Hallo @alexei
Ich hatte bisher noch nicht die Ehre, einen Text von Dir zu kommentieren, deshalb will ich mal den Anfang machen und das Eis brechen. Ich schreibe zuerst generell ein paar (sprachliche) Dinge auf, die mir während der Lektüre in den Sinn gekommen sind und danach etwas zu meiner Interpretation.
Ich beiße mir auf die Zunge. Weich.
Es kommt natürlich darauf an, wie fest man auf seine Zunge beisst, aber angenehm ist das ja nicht. Deshalb hat sich das 'Weich' für mich etwas unpassend angefühlt. Vielleicht könnte man es leicht abändern, bspw. zu
Ich lasse die Zähne über die Zunge gleiten, oder
Ich schabe mit den Zähnen über die Zunge, sowas. Aber vielleicht bin das auch nur ich bzw. meine Lesart (denn ich sehe schon, eine Zunge ist durchaus weich).
Das verstehe ich nicht. Wieso denkt die Protagonistin das? Ich kriege es nicht mit dem Zungenbeissen vorher zusammen.
Auf dem Körper meiner Kollegin hatte sich etwas ausgebreitet.
Das 'etwas' klingt sehr unspezifisch. Der Protagonistin ist hier doch (zumindest ansatzweise) bereits klar, um was es sich handelt? Vielleicht hast Du es so geschrieben, um die Spannung hochzuhalten, noch nicht alles zu verraten, aber ich finde, es dürfte hier durchaus spezifischer sein.
Aber im Film konnte man nur mein Gesicht sehen. Ich sah den Kreis, eine klaffende Öffnung, die mit ihrem Sog alles konsumierte. Ich weinte. Sie griff in sich hinein.
Mir ist etwas schleierhaft, was auf dem Überwachungsvideo genau zu sehen ist: Einerseits zeigt es ziemlich deutlich, was mit der Kollegin passiert ist, andererseits kann man nur das Gesicht der Protagonistin erkennen. Wie geht das zusammen bzw. was soll ich als Leser da ganz konkret sehen?
Sie griff in sich hinein. Dann knickte etwas in ihr. Ihr Arm verstellt sich in eine unnatürliche Position.
Der dritte Satz hat eine andere Zeitform, Präsens, das müsste auch Vergangenheit sein, oder?
Dann fällt innerhalb von Sekunden ihr Körper in sich und verschwindet.
'innerhalb Sekunden fällt ihr Körper in sich' => da fehlt etwas für mich. Vielleicht 'fällt in sich zusammen' oder so ähnlich?
Die Polizisten spulten das Video zurück. Ich weinte. Dann spulten sie zurück. Es knackte.
Das ist doppeltgemoppelt und hat mich rausgehauen. Vor allem wegen dem 'Dann', wieso 'Dann'? Die spulen das Video ja bereits zurück. Oder spulen die weiter zurück? Dann müsste das aber auch so geschildert werden.
„Wir werden das abklären“, sagte ein Mann langsam, „Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus.“
Was für ein Mann? Ein Polizist, oder? Und wieso sagt er das
langsam? Das tut nix zur Sache, finde ich. Also mein Vorschlag:
"Wir werden das abklären", sagte ein Polizist. "Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus." So fände ich das runder.
Meine Klamotten liegen auf dem Stuhl. Unordentlich wie immer. Ich ziehe die Schuhe aus und betrete meine Wohnung. Als wäre nichts passiert.
Hier würde ich an der Reihenfolge schrauben: Beim ersten Satz war ich schon mit ihr in der Wohnung. Sie betritt sie aber erst zwei Sätze später. Das hat mich etwas verwirrt, von der Blickführung her, meine ich. Also vielleicht:
Ich ziehe die Schuhe aus und betrete meine Wohnung. Meine Klamotten liegen auf dem Stuhl. Unordentlich wie immer. Als wäre nichts passiert.
