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Rasenmäher
Wir sitzen von Insektengezirpe umgeben am Gartentisch. Über unseren Köpfen spannt sich ein wolkenloses Cyanblau; in dessen Zentrum die Sonne hängt, welche mittags noch gleißend und erbarmungslos strahlte - langsam neigt sie sich jedoch ihrem Untergang zu; die Luft wird kühler und die Atmosphäre erträglich, wobei sich auf der vor Sonnenbrand geröteten Halbglatze meines Vaters die Haut zu pellen beginnt. Er sitzt mir schräg gegenüber. Mutter hingegen sitzt an der länglichen Seite des Tisches, hat wie immer ihren Ellebogen an der Kante aufgestützt, ehe Vater befiehlt: "Bring dich in anständige Pose, Madame!" Er befiehlt mit Ruhe und Gleichmut in der Stimme, meine Mutter gehorcht sofort.
Ich habe mir eine Bratwurst als Alibi auf den Teller gelegt, werde sie jedoch nicht essen. Bratwürste machen dick. Anstatt einer Bratwurst könnte man wahrscheinlich zwei Schnitzel essen. Warum habe ich mir kein Schnitzel auf den Teller gelegt? Momentan wiege ich 64 Kilo bei einer Größe von 187 cm. Das sind 7 Kilo Untergewicht.
Manche behaupten, man sehe mir das Untergewicht an, man sehe die mangelnde Durchblutung und die vor Kälte blau angelaufenen Fingerspitzen. Kohlenhydrate, Vitamine, wann habe ich das letzte Mal Nudeln oder Kartoffeln gegessen? Sicherlich, mein Magen hat sich an das Hungern gewöhnt. Irgendwann ist es nicht mehr schlimm. Nur im Winter friere ich, weil die Durchblutung nicht mehr funktioniert, Pickel kriege ich kaum noch, ohne Schokolade. Außerdem wird automatisch Geld gespart.
Da fällt mir ein: Innerhalb der nächsten zwei Wochen muss das Geld für die Kursfahrt überwiesen werden. Mein Lehrer hat mir das noch einmal mit Nachdruck mitgeteilt, denn jeder andere Schüler hatte schon nach kürzester Zeit überwiesen. Ich habe natürlich bis zum Ende der Frist Zeit, solle es jedoch besser nicht darauf ankommen lassen, hatte mein Lehrer betont.
Ich steche die Gabel in die Bratwurst, ziehe sie durch den Senf, lass sie am Tellerrand liegen.
"Vater?", frage ich.
"Mhh?" Er würdigt mich keines Blickes, er sieht sein Rumpsteak, blutig, heiß und dampfend. Jedes Mal, wenn ich meinen Vater sehe, muss ich an eines dieser Porträts von Goethe denken. Die Ähnlichkeit ist verblüffend. Meine Mutter könnte man vielleicht mit Virginia Woolf vergleichen, aber sie ist ansonsten kein bißchen wie Woolf. Sie gibt sich resignierend ihrer Rolle als Hausfrau hin, kocht, putzt und massiert meinem Vater die versteiften Schultern, wenn er will.
"Wir müssen das Geld für die Kursfahrt überweisen!", sage ich.
Er kaut auf einem Stück Fleisch.
"Wir?"
Abhängigkeiten werden bloßgelegt, ich fühle mich wie eine verirrte Gazelle, die vom Löwen in eine Höhle getrieben bloß noch auf dessen Gnade hoffen kann.
"... nein, ich meine du. Du müsstest das Geld überweisen!", korrigiere ich mich.
"Genau..."
"Könntest du es denn überweisen? In den nächsten zwei Wochen?"
"Bitten, Elias. Bitte mich darum!"
"Bitte, Vater! Könntest du mir bitte den Gefallen tun und das Geld überweisen? Könntest du das, ja?"
Das Prinzip seiner Erziehung wirkt auf den ersten Blick archaisch, stellt sich jedoch bei näherer Erfahrung damit als klug und effizient heraus. Ich bezeichne das Prinzip als gnadenlose Kette der Kausalitäten und habe schon oft überlegt, ob ich mich mit gnadenlos nicht für einen zu drastischen Begriff entschied. Aber sie ist nun einmal gnadenlos, gnadenlos und genial. Sie funktioniert folgendermaßen: Mein Vater sorgt für die Bloßstellung, mit Winzigkeiten, mit kleinen Gesten oder Mimiken, indem er ignoriert und gleichmütig zu sein scheint, indem er die Abhängigkeiten, seine Stärke und meine Schwäche aufzeigt. Daraus folgt dann Scham - mein Gesicht wird manchmal sogar ganz rot, und ich zittere, die Gedanken kreisen dann chaotisch umher, ich will mich wie ein Maulwurf verkriechen, noch tiefer sogar als Maulwürfe, wünschte gar nicht zu existieren. Zuletzt folgt unaufhaltsam Reflexion. Sie ist das Ziel, oder? Manchmal schwanke ich in meiner Sicherheit, schwanke in meiner Überzeugung, das Vater - trotz aller Härte - noch ein guter Mensch ist und mich bloß auf meinen weiteren Lebensweg vorbereiten möchte. Vielleicht ist tatsächlich nicht die Reflexion das Ziel, sondern der Weg dahin!
"Wohin soll es noch mal gehen?", fragt er, sich den Mund mit einer Serviette abtupfend.
"Frankreich!"
"Paris?"
Ich nicke, versuchend seine Gedankengänge zu erkennen, was dem unsinnigen Versuch ähnelt, auf den Grund eines dreckigen Tümpels blicken zu wollen. Er schweigt gnadenlos, er isst ohne Regung der Miene; bloß ständig auf dem Fleisch kauend. Was willst du Vater, frage ich in meiner Vorstellung, siehst du denn nicht die Qualen, die du mir bereitest? Siehst du nicht das Elende und Zerfallene an mir? Behandle mich wie einen Stein, aber gib mir nicht das Gefühl an deiner Starre schuld zu sein! Sieh mir in die Augen, brülle ich in meiner Imagination, während ich in Wahrheit genau so still bin wie er. Jeden erdenklichen Mut in mir kratze ich zusammen und verwende ihn.
"Wirst du überweisen, bitte?"
Er legt Gabel und Messer beiseite, putzt sich erneut die Mundwinkel mit der Serviette. Aber er sieht mich nicht an.
"Nein!"
Meine Mutter verschwindet mit dem Geschirr, das nicht mehr benutzt wird. Vater isst, erhebt sich dann und schaut, die Hände gegen seine Hüften gestemmt, zur untergehenden Sonne empor. Er hat mir den Rücken zugewandt. Ich folge mit den Augen seinen Konturen, betrachte den Aufbau der Knochen, der vollkommen durchdacht und perfekt zu sein scheint. Ich erhebe mich.
Einige Meter entfernt vom Tisch liegt eine Schaufel.
Ich schnappe sie mir, umfasse sie.
Mein Vater bemerkt mich nicht.
Muskeln straffen sich, Adern werden sichtbar. In mir widersprechen sich Empfindungen und bringen ihren Konflikt nun endgültig zu Ende. Die Erregung gewinnt. Die Erregung über das unbekannte und schier einzigartige Gefühl der Macht; das Leben des eigenen Vaters in der Hand zu haben. Ich vergleiche mich mit dem Henker, der den Sträfling auf das Schaffott trägt, um letztlich die Entscheidung zu treffen: Soll das Fallbeil ihn niederstrecken oder nicht? Mich durchströmt die Beglückung, endlich die Rollen getauscht zu haben.
Ich trete hinter ihn und bringe mich in Stellung. Langsam erhebe ich die Schaufel, lächle vor Hinterlist und schlage mit aller Kraft zu. Ein blechernes Geräusch gefolgt von einem jähen kurzweiligen Aufstöhnen ertönt, ehe bloß wieder die Insekten zirpen. Aus der Wunde am Hinterkopf quillt Blut, aber nur langsam und wenig, sodass ich Angst bekomme, er könne wieder erwachen. Mit einiger Kraft schleppe ich ihn in einen Verschlag aus Blech, in dem Rasenmäher und Werkzeuge aufbewahrt werden. Danach hole ich die Schaufel und fange an zu graben. Die Tür ist verriegelt. Niemand soll mich finden, Mutter wird sich ihre Gedanken machen, aber sie wird sich selbst einreden, das es eine ganz natürliche Erklärung gibt. Vielleicht, wird sie denken, wollen sie das Leid ihrer Seelen endlich austauschen. Das ist auch mal dringend nötig, wird sie denken.
Ein längliches Loch von zwei Metern Tiefe entsteht. Ich schiebe meinen Vater hinein und er prallt mit einem dumpfen Geräusch auf. Kurzzeitig werde ich das Gefühl nicht los, eine Bewegung seines Scherenschnittes zu erkennen; da scheint der kleine Finger aufzuzucken, als Ankündigung des Wiedererwachsens. Sogar die Lider klappen scheinbar auf, sogar der Kopf hebt sich um ein, zwei Centimeter. Gedanken schwirren aus ihren Nestern. Ich bedecke seinen korpulenten Körper mit Erde, bis nicht ein winziger Teil davon noch zu sehen ist, pfeife Land of Hope and Glory. "Lenk dich ab. Denke an die Freiheit. Denke niemals an das Ende, sondern immer an den erneuten Anfang der mit dem Ende eingeleitet wird.", rede ich mir selbst ein.
Eigentlich will ich in Tränen ausbrechen, aber ich wische mir einfach den Schweiß von der Stirn. Es ist nichts geschehen. Es ist wirklich nichts geschehen. Ich stelle mir vor, wie er da unter der Erde ausgestreckt liegt und versucht zu atmen. Dabei beißt mich kein Gefühl der Reue. Goethe verreckt. Ich bin so ruhig, als hätte ich gerade den Rasen gemäht. Ja, Rasen mähen. Den Rasenmäher vor mir herschiebend trete ich auf den Garten hinaus, mähe und erkläre meiner Mutter, als sie - blass vor Sorge, aufgewühlt fragend, wo wir denn gewesen seien, das nichts, absolut nichts geschehen wäre. Ich küsse sie sogar und erkläre:
"Er wollte wieder einmal in die Stadt. Wahrscheinlich geht er trinken und kommt erst gegen zwölf wieder. Ich soll den Rasen mähen."