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Rapunzel
Zum ersten Male sah ich sie vor etwa einer Woche. Es war in der rotgoldenen Dämmerstunde und ich stand am Fenster meines Gemaches. Weit ließ ich meine Blicke schweifen über die düsteren Wipfel des endlosen Waldes auf dem Lande meines Vaters, des Königs.
Wie schon an so vielen Tagen seit den Jahren meiner frühen Kindheit blieb mein Blick letztlich hängen an jenem Punkte am fernen Horizont, wo sich der dunkle Turm erhebt. Jener schwarze Turm, der in der weiten Ferne so winzig und verloren wirkt – und dennoch seinen Zauber hat. Wie eine Nadel stakt er da, ein Dorn zugleich im Fleische der Erde wie in dem des Himmels. Wie eine verbotene Brücke zwischen beiden.
Schon immer stand er da, verlassen, stumm und tot. Doch diesmal, das spürte ich gleich, war etwas anders, als es bisher gewesen. Zunächst vermochte ich nicht zu erraten, was dieses Etwas war, so sehr ich mich auch mühte, es in der Ferne zu erspähen.
Endlich glaubte ich, es zu erkennen: Ich vermeinte, in jenem großen Fenster des einzigen Zimmers des Turmes, eine Bewegung zu erkennen – nur leicht und undeutlich. Doch reichte diese noch unsichere Beobachtung, in mir die heftigste Befremdung zu erwecken – und eine seltsam gespannte Erwartung.
Da geschah mir gar Sonderbares: Mein Schauen ward mir wie heraus genommen aus dem Körper. Einem Adler gleich flogen meine Blicke über den Wald dahin, beinah bis an den Horizont – bis zu jenem Turme, den ich nun aus der Nähe sah. Und sie in jenem Fenster.
Als ich sie da stehen sah, ich meinte, alle Lebensgeister müssten mir entweichen: Groß stand sie da und aufrecht, wohlgeformt und wunderbar – ein mir fremdes Mädchen, allein in dem Turme. Ihr dunkles Haar, lang bis zu den Hüften, umwallte und umschwebte sie, wie eine Aura des Schönen an sich. Ihre Züge waren wie hingemalt mit aller feinster Feder von des Himmelsherren Hand höchst selbst. Und dann erst ihre Augen! Dunkel waren sie und tief – tief und herrlich wie das Meer – und doch von hellem Glanze. Lustigkeit und Liebreiz schimmerten tausendfach hervor, aus diesen schönen Augen, die – das war das Wunderbare! – geradewegs auf mich gerichtet waren. Die Schöne in der Ferne: Sie sah zu mir herüber!
Da ward mir schwindelig zumute und trotz aller Entzückung, war ich zutiefst erschrocken. Von jäher Scheu – war es gar Furcht? – ergriffen, riss ich die Blicke los, was gerade so gelang und fand mich wieder in meinem Gemache. Das Herz ging mir heftig, der Atem schnell.
Doch wollte ich Gewissheit. Bang lenkte ich meine Blicke wiederum hinüber zum Turme – und richtig: dort sah ich sie. Wieder, trotz der riesenhaften Entfernung, mit unnatürlicher Schärfe, als stünde sie vor mir. Diesmal saß sie auf einem Schemel und kämmte ihr langes Haar – und wieder schaute sie mich an, mit jenem verzehrenden Reize.
Nun aber verließ mich aller Mut. Zutiefst erschrocken über die Hexerei riss ich mich erneut los und zog, mit zitternden Händen, die Vorhänge vor das Fenster. Mit aller Ruhe war es von Stund an vorüber!
Der Spuk, er wollte nicht weichen – wurde nur noch ärger! Sah ich zum Fenster hinaus, so sah ich sie: Wie sie auf dem Schemel saß, ihr langes Haar kämmte und mich mit ihren Blicken marterte.
Ich versuchte, der Erscheinung zu fliehen: Lange Stunden verbrachte ich auf Ausritten durch die Wälder, andere beim Schachspiel, dann versuchte ich zu lesen – doch es war alles vergeblich. Auf keine Sache vermochte ich mich zu konzentrieren, der Griff der Schönen um meinen Geist wurde nur noch fester. Bald war es so weit, dass ich ihre Augen leuchten sah, wenn ich nur die meinen schloss, dass sie mich bis in meine Träume verfolgte. Sie gönnte mir keine Ruhe – ich war ihr verfallen.