Die Augenbrauen sind zu behaart, das Kinn ist zu hart.
Hier stolpere ich etwas bei 'das Kinn ist zu hart'. Berührt sie ihr Kinn? Oder stehen eher die Kieferknochen zu deutlich ab, geben der unteren Gesichtspartie zu harte Züge? Ich denke, es ist eher letzteres gemeint, aber dann müsste es auch entsprechend formuliert werden.
Aber ich kann mich daran erinnern - wie sich meine Haut anspannte, bis ich es nicht mehr aushalten konnte.
Anspannung beziehe ich eher auf einen innerlichen Vorgang, also die Gefühle betreffend, die Haut kann davon ja nicht betroffen sein, denke ich, deshalb fände ich die Formulierung 'wie sich meine Haut spannte' besser.
Aber im Überwachungsvideo war nichts. Gar nichts war passiert.
Mmmh, wieder das Überwachungsvideo. Also ist das hier so gemeint, dass mit ihr, der Protagonistin, nichts passiert ist? Mit ihrem Gesicht?
Ich greife die Packung Fertignudeln. Ich öffne meinen Laptop.
Zweimal derselbe Satzbeginn. Man kann das machen, aber in einem solch kurzen Text ist es mir dennoch eher negativ aufgefallen.
In der unteren rechten Ecke werden keine Pixel mehr abgebildet. Die Artefakte stören vor allem, wenn ich meine Schulter schmaler bearbeiten möchte.
Bezieht sich darauf der Titel? Randartefakt? Man könnte es zumindest so in Verbindung bringen (ich schreibe später noch etwas mehr dazu). Der Titel klingt jedenfalls technisch / nach etwas Digitalem.
„Hey Mamma der erste Tag lief gut. Alle sind nett aber bin erschöpft. Ruf morgen an“
Am Ende fehlt ein Punkt. Da dies jedoch WhatsApp-Sprech ist, könnte es auch extra so gewollt sein.
Der Kreis ist in meinem Mund.
Ach, derselbe Kreis, der ihre Kollegin verschlungen hat?
Ist das Blut? Ich hebe den Teller vor meine Nasenhöhle. Der Duft verfliegt sofort. Schnuppere weiter.
Wieso eine olfaktorische und nicht erstmal eine optische Kontrolle? Verstehe ich nicht recht.
Der Duft verfliegt sofort. Schnuppere weiter. Mein Magen zieht sich zusammen. Es riecht feucht und dumpf. Aber der Duft zieht sofort weg. Als würde es sich verstecken.
Hier möchte ich mehrere Sachen anmerken: Also 1.) ist der durchgestrichene Satz eine Wiederholung des ersten Satzes. Wieso? Dann 2.) auf was bezieht sich das 'es' im letzten Satz? Es liest sich so, als würde es sich auf den Duft beziehen, dann müsste da aber 'der Duft', also 'er', stehen. So zumindest meine initiale Lesart. Aber eigentlich ist mit 'es' das Loch gemeint, oder? Wie dem auch sei, ich strauchelte jedenfalls. 3.) 'dumpf' verorte ich eher klanglich, also bspw. ein dumpfes Poltern, in Bezug mit Gerüchen habe ich das noch nie gehört oder gelesen. Was ist ein dumpfer Geruch, frage ich mich folglich. Generell: Der Auswurf liest sich eher als etwas unangenehmes, grausiges, wieso also so ein geschwungenes Wort wie 'Duft'? Ist das nicht eher ein Gestank?
Das Loch wehrt sich. Es greift an meiner Zahnwurzel
Verstehe ich auch nicht. Das Loch greift an ihrer Zahnwurzel? Liest sich unvollständig.
Das Loch greift meine Zahnwurzeln an, ja, sowas könnte ich kaufen, auch wenn es dennoch reichlich abgedreht und seltsam klingt.
Die klaffende Öffnung lässt mich aus meiner Haut herausfahren.
