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Rawania
Prolog: Die Königin
Nummer 3 eilte über die Hauptstraße, ohne nach links oder rechts zu sehen. Die Morgensonne warf ihr goldenes Licht auf die weiß getünchten Häuser entlang der breiten, altmodisch gepflasterten Ngumban Road und ließ den hohen Turm im Zentrum der Stadt aufleuchten. Noch schliefen die meisten Bewohner von Aréija, der Hauptstadt, friedlich, doch sobald die ersten Hähne krähten, würden die Straßen voller Betrieb sein und es wäre Nummer 3 kaum möglich, unbemerkt zum Turm zu gelangen. Er kam auf den menschenleeren Marktplatz, nur ein herrenloser Hund stöberte in den Abfallhaufen nach essbaren Resten. Nummer 3 beschleunigte seinen Schritt und ließ den Marktplatz hinter sich. Für viele galt zwar der goldene Turm als Mitte des Landes, doch das eigentliche Zentrum war der Markt.
Die Häuser standen nun enger beisammen, Nummer 3 verließ die Ngumban Road und bog in eine schmale Gasse ein, einen Schleichweg, der zwar durch die verruchten Viertel der Stadt führte, aber der schnellste war. Nachts traute sich niemand, der noch bei Verstand war in diesen Teil von Aréija. Nummer 3 vermied den Kontakt mit diesem Viertel auch so gut es eben ging, doch dies hier war schließlich ein Notfall. Man musste Opfer bringen können.
Er eilte zwischen den geduckten Häusern hindurch und hob dabei den Saum seines Mantels ein wenig, sodass er nicht im Dreck schleifte. Nummer 3 hasste alle Arten von Dreck und Schmutz. Gerade überlegte er sich, ob er nicht besser die Kapuze über das Gesicht ziehen sollte, falls er jemandem begegnete, sicher war schließlich sicher, als er den Blick hob und die gedrungene Gestalt im Eingang eines heruntergekommenen Gasthauses lehnen sah. Nummer 3 erkannte sie und wollte gerade in eine Seitengasse abbiegen, da kreuzte der stechende Blick des Mannes den seinen.
Ein Grinsen verzerrte das von Narben entstellte Gesicht. Der Fremde stieß sich von der Wand ab und trat dem Spion in den Weg.
„Sieh mal an, Dritter, was machst du zu so früher Stunde hier? Du willst dich doch nicht bei uns Normalsterblichen einquartieren?“ Seine Stimme klang rau wie Schmirgelpapier.
„Hunter“, erwiderte der andere kühl. „Ist lange her.“
„Nicht so lange, Schleimer. Erst seit du beschlossen hast, unter die Edelleute zu gehen.“
Der Mann namens Hunter spuckte in die schlammige Pfütze zu seinen Füßen.
„Ich habe deinen Aufstieg doch beobachtet. Wahrscheinlich trägst du wieder mal das Geschick deines Landes unter dem Mantel, stimmt‘s?“
Er lachte trocken und grausam.
Nummer 3 verzog keine Miene.
„Soweit ich mich entsinnen kann, ist es auch dein Land, Hunter. Die Königin hat nach mir geschickt.“
„Oh, wenn Ihre Majestät pfeift, kommt unser Hündchen gerannt.“
„Das ist schließlich mein Job, oder?“, fuhr ihn Nummer 3 ärgerlich an.
Hunter fuhr fort, ohne auf ihn zu achten.
„Ich gebe ihr sowieso noch höchstens ein halbes Jahr, bis sie endlich von ihrem hohen Ross heruntergeholt wird.“
Nummer 3 wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und eilte in die Seitengasse. Hunter‘s Gelächter verfolgte ihn weiter auf seinem Weg durch die Gosse, bis er auf den Platz vor dem Turm trat.
Von hier aus wirkte der Turm noch größer. Das silberne Zwiebeltürmchen an der Spitze verlieh ihm etwas unwirklich Majestätisches. Der Balkon über dem Portal für öffentliche Bekanntmachungen erstrahlte golden im Licht der aufgehenden Sonne. Nummer 3 spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, als er an das Objekt in seinem Beutel dachte. Hunter hatte Recht gehabt, er trug wahrscheinlich das Geschick des ganzen Reiches unter dem Mantel, nur in anderem Sinne, als Hunter vermuten mochte.
