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Rat mal, wer zum Essen kommt
»Blut?« Tante Sarah verzog den Mundwinkel und ihre Augen hinter dem Kneifer wurden eine Spur schmäler.
»Ja, Blut«, wiederholte Caro ungeduldig, »aber das bekommen wir auch noch weg. Ohnehin nur Tierblut. Er macht schon viele Fortschritte«, fuhr sie mit stolzer Stimme fort. »Gestern trafen wir uns eine halbe Stunde vor Dämmerung. Und er ist bis nach Sonnenaufgang bei mir geblieben.« Sie unterdrückte ein Gähnen.
»Dass du die Nächte immer noch durchmachst«, schimpfte Tante Ruth. Ihre Stricknadeln klapperten, wie um die Worte zu unterstreichen. »Das bringt Falten und Ringe unter den Augen.« Sie warf ihrer Nichte einen scharfen Blick zu. »Wirklich, du könntest viel mehr aus dir machen. Glaub ja nicht, dass dein Verehrer auf so etwas nicht mehr achtet.«
Beinah hätte Caro entgegnet, dass er blasse Haut sowieso viel attraktiver fand, aber sie hielt sich zurück.
»Das ist doch jetzt egal«, mischte sich Tante Luise ein, die gerade mit einem Tablett aus der Küche kam und es auf den Tisch stellte. »Es geht hier nicht um Carolina, sondern um den jungen Mann.« Sie stutzte. »Nein, warte - wie alt war er doch gleich?«
»Zweihundertsiebenundneunzig«, sagte Caro. »Aber er sieht bedeutend jünger aus.«
Sie kicherte. Für ein paar Sekunden war es still im Wohnzimmer.
»Altersunterschiede hab ich nie gutgeheißen«, murmelte dann Tante Sarah. Tante Luise seufzte.
»Ich möchte ihn kennen lernen«, sagte sie. »Dann sehen wir weiter.«
»Das wirst du bald«, beruhigte Caro sie. Die junge Frau strich ein paar widerspenstige Strähnen glatt, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten. Nur die Ruhe. Zuerst hatten sie immer an allem etwas auszusetzen. Aber wenn sie Richard erst einmal kennen gelernt hatten, würden sie ihn doch wohl ins Herz schließen.
»Carolina, Kind«, sagte Tante Luise mit leiser Stimme. »Du glaubst vielleicht, wir würden ihn dir ausreden wollen. Das ist nicht wahr. Wir wollen nur das Beste für dich.« Sie griff nach einem Plätzchen und drehte es zwischen den knotigen Fingern. »Wir sind nicht mehr die Jüngsten und wir möchten ... wir möchten dich in guten Händen wissen.« Sie lächelte hilflos.
»Weiß ich doch, Tantchen«, sagte Caro. Sie atmete tief durch.
»Blut«, kam es düster aus der Ecke von Tante Sarah. »Kann ich nicht verstehen. Wirklich nicht. Niemand in unserer Familie ...« Sie ließ den Satz unbeendet.
»Heißt das, ich habe ganz umsonst gebacken?«, fragte Tante Luise. Ihre Stimme hatte einen leicht gekränkten Unterton.
»Kekse für so einen!« Tante Ruth lachte meckernd. »Das kann auch nur Luise einfallen ...« Kopfschüttelnd beugte sie sich über ihre Strickarbeit.
Caro presste kurz die Lippen aufeinander.