Achtung, klischeehafte Formulierung: 'Aus der Haut fahren'.
Dies soweit meine textlichen/sprachlichen Anmerkungen, ich hoffe, Du kannst das ein oder andere davon gebrauchen. Nun also zur Interpretation. Da sehe ich zwei Möglichkeiten:
1.) Bodyhorror/Übernatürliches: Die Geschichte benutzt Motive des Bodyhorrors. Das "Loch" wird von der Protagonistin als körperlich real empfunden, ist jedoch für sie (und den Leser, zumindest für mich) nicht rational erklärbar. Es ist sozusagen invasiv und verändert ihre Wahrnehmung, das Selbstbild, löst die Körpergrenzen der Protagonistin auf. Die Erzählerin erlebt also eine Art Entfremdung von ihrem eigenen körperlichen Dasein. Das Zurückspulen ist ein wiederkehrendes Element, jemand oder "etwas" (konkretisieren fände ich wünschenswert) spult alles zurück wie eine Aufnahme. Die Realität der Erzählerin ist von Medien wie Kamera, Handy, und Video geprägt. Ihr Selbstbild entsteht durch diese Medien, die Selbstbeobachtung findet rein darüber statt. Hat die Protagonistin vielleicht ein Praktikum bei einer Videoagentur gemacht, oder vielleicht in einem Fotografie-Studio? Damit wäre ich auch wieder beim Stichwort 'Randartefakt': Sind diese Artefakte, die ja in der digitalen Bildbearbeitung auftreten können, vielleicht so gemeint, dass sie das eigentliche "Loch" repräsentieren, also das quasi die Artefakte auf den Fotos die Realität der Protagonistin einnehmen und diese an den Rändern aufzulösen beginnen, sie immer mehr vereinnahmen? Auch ihr eigener Körper nimmt sie für meine Lesart wie ein digital manipuliertes Bild wahr, gegen Ende folgt dann die vollkommene Dissoziation, vor allem auch weil sich da die Perspektive ändert. Sie nimmt nur noch von aussen Teil, beobachtet sich selbst. Existiert sie nur noch als digitales Abbild auf Film?
2.) Psychologische Lesart: Ich finde, man kann den Text auch als eine Art psychischen Zusammenbruch lesen. D.h. die Protagonistin erlebt einen traumatischen Moment, ihre Kollegin stirbt oder verschwindet, und ihr geschockter Verstand verarbeitet dies durch Wahrnehmungsstörungen oder eben Dissoziation. Der Hohlraum, bzw. das sich ausbreitende Loch, könnte so gelesen werden, als sei es eine Projektion ihres Schocks und Identitätsverlustes, bzw. das sie eben von den Umständen aufgefressen, in ihrem rationalen Denken zurückgedrängt wird. Das Zurückspulen steht allenfalls für Flashbacks / Intrusion durch traumatische Erinnerung. Das finale Zangenbild könnte vielleicht selbstverletzendes Verhalten darstellen. Ich bin mir aber nicht recht sicher, ob das so wirklich zieht (auch weil ich kein Psychologe bin
), weshalb ich eher zur ersten Leseweise tendiere.
Also, abschliessend: Ich denke, man kann da schon einiges reininterpretieren, hat mir auch Spass gemacht, aber so ganz zufriedenstellend fand ich den Text schlussendlich nicht. Gerne hätte ich den ein oder anderen Hinweis mehr gehabt, was denn nun tatsächlich mit der Protagonistin passiert (oder allenfalls auch, was mit ihrer Kollegin passiert ist). Sprachlich holperte es zudem für mich an mehreren Stellen, was mich beim Lesen teilweise etwas ausgebremst hat. Gerade was diesen Aspekt anbetrifft, würde ich mir den Text noch einmal zur Brust nehmen, den versuchen glattzustreichen.
Beste Grüsse,
d-m