hat Poe so geschrieben? Also normal wäre „Leiden“ –dass du „&“ schreibst, ist übrigens auch sehr ungewohnt.

doch zu sagen brauchte dies nichts zu haben
Also das ließe sich eleganter formulieren.

Hmm, die ganze Geschichte ist natürlich ein Anachronismus. Die Sprache ist sehr dick, aber gut gemacht. Ich habe allerdings bestimmt vier oder fünf Absätze gebraucht, um mich einzulesen.
Das, was die Geschichte, so schwer zugänglich macht, ist allerdings weniger die Sprache als die Struktur. Diese vielen Selbstbetrachtungen und Reflexionen. Das Baden in Apathie und Selbstmitleid – dabei als Leser zuzusehen ist träge und zäh, vor allem weil du ja einen „unzuverlässigen Erzähler“ hast, der die wahren Motive für seinen Schwermut verschleiert und der sich die meiste Zeit über im gegenstandlosen, nicht verortbaren Raum bewegt. Die Gedanken sind zwar metaphorisch, aber von konkreten Bildern losgelöst.
.
Hier wäre meiner Auffassung nach weniger einfach mehr. Ein Absatz Schwermut, ein Absatz die Außenumstände, ein Absatz Schwermut, dann die Begegnung mit Berenice und die finale Szenen – das würde die Geschichte in meinen Augen eindringlicher und kompakter machen, du könntest die Grundgedanken komprimieren, den Erzähler fassbarer und konkreter machen, so ist sie –jedenfalls für mein Empfinden- sehr unzugänglich, wenn sie auch, gerade zum Ende hin, eine morbide Faszination ausstrahlt, auch aufgrund des antiquierten Stils.

Kompakter und zielstrebiger hätte mir die Geschichte wesentlich besser gefallen, aber auch so war sie ein ungewöhnliches Leseerlebnis.

Gruß
Quinn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Quinn!

Ich war über Deine Ausführungen sehr erfreut! Die tiefsten Bemerkungen zu einer Geschichte aus meiner Feder, die es hier bei kuge.de je gab. (sims Extra-Dokument mal außen vor - er weiß, was ich meine. Danke, sim!) Klasse und Thanx, Quinn!!

Träge und zäh sollte sich das alles lesen! Es sollte auf einer künstlerischen Ebene sehr abstrakt und schwer daher kommen, was mir anscheinend gelungen ist. Ich muss allerdings hinzu fügen: Es handelt sich in der Tat - wenn auch überspitzt - um meine urpersönliche Psyche hier. So bin ich drauf, um mal moderne Sprache zu bemühen.

Das mit dem "Rauten-Apostroph" begriff ich nicht. Was ist das? Apostroph ist klar - aber Rauten?

Danke, Quinn!

 

Ach so, ehm, Rauten-Apostroph ist " ' " der eben, der mit der Rauten-Taste auf einer Tastatur gebildet wird. Die `/´ oben auf der Tastatur neben der ß-Taste benutzt man eigentlich nur für Akzente wie in Café usw.
Aber das ist ja wirklich nur Kleinkram.

 

Muss schon sagen: Hier lernt man immer dazu! Nochmals Dank an Quinn!

Benutze ich zukünftig den neben #. Ist das jetzt korrekt? Oh verflixt, habe das schon Jahre so gehandhabt... Aber wenns einem keiner sagt...

Gruß Leichnam

 

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