Da beschloss ich, als er mich dieser Tage nach meiner Zerstreutheit fragte, meinem besten Freunde die Geschichte zu erzählen. Ich berichtete ausführlich und in allen Einzelheiten. In meiner Verzweiflung erzählte ich ihm auch von dem heftigen Verlangen, das die wunderschöne Dämonin in mir weckte.
Bis dahin hatte er meinen Ausführungen mit dem ihm eigenen Ernst und ohne ein Zeichen des Unglaubens stillschweigend gelauscht, bei dieser letzten Enthüllung aber, fuhr er in Entsetzen hoch: „Was redest du! Bedenke dich! In zwei Wochen bereits soll deine Hochzeit sein, mit des Kaisers Tochter und du gerätst ins Schwärmen, ob solch einer Fantasterei!“
Die Schamesröte stieg mir ins Gesicht und kleinlaut gab ich ihm zurück, wie recht er doch wahrscheinlich habe und dass ich töricht gewesen sei.
In meinem Herzen jedoch blieben die Dinge wie sie gewesen und wie ich sie berichtet.
Es wurde nur immer schlimmer: Selbst am Tage, fern von meinem Gemach, ereilten mich nun die Traumvisionen. Die Welt um mich fiel wie ein leichtes Requisit vor einem Windstoß, alles sank zurück und wurde schwarz – dann sah ich sie: Zuerst ihre Augen, in denen alle Herrlichkeit der Welt ihren Widerschein fand, dann die ganze wohlgeformte Gestalt auf dem hölzernen Schemel.
Und jedes Mal, wenn sie mir so erschien, war ihr Haar um ein Beträchtliches gewachsen. Dies setzte sich fort bis zum Unnatürlichen: Schon lag es auf dem Boden der Turmkammer und wurde noch immer mehr und immer länger.
Als ich es gar nicht mehr ertrug, beschloss ich mir Rat zu holen bei jener wunderlichen Alten, die mein Vater am Hofe hält, damit sie ihm die Sterne deutet und die einiges versteht von ungeheuren Zauberdingen.
Ich fand sie in der engen düstren Kammer, die sie nahe den Zimmern der Dienstboten behaust. Sie bat mich alsdann ihr gegenüber an ihrem kleinen Tische Platz zu nehmen und lauschte geduldig meinem Bericht. Während ich so erzählte, wandelte sich der Ausdruck in ihrem runzligen Gesicht: War es zuerst noch von leichtem Unglauben, dann von Verwunderung gezeichnet, so war es, als ich geendet hatte, zu meinem Missbehagen, erfüllt von tiefer nachdenklicher Sorge.
„Ja“, sagte sie dann gedehnt, nach einigem Zögern, „ich glaube, zu wissen, wer die Schöne ist, die Euch so foltert.“ Darauf schwieg sie wieder. Ihre Augen wurden trüb und undurchsichtig, als dämmerten hinter ihnen die verhüllenden Nebel vergangener Zeiten herauf. Gerade wollte ich sie drängen fortzufahren, da tat sie eben dies: „Ihr Name ist Rapunzel und ihre Geschichte ist bereits alt. Viel ist es nicht, was man über sie weiß und oftmals widersprechen sich die Legenden.
Gewiss ist jedoch, dass Rapunzel an jenes Turmzimmer gebunden ist. Dass sie dort fest gebannt ist und mit Magie gefesselt. Wer ihr dies angetan, das weiß ich nicht zu sagen. Nur, dass die Verwunschene seit geraumer Zeit schon, immer wieder einmal gesehen wurde, von Jünglingen adligen Blutes. Diese berichteten Ähnliches wie Ihr. Allerdings – und das ist das Sonderbare! – ließ die Erscheinung stets nach wenigen Tagen wieder von ihnen ab.
Dass sie Euch nun so lange plagt, mag an Eurer königlichen Abkunft liegen oder…“
„Mir ist es gleich, woran es liegt!“, fuhr ich erregt dazwischen. „Dies Weibsbild raubt mir den Verstand! Wenn der Fluch nicht bald von mir fällt, weiß ich nicht länger, was ich tu!“
Die Alte wog bedächtig den Kopf hin und her. „Ich kann Euch nichts weiter raten als geduldig abzuwarten. Mit Gottes Hilfe kommt die Heilung von allein.“
Heilung! Wie schlecht die Alte doch meine Lage verstand – wie wenig sie von meinem Seelenschmerze ahnte, der sich mehr und mehr zur Besessenheit hin wandelt.
Nein, Heilung ist ausgeschlossen, alle Hilfe vergeblich. Mein Schicksal treibt mich der schrecklichen Schönen zu mit eben jener Unausweichlichkeit, mit der ein runder Stein einen Hügel hinab rollt, mit der der Regen vom Himmel fällt. Das Leben wird mir ganz unmöglich, immerzu drängt sie in mein Blickfeld, drängt sie in meine Gedanken.
In dieser Nacht muss es gewagt sein: Ich werde meinen Weg durch den Wald suchen, hin zu Rapunzels Turme.
Es ist finster ringsum, doch in mir brennt es lichterloh. Das Schloss habe ich unbemerkt verlassen, den Wald erreicht – sein dichtes Laubwerk verwehrt mir den Blick auf die Sterne, beraubt mich um des Mondes Schein.
Doch solche Sorgen sind nun ferne, nur eines beherrscht noch mein Denken: Den Turm zu finden und meine Rapunzel.
Schnell tragen mich meine Füße – weiter und weiter ins Dunkel, fast ohne mein Zutun. Als sei mein Weg mir vorgegeben, in mir angelegt und festgeschrieben.
Kaum mehr achte ich des Weges und doch finde ich ihn – ihr Bild nur steht mir vor Augen, sonst ist alles versunken in ungewisser Schwärze.
Kein Pfad ist hier, kein Durchgang. Ich zwänge mich zwischen dicken Stämmen hindurch, erkämpfe mir meinen Weg durch Buschwerk. Ich falle und ich krieche, ich komme wieder hoch – und bemerke es doch kaum. Alle meine Nerven brennen, meine Sehnen meine Muskeln sind gespannt, alles auf das Ziel gerichtet.
Da! Endlich lichtet sich der Wald, wird zum offenen Platz. Silbriges Mondlicht fällt verheißungsvoll vom Himmel herab – da steht der Turm! Steinernes Monument des Schicksals, einziger Fixstern in meinen chaotischen Kosmos! Ein düsteres Versprechen.
Wie im Traume taumle ich auf den Turm zu – sind’s Dornensträucher, die mir da ins Fleische schneiden? Blut, das mir die Arme hinunter rinnt? – es ist einerlei! Nur immer voran und – da, oben sehe ich sie stehen! Hoch dort oben – ihre Augen, die schönsten Sterne, ihr Haar gleich dunklen Engelsschwingen.
Wieder stolpere ich, doch dann steh ich davor, meine Hand trifft den kalten Stein des Turmverlieses.
Und eh ich noch selbst weiß, was ich tu, drängen die gerufenen Worte über meine Zunge: „Rapunzel, Rapunzel! Lass dein Haar herunter!“
Sehnend blicke ich hinauf, da fällt es mir schon entgegen, der weiche Himmelsstoff. Ich könnte nun nicht länger zögern, selbst wenn ich’s wollte – der Zauber dieser Nacht entfaltet sich vollends. Meine Hände umfassen das dunkle Haar, mit meinen Füßen stemme ich mich gegen die Mauer und klettere empor. Zug um Zug hinauf.
Höher und höher in blinder Eile – schon umpfeifen mich die eisigen Nachtwinde, rütteln an mir, werfen mich hin und her – da bricht ein Stein unter meinem Fuße aus der Mauer. Gerade so kann ich mich noch halten.
Die Kräfte schwinden mir, doch bald ist es erreicht. Schon ist sie nah, die lockende Schöne. Trotz Ermüdung und Strapazen, noch einmal wird’s mir leicht ums Herz und die Gewissheit – da fährt mir der Schrecken einem Pfeil gleich in die Brust: Ist das, was dort in ihrer Hand hell funkelt, im Widerschimmer des Mondes…? Nein, ganz ausgeschlossen!
Da – jetzt hält sie ihn empor, den feinen Gegenstand… Und ich erkenne ihn! Sie wird doch nicht… !
Doch das unbarmherzige Lächeln der Sirene belehrt mich eines Besseren. Nun erst begreife ich vollends, welch böser Wahn mich in seinen Klauen hält: Denn noch als sie mit der kleinen Silberschere ihr Haar und meinen Lebensfaden mit einem Schnitt durchtrennt, da denke ich, wie schön sie ist.
Ich stürze in die Tiefe und jetzt erst sehe ich sie dort liegen: Die zerschmetterten Leiber derer, die Rapunzel vor mir rief.