Die Wachen ließen ihn durch, ohne zu fragen; sie kannten ihn. Das heißt, sie glaubten ihn zu kennen. Er betrat den Turm und begann die lange, gewundene Treppe hinaufzusteigen.
Am obersten Absatz angelangt, klopfte Nummer 3 leise an die vergoldete Tür. In der Zwiebelturmspitze waren die privaten Räume Ihrer Majestät untergebracht, da sie den wundervollen Ausblick über die Stadt liebte.
Nach einigen Augenblicken stummen Wartens vernahm Nummer 3 die Stimme seiner Königin.
„Herein!“
Nummer 3 betrat den Zwiebelturmraum und fiel auf die Knie.
„Steh auf!“, befahl ihm die Königin. Sie stand in einem schlichten grünen Gewand am offenen Fenster, die Arme vor dem Körper verschränkt, als fröstele sie. Ihre blauen Augen spiegelten einen Funken des goldenen Morgenlichts wieder, ihr schweres braunes Haar war in einem Kranz um ihren Kopf geflochten.
„Was hast du zu berichten?“ Die Königin wandte ihren Blick von der erwachenden Stadt ab und betrachtete Nummer 3, der ihrem Befehl Folge geleistet hatte und nun etwas unbeholfen vor ihr stand. Er griff in den Lederbeutel, der an einer Schnur um seinen Hals hing und beförderte eine quadratische schwarze Platte zu Tage, die eine Art silberne Verzierung an einer Seite hatte.
„Oh meine Königin, es ist mir gelungen, dieses Ding aus dem brennenden Haus des Führers der Rebellen, Cant, zu entwenden, nur kurz nach dessen Verhaftung. Majestät, man sagte mir, Ihr wäret imstande, damit etwas anzufangen. Ich weiß nicht was es ist, aber es soll wichtige Fakten über den geplanten Sturz Eurer Majestät enthalten.“
Er drehte die Platte in den Händen, als fragte er sich, wie auf einem solch merkwürdigen Gegenstand irgendeine Information verzeichnet sein könnte.
Die Königin trat auf ihn zu und nahm das schwarze Ding in ihre schmalen Hände.
„Ja, ich weiß etwas anzufangen mit solchen Dingen. Ich danke dir. Wenn diese Unruhen eines Tages vorbei sein werden, werde ich dich reich belohnen. Geh nun in die Küche, mein Koch wird dir etwas zu Essen geben.“
Nummer 3 verneigte sich tief und verließ rückwärts den Raum.
Die Königin betrachtete die schwarze Platte, legte sie dann beiseite, seufzte tief und trat wieder ans geöffnete Fenster.
„Vielleicht ist wirklich bald alles vorbei“, murmelte sie, während sie ihren Blick hinunter in die Stadt richtete. Gerade begann das allmorgendliche Treiben; man hörte die ersten Händler ihre Ware anpreisen und einen Esel schreien.
So bemerkte die Königin nicht den Falken, der sich von der Spitze des Turms in die Luft schwang und sich aufmachte, seinen Meister zu suchen. Seines Meisters Zeit war nun gekommen.
Teil 1: Seattle
Freitag, 16.07.
Keiner, der Alicia Newton an diesem Freitagnachmittag auf ihrem Weg von der Schule bemerkt hätte, wäre auf die Idee gekommen, sie sei etwas anderes als eine ganz normale Fünfzehnjährige.
Keiner hätte sich vorstellen können, dass ihr Vater einer der gesuchtesten Männer Washingtons war.
Keiner hätte geahnt, dass sie sich in wenigen Tagen in einer anderen Welt befinden sollte.
Keiner hätte angenommen, dass sie alles andere als gewöhnlich war.
Alicia war nicht besonders groß, aber schlank. Das lange schwarze Haar trug sie oft im Nacken zusammengebunden. Sie war hübsch, nicht so, dass sie alle Blicke auf sich gezogen hätte, aber bemerkenswert. Am erstaunlichsten waren ihre grünen Augen, die wach und voller Lebensfreude um sich blickten. Sie hatte gute Noten in der Schule, ging in ihrer Freizeit zum Schwimmen und zum Reiten, war häufig im Freien und hatte viele Freunde.
Nur ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte den Mann bemerkt, der ihr unauffällig und in einigem Abstand folgte. An sich war der Mann keineswegs unauffällig, er erinnerte eher an einen Beamten des Geheimdienstes, mit seinen massigen Schultern, den über und über tätowierten Armen und der dunklen Sonnenbrille. Allerdings wusste er sich so zu verhalten, dass man ihn wenigstens nicht sehr bemerkte.