»Das ist wirklich sehr lieb von dir, Tante Luise. Bestimmt ist Richard bald so weit, dass er deine Plätzchen essen kann. Wir sind da sehr optimistisch.«
Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Richard zu jeder Tageszeit nach draußen gehen konnte. Auch wenn sie erst am Anfang standen. Er hatte sie um Geduld gebeten und Caro hatte ihm sofort versichert, dass sie ihm alle Zeit der Welt geben würde. Es war so romantisch, dass er sich ihrzuliebe an die Sonne gewöhnte. Da war es nur fair, dass sie akzeptierte, dass er noch eine Weile von Blut leben musste. Man kann sich einfach nicht von heute auf morgen ändern. Caro war stolz darauf, toleranter zu sein als ihre Tanten. Nun, Tante Luise meinte es im Grunde gut. Aber sie ließ sich viel zu leicht von ihren Schwestern einschüchtern. Mit finsterer Miene starrte Caro auf Tante Sarah und Tante Ruth. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen - es würde einiges an Überzeugungsarbeit brauchen, ehe sie Richard als Verlobten annehmen würden. Caro war ihnen sehr wohl dankbar, dass sie sie aufgezogen hatten. Doch in den letzten Jahren war es immer schwieriger geworden, mit Ruth und Sarah auszukommen. Sie hatte Richard schon ein wenig vorgewarnt und er hatte Verständnis gezeigt. Er sagte, er sei schon froh, wenn sie ihr nicht den Umgang mit ihm verboten. Caro war da nicht so bescheiden.
»Wie oft habt ihr euch denn überhaupt schon getroffen?«, fragte Tante Ruth. Natürlich gefiel ihr die Antwort nicht. Das war doch viel zu selten, um sich ein Urteil zu bilden! Und immer nur nachts? Kein Wunder, dass Caros Leistungen in der Universität nachgelassen hatten. Tante Sarah erwähnte, dass sich niemand in der Familie jemals nächtelang herumgetrieben habe.
»Viele junge Leute gehen abends aus«, sagte Tante Luise zaghaft.
»Aber sie streunen nicht bis zum Morgengrauen herum«, fuhr ihr Tante Ruth über den Mund. Tante Luise schwieg. Das Klappern der Stricknadeln füllte wieder den Raum.
Caro schob ihre Unterlippe vor. Nein, es war wirklich nicht einfach.
»Und wann stellst du uns deinen Freund vor?«, fragte Tante Luise freundlich. Caro riss sich zusammen.
»Morgen Abend, wenn euch das recht ist.«
»Soll ruhig kommen«, sagte Tante Sarah, »Schnittchen müssen wir ja wohl keine auftischen.« Tante Ruth kicherte.
Caro schüttelte stumm den Kopf, aber niemand beachtete sie. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie Tante Ruth und Tante Sarah Richard morgen empfangen würden. Sie dachte an seine blasse Haut, das beinah bläuliche Weiß, das ihm gut stand, das den Tanten aber ganz sicher nicht gefallen würde. Schwarze Kleidung konnte Tante Ruth sowieso nicht leiden. »Trägt man schon oft genug auf Beerdigungen«, pflegte sie zu sagen. Tante Sarah würde womöglich eine Bemerkung über das Blut fallen lassen, egal wie oft Caro sie vorher bitten würde, das Thema nicht anzusprechen. Sie wand sich beim Gedanken daran, wie verlegen Richard jedesmal aussah, wenn sie darüber geredet hatten Bei jeder diskreten Anspielung senkte er den Kopf. Die Vorstellung, dass Tante Sarah ...
»Was hat der junge Mann eigentlich gelernt?«, fragte Tante Sarah. Sie unterbrach Caros zögerliche Antwort mit einer Handbewegung und goss sich eine Tasse Tee ein. Aus Erfahrung wusste Caro, dass das Gespräch damit beendet war.
Hastig schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter und stellte sich ans Fenster. Mit starrem Blick schaute sie hinaus. Irgendwo da draußen war jetzt sicher Richard unterwegs. Er hatte ihr schon oft erzählt, wie schön das Fliegen war. Der Rest sei ein bisschen unkomfortabel, aber in Ordnung. Sagte er. Er kannte es ja nicht anders. Caro war überzeugt gewesen, dass ihm das menschliche Leben besser gefallen würde. Im Hintergrund erklang das meckernde Lachen von Tante Ruth. Caro drehte sich nicht um. Ob Fliegen wirklich so schön war? Sie musterte ihr Spiegelbild in der Scheibe. Auch mit sehr blasser Haut sah sie zweifellos hübsch aus. Fand Richard ebenfalls. Die Sache mit dem Blut war sicher der härteste Teil an der ganzen Sache. Der Biss dagegen tat kaum weh, hatte er gesagt. Warum wollte sie das so genau wissen? Nur Neugierde, hatte Caro damals geantwortet.