Wer sich also die Mühe gemacht hätte, diesen beiden so viel Beachtung zukommen zu lassen, dem wäre auch nicht entgangen, dass Alicia irgendwann die Fußgängerzone verließ und einen Parkplatz ansteuerte. Der Wagen, bei dem sie hielt, war groß und hatte dunkle Scheiben. Alicia lehnte sich dagegen und wartete.
Der Mann mit der Sonnenbrille beschleunigte seinen Schritt, bis er neben ihr stehen blieb und die Autoschlüssel aus der Tasche zog.
Er musste Alicia nur noch nach Hause fahren, dann war seine Schicht für heute beendet.
Craig Dunton öffnete Alicia Newton die Wagentür.
Nun war er ganz der Leibwächter, zu dem er geboren war. Während die beiden auf das altertümliche Haus der Newtons zugingen, dessen grüne Fensterläden im Sonnenlicht leuchteten, warf Craig jedem Passanten einen scharfen Blick zu. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Alicia war in Gedanken bereits bei ihrem Vater. Es war selten, dass er sich überhaupt an sie erinnerte, geschweige denn an ihre Handynummer. Manchmal wunderte sich Alicia, dass er ein Telefon überhaupt noch benutzen konnte, hatte er doch in seinem Job nur mit elektronischer Kommunikation aus kleinen Einsen und Nullen zu tun. Und in diesem Job war er gut, nicht zuletzt weil seine Frau Bess, nachdem sie vier Söhne in die Welt gesetzt hatte, bei Alicias Geburt gestorben war. Thomas Newton hatte diesen Schlag nie verkraftet; seine Arbeit war für ihn eine Zuflucht geworden, in die er sich so gestürzt hatte, dass er zweimal befördert worden war.
Das erste, was Alicia bemerkte, als sie das Haus betraten, war, dass die Tür nicht mehr quietschte. John hatte Wort gehalten und sie geölt. Im Flur kam ihr Michael, ihr ältester Bruder, entgegen, der 23 Jahre alt und äußerst gut aussehend war. Noch ehe sie ihn fragen konnte, warum ihr Vater sie dringend sprechen wollte, klopfte er ihr kameradschaftlich auf die Schulter und sagte: „Du sollst raufgehen und dich umziehen, Vater erwartet dich im Wohnzimmer. Glückwunsch zur Beförderung, du lernst gleich den Chef kennen.“
Bevor Alicia etwas erwidern konnte, verschwand Michael auch schon in seinem Zimmer.
Sie entließ Craig und begab sich in ihr Dachkämmerchen, ihren Zufluchtsort. Viel mehr als ein Bett, ein Schreibtisch mit Computer und ein Schrank passte nicht hinein, doch ein anderes Zimmer wollte Alicia nicht. Von hier oben hatte man die beste Aussicht über Seattle.
Während sie die Schuluniform auszog und sie gegen normale Jeans eintauschte, musterte sie die Tapete. Sie war mit kleinen blauen Vergissmeinnicht bedruckt, Alicias Lieblingsblumen.
Ihr langes Haar band sie zusammen und steckte es hoch. Sie sah nur flüchtig in den Spiegel, dann rutschte sie das Treppengeländer hinab und klopfte an die geschlossene Wohnzimmertür. Die Stimmen dahinter verstummten.
Auf das „Ja?“ ihres Vaters öffnete sie die Tür und trat ein. Thomas Newton erhob sich sofort und schob Alicia auf das meergrüne Sofa zu, das ihre Mutter so geliebt hatte. Gegenüber im Sessel, der die gleiche Farbe hatte, thronte der blasseste Mann, den Alicia in ihren bisherigen fünfzehn Jahren gesehen hatte. Er trug einen grauen Anzug mit Krawatte und rauchte eine stinkende Zigarre, sein braunes Haar war ordentlich gescheitelt und nach hinten gekämmt.
„Meine Tochter Alicia“, stellte ihr Vater sie mehr oder weniger überflüssigerweise vor. „Alicia, das ist mein Vorgesetzter, Mr Stuart. Oh, und natürlich sein Sohn Matthew.“
Jetzt erst bemerkte Alicia den jungen Mann, der sich bisher unauffällig im Hintergrund gehalten hatte. Nun trat er vor, strich sich mit einer beiläufigen Bewegung das dunkle Haar aus der Stirn und streckte ihr die Hand hin. Während Alicia sie schüttelte, fielen ihr seine braunen Augen mit den außergewöhnlich langen Wimpern auf.
Mr Stuarts Augen hingegen waren blass und blau, mit denen er sie von oben bis unten mit unverhohlenem Interesse musterte.
„Sie kommt ganz nach ihrer Mutter, nicht wahr?“, meinte er mit einer Stimme, die Alicia irgendwie an Seife erinnerte. „Besonders die Augen. Sie sind beinahe noch grüner als die von Bess.“
An dieser Stelle rang sich ihr Vater ein Lächeln ab; er konnte noch immer nicht vergessen, dass Bess‘ Tod eine Folge von Alicias Geburt gewesen war.
„Hübsches Mädchen.“ Mit diesen Worten und einer hochmütigem Handbewegung entließ Mr Stuart sie. Sie setzte sich neben ihren Vater auf das Sofa, während Matthew Stuart sich wieder hinter den Sessel seines Vaters stellte.
„Nun, wie gesagt, es könnte sein, dass die CIA etwas von Ihrem Standort erfahren hat“, fuhr der Chef im Plauderton fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
„Es wäre möglich, dass Sie in eine andere Stadt verlegt werden müssen. Unser Kontaktmann in Chicago ist letzte Woche bei einer Schießerei überraschend ums Leben gekommen – ein tragischer Unfall, müssen Sie wissen – und wir haben noch keinen Ersatz.“ Nun hörte er sich an wie ein Nachrichtensprecher. Alicia wurde kalt bei dem Gedanken, schon wieder umziehen zu müssen. Auch Thomas zögerte mit seiner Antwort.
„Ich weiß, dass ich mich einem Entschluss der Chefetage nicht widersetzen kann, doch ich bitte Sie, alles noch einmal zu überprüfen. Es wäre mir unrecht, die Kinder aus ihrer gerade vertraut gewordenen Umgebung zu reißen.“
Dass Alicias vier Brüder keine Umstellungsschwierigkeiten haben würden, war allen im Raum klar. Mr Stuart setzte ein aalglattes Lächeln auf.
„Sicher werden wir das noch einmal prüfen. Wir wollen doch, dass unsere Mitarbeiter zufrieden sind, nicht wahr?“
Was mit unzufriedenen Mitarbeitern geschah, wussten ebenfalls alle im Raum.
Da wechselte Mr Stuart plötzlich das Thema. Er deutete auf Alicia.
„Ist sie gut?“
In der Antwort ihres Vaters schwang Stolz mit, nur ein wenig und er versuchte es vor den Stuarts zu verbergen, doch es war Alicia genug.
„Sie ist besser als drei ihrer Brüder.“
Er lobte sie nie.
Mr Stuart musterte Alicia zweifelnd.
„Na gut. Ich schicke morgen jemanden vorbei, der sie prüft. Hast du eigentlich einen festen Freund?“, wandte er sich plötzlich wieder ihr zu.
Alicia kämpfte gegen die Röte, die ihr ins Gesicht stieg.
„Nein, Sir. Aber jede Menge lockere.“
Der Chef lachte; es war ein seltsames Lachen. So, als wäre es nicht dafür geschaffen, aus seinem Mund zu kommen.
„Schlagfertigkeit ist immer gut. Nun gut, Newton, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Aber machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen. Tut mir Leid, Mädel, wenn du deine lockeren Freunde verlierst.“
Er erhob sich, nickte Alicias Vater kurz zu und verließ den Raum. Sein Sohn schüttelte Thomas und Alicia die Hand und folgte ihm. Er hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen.
Während ihr Vater hinauseilte, um die beiden zur Tür zu begleiten, blieb Alicia sitzen und atmete tief durch. Nicht schon wieder weg. Nicht von hier. In ihrer jetzigen Schule hatte sie sich so gut eingelebt wie in keiner zuvor. Sie hatte das Gefühl, richtige Freunde gefunden zu haben. Und all das wollte Mr Stuart wegen einem toten Hacker zunichte machen.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als ihr zweitältester Bruder Marc den Raum betrat.
„Schlechte Neuigkeiten?“, fragte er, als er Alicias Gesichtsausdruck bemerkte. „Der Chef kommt nur, wenn er etwas besonders Gutes oder etwas besonders Schlechtes zu sagen hat.“
Sie versuchte zu lächeln, was ihr jedoch nicht recht gelingen wollte.
„Es könnte sein, dass wir nach Chicago müssen. Da haben sie wohl gerade Personalmangel.“
„Das Leben ist eines der schwersten.“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Du willst nicht weg von hier, sehe ich das richtig?“
Abrupt erhob sich Alicia.
„Wenn wir gehen müssen, dann müssen wir gehen. Das sehe sogar ich ein.“ Damit wandte sie sich ab und ließ ihren Bruder allein zurück.
Sie wollte nicht, dass er die Tränen sah, die ihr in die Augen stiegen.
Am Abend lag Alicia bereits in ihrem Bett, als ihr Vater ins Zimmer kam. Er setzte sich auf die Bettkante und sagte leise: „Alicia, Kleines. Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun. Das ist wirklich kein Leben für ein junges Mädchen. Aber wenn Mr Stuart will, dass wir gehen, dann muss ich seinem Befehl Folge leisten, wie du weißt.“
Er sprach nicht aus, was geschehen würde, wenn er sich widersetzte. Obwohl er einer der Besten war in seinem Job, würden sie keine Ausnahme machen. Es gab niemals Ausnahmen.
Alicia schüttelte den Kopf.
„Ich werde schon damit klar kommen. Es wäre ja nicht das erste Mal. Ist schon okay.“
Ihr Vater wusste sehr genau, dass es nicht okay war, nicht jetzt. Aber er wusste auch, dass Alicia seine Tochter war und sich eine Schwäche nicht anmerken lassen würde. Ihr Stolz hielt sie davon ab. Sie besaß fast alle Voraussetzungen, die für seinen Job nötig waren, aber sie war die jüngste und zudem noch ein Mädchen. Eine Rarität in seiner Branche. Dass Mr Stuart sie prüfen lassen wollte, wunderte ihn jedoch ein wenig. Mr Stuart war im Bezug auf Frauen in seiner Organisation sehr konservativ.
Samstag, 17. 07.
Alicia erwachte davon, dass es an der Tür klingelte. Verschlafen tastete sie nach dem Schalter ihrer Leselampe, sah auf die Uhr (erst halb acht!) und überlegte, wer so früh zu Besuch kommen konnte.
Da fiel es ihr ein. Der Test. Sie sollte getestet werden.
Während sie sich Jeans und T – Shirt überstreifte, überlegte sie, was sie wohl erwarten würde. Ihr Vater hatte gesagt, sie sei besser als Marc, Luke und John. Hatte er das wirklich so gemeint? Und woher wusste er, wie gut sie war?
Als sie den Rollladen hochzog, schien ihr die Sonne ins Gesicht. Die hatte wohl keine Schwierigkeiten mit dem frühen Aufstehen!
Diesmal benutzte sie die Treppe auf normalem Wege und betrat die Küche.
Dort hätte sie am liebsten wieder kehrt gemacht. Am Küchentisch saß Matthew Stuart mit dem Rücken zu ihr, trank Kaffee und unterhielt sich mit Michael.
Alicia überlegte gerade, ob sie sich verkrümeln konnte, da bemerkte Michael sie.
„Morgen!“, begrüßte er sie ausgesprochen fröhlich. „Sag bloß, du hast bis eben geschlafen.“
Matthew wandte sich um.
„Habe ich Sie aufgeweckt?“, fragte er höflich.
Alicia verneinte.
„Ich war schon vorher wach.“
Michael grinste. „Alicia aufzuwecken wäre die beste Tat des Tages gewesen, Matt. Ich weiß wirklich nicht, wo sie ihre Siebenschläfergene her hat.“
Er ignorierte Alicias Grimasse.
„Du musst zugeben, dass ich früh dran bin“, erwiderte Matthew. Es wunderte Alicia ein wenig, dass sie sich duzten. „Vater hatte geschäftlich zu tun. Es hat sich schon wieder einer dieser gesuchten Idioten irgendwo gezeigt.“
Michael zuckte mit den Schultern. Er war ein ausgesprochener Frühaufsteher.
Alicia setzte sich an den Tisch, nahm sich ein Brötchen und schnitt es auf.
„Wo ist Vater?“, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen.
„Der ist schon seit zwei Stunden weg. Marc und John nur unwesentlich kürzer. Nur Luke schläft wie immer. Ich bin seit ungefähr drei Stunden auf“, erklärte Michael mit liebenswürdigem Lächeln.
Alicia lächelte ebenso liebenswürdig zurück.
„Das liegt an der Gehirnmasse. Meine ist mehr, deshalb brauche ich mehr Schlaf.“
„Seit ihr immer so nett zueinander?“, mischte sich Matthew ein.
„Geschwisterliebe“, erklärte Alicia mit vollem Mund. Sie kaute und schluckte, dann meinte sie: „Es ist nicht leicht, mit vier älteren Brüdern leben zu müssen. Da muss man sich schon behaupten können. Haben Sie keine Geschwister?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf und strich sich das Haar aus den Augen.
„Nein, noch nie gehabt. Das ist manchmal ziemlich anstrengend, weil meine Eltern mich hüten wie einen Goldschatz. Ich durfte, bis ich sechzehn war, abends nicht länger als bis neun Uhr raus; Mutter hatte Angst, dass irgendeiner von Vaters Feinden mich entführen oder erschießen könnte.“
„Die Sorge hat mein Vater auch. Er hat mir zum Geburtstag einen Leibwächter besorgt, der mich jetzt auf Schritt und Tritt überwacht. Sogar in der Schule. Dort gilt er als ein etwas verrückter Verwandter von mir.“
Michael beobachtete sie amüsiert.
„Wie hast du das angestellt?“, fragte er Alicia. „Mir hat er in den zwanzig Minuten, die wir bereits hier sitzen, nicht halb so viel über sich erzählt.“
„Der Test, dem ich Sie unterziehen werde, ist gegliedert in sieben Schwierigkeitsgrade. Je weiter Sie im Grad kommen, desto positiver fällt das Ergebnis aus. Ich rate Ihnen, sich zu wappnen, ab Grad fünf bekommen die wenigen, die in Ihrem Alter getestet werden, meistens Probleme. Sie werden pro Schwierigkeitsstufe weniger Zeit für Ihre Aufgabe bekommen. Des Weiteren ist das hier nur eine Information für meinen Vater, nichts richtig Ernstes. Noch Fragen?“
Alicia schüttelte den Kopf. Sie saß vor dem Rechner ihres Vaters und hörte sich Matthews Anweisungen geduldig an. Sonderlich nervös war sie nicht, alles was sie spürte war ein leichtes Kribbeln im Bauch. Ob das allerdings an der bevorstehenden Prüfung lag oder an Matthews braunen Augen, die unverwandt auf sie gerichtet waren, konnte sie nicht sagen.
„Dann also erste Aufgabe.“ Er reichte ihr ein Blatt Papier. „Das hier sind einige Angaben über einen Mann, was man eben so über Beschattung herausbekommen kann. Sie sollen das Passwort, mit dem er seinen Benutzer gesperrt hat, herausfinden. Zeit haben Sie bis zu vierzig Minuten, die Bestzeit zu dieser Aufgabe beträgt drei Minuten und achtzehn Sekunden. Aufgestellt wurde sie von einem Achtzehnjährigen. Viel Glück.“
Damit erhob er sich und verließ den Raum.
Alicias Augen huschten über die Angaben auf dem Zettel. Zweiundvierzig Jahre alt, eins fünfundachtzig groß, blablabla, wenig Computererfahrung. Also versuchte sie zuerst den Namen seiner Frau, seines Hundes, seinen eigenen, seine Autonummer, die Geburtstage von ihm, Frau und Hund und dann Kombinationen aus allem.
Acht Minuten später wurde sie fündig. Julia07_04_1965. Typisch Anfänger.
Als sie Mr Stuart Junior Bescheid sagte, gesellte sich auch Michael wieder zu ihnen. Er lächelte, als er das Passwort sah.
„Nicht so einfallsreich, nach sieben Jahren immer noch dasselbe zu nehmen“, meinte er an Matthew gewandt.
„Ist nicht mein Job“, entgegnete dieser. „Nun gut, ich kenne keinen, der Grad eins nicht geschafft hat. Aber je höher Sie kommen, desto mächtiger werden ihre Gegner sein. Grad sieben beschäftigt sich mit einem NSA-Beamten, der auf Ihren Besuch vorbereitet sein wird. Aber zu Grad zwei. Hier sind die Unterlagen, die Sie brauchen.“
Und so ging es weiter.
Alicia arbeitete nicht gern unter Zeitdruck, aber sie wusste, dass Panik den Tod jeglichen Erfolges bedeuten würde.
Ab dem dritten Grad hatte sie nur noch eine begrenzte Anzahl von Versuchen, die Zeit wurde auf zwanzig Minuten gekürzt. Hatte sie bisher kreuz und quer verschiedene Wörter versucht, so dachte sie nun nach, versetzte sich in die Personen und überlegte, welche Kombinationen sie an ihrer Stelle gewählt hätte. Der vierte Grad gehörte zu den Aufgaben, die sie mit dreizehn gelöst hatte.
Da sie auch unter enormem Stress arbeiten können musste, sahen ihr ab diesem Grad Michael, Matthew und ihr zweitjüngster Bruder Luke, der erst um halb elf aufgestanden war, über die Schulter.
Nach Grad fünf aßen sie zu Mittag und Thomas kam nach Hause. Er wirkte besorgt und unausgeschlafen, doch schien er erleichtert, als er hörte, wie weit Alicia bisher gekommen war.
Kaum fertig gegessen, verschwand er wieder.
Die Zeit wurde gekürzt auf zehn Minuten. Alicia wusste nicht, wem sie etwas beweisen wollte, sich selbst, ihren Brüdern oder Matthew, als sie sich vornahm, bis zum siebten Grad durchzuhalten.
Alicia sah auf den Bildschirm, auf ihre Armbanduhr und wieder auf den Bildschirm. Der Mauszeiger blinkte im Sekundentakt. Diesmal kam es darauf an. Darauf, ob sie ihre Hausaufgaben gut genug gemacht hatte. Es war ein Trick, den sie von ihrem Vater vor weniger als einem Jahr gelernt hatte. Er war mehr oder weniger kompliziert, doch wirkungsvoll. Sie betrachtete die Tastatur und den Bildschirm und lächelte. Sie hörte in Gedanken Thomas‘ Stimme, während sie seinen Anweisungen von damals folgte. Dann umging sie erfolgreich die Passworteingabe, das Eingabefeld verschwand und sie hatte Zugang.
Erst Stille. Dann hörte sie Luke hinter sich aufatmen und, wie aus weiter Ferne, Michael sagen: „Glückwunsch, Alicia!“
Sie wandte sich um und sah in Matthews unbewegtes Gesicht.
„Neue Rekordzeit. Das wird meinen Vater sicher freuen“, sagte er nur.
Später, an der Tür, als niemand hinsah, nickte er ihr knapp zu.
„Respekt!“, sagte er leise, bevor er in der Dämmerung verschwand.
Montag, 19.07.
Alicia warf ihre Tasche in eine Ecke und kickte ihre Schuhe hinterher, dann betrat sie die Küche. Ihr Vater war wie immer nicht zu Hause, vermutlich arbeitete er. Nur ihre Brüder Luke und John saßen am Tisch und löffelten eine offensichtlich kalte Bohnensuppe. Typisch. Sobald keine weibliche Person mehr im Haus war, benahmen sich alle männlichen Newtons, die ja leider in der Überzahl waren, wie die Steinzeitmenschen.
Begrüßt wurde Alicia mit einem höflichen „Was machst du denn schon hier?“ ihres jüngsten Bruders John.
„Mittagsschule ist ausgefallen“, erklärte sie, während sie die Suppe erwärmte und sich einen Teller holte. „Drei unserer Lehrer liegen mit Sommergrippe im Bett!“
„Kein Pflichtgefühl!“, befand Luke. Er sah Alicia heuchlerischer Unschuld an. „Hast du übrigens eine Idee, wer gestern Abend meine E - Mails gelesen haben könnte?“
Alicia grinste.
„Du bist gar nicht so doof, wie du aussiehst! Die waren aber auch zu interessant! Oh, Nadine, ich liebe dich“, zwitscherte sie mit hoher, verstellter Stimme. „Warum schreibst du nicht mehr, ich denke jeden Tag an dich, ohne dich ist mein Leben so trist – man beachte die Wortwahl! – ein Tag ohne dich ist ein verlorener ...“
Weiter kam sie nicht, da sie sich unter dem Löffel wegducken musste, den ihr Bruder nach ihr warf. Er klirrte hinter ihr an die Wand.
„Du hast keine Ahnung von der Liebe, also hüte deine Zunge!“, fauchte Luke. Er war knallrot angelaufen. Dass John neben ihm losprustete, entspannte die Situation nicht gerade. Luke sprang auf, schrie: „Ihr habt doch alle keinen blassen Schimmer!“ und stürmte aus der Küche.
Alicia schaute ihm mitleidig nach.
„Er steckt mitten in der Pubertät, der Arme“, stellte sie fachkundig fest.
John verschluckte sich vor Lachen an seiner Suppe.
Alicia jedoch wurde wieder ernst.
„Vielleicht war ich wirklich gemein“, lenkte sie ein. Sie setzte sich zu John an den Tisch und begann ihre Suppe zu löffeln.
Als Michael und Thomas am späten Nachmittag zurückkamen, erlebte Alicia eine Überraschung.
„Mr Stuart will dich sehen“, erklärte Thomas ihr. Er wirkte besorgt. „Es scheint, als ob er dich für einen Job braucht. Morgen um sechzehn Uhr dreißig sollst du bei ihm aufkreuzen.“
Mehr schien er auch nicht zu wissen.
Dienstag, 20.07.
Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Es schien, als weinte sich der Himmel all seine Sorgen, die sich den heißen Juli über angesammelt hatten, von der Seele.
Als Alicia von der Schule kam, machte sie sich ausnahmsweise die Mühe, ihre nasse Jacke über die Heizung zu hängen, dann ging sie in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Es war bereits fünfzehn Uhr fünfundvierzig. Ihr würde nicht mehr viel Zeit zum Essen bleiben.
Obwohl ihr Leibwächter Craig Alicia fuhr, erwies Michael ihr die Ehre, sie persönlich zum Haus der Stuarts zu begleiten. Es war ein riesiges Anwesen ein wenig außerhalb der Stadt, mit Mauer und Stacheldraht drum herum, Wachhunden und Überwachungskameras an den Außenmauern.
Zwei der Fenster im Erdgeschoss waren vergittert; Alicia musste an eine Festung denken.
In der Tür wurden sie von einer kleinen, verhutzelten Frau in Empfang genommen, offensichtlich eine Angestellte. Die führte sie in ein äußerst prachtvoll eingerichtetes Wohn – oder Empfangszimmer, das eindeutig zur Einschüchterung der Besucher gedacht war. Die hohen Wände mit den riesigen Ölbildern taten ihre Wirkung: Alicia kam sich klein und verlassen vor. Gut, dass ihr Bruder sie begleitete. Das ganze Haus roch widerlich nach Lachs und frischer Farbe, was ihr beinahe den Magen umdrehte. Alicia hielt sich sehr aufrecht, als sie sich neben ihrem Bruder auf dem graublauen Sofa niederließ.
Beide lehnten höflich ab, als die alte Frau ihnen etwas zu Trinken anbot, und warteten mehr oder weniger geduldig auf den Chef.
Der ließ sich Zeit. Er erschien fast zwanzig Minuten zu spät, begrüßte sie mit einem knappen Kopfnicken und kam unverzüglich zur Sache.
„Mit dem kleinen Test am Wochenende, der ja ein recht gutes Ergebnis eingebracht hat, wollte ich nur wissen, ob du fähig bist, offiziell -“, er gönnte sich ein kleines Lächeln, „ – für unsere Organisation zu arbeiten. Ich habe eine Feuerprobe für dich. Du hast diese eine Chance. Ergreife sie, und du kannst hoch aufsteigen. Tust du es nicht, nun, es wird deine einzige sein.“
Der Chef zündete sich in aller Ruhe eine Zigarre an. Offenbar erwartete er keine Entgegnung.
„Der Job, für den ich dich brauche, ist etwas heikel, er könnte dein Leben kosten.“
Mr Stuart sprach nun wieder in seinem üblichen Nachrichtensprecherton.
„Nimmst du an, so kann dein Vater hierbleiben und muss nicht nach Chicago. Ich brauche dich dafür, da mir meine eigenen Söhne und ausgewachsenen Mitarbeiter zu wertvoll sind, als dass ich sie für etwas so Unsicheres opfern würde.“
Er blies gelangweilt einen Rauchkringel.
„Bisher kann ich nur so viel sagen: Das ist kein Auftrag von mir, er kommt von jemandem, der höher sitzt als ich. Das Königshaus von Ainawar – gib dir keine Mühe, du findest dieses Reich auf keiner Karte – hat wohl Probleme mit einigen Terroristen. Einer ihrer Spione hat eine Diskette mitgehen lassen, auf der Informationen über einen geplanten Sturz des Königshauses zu finden sein sollen. Allerdings kann der Verwalter des königlichen Computers die Datei nicht öffnen. Laut Gesetz darf nur ein Computer im ganzen Reich im Einsatz sein, und zwar für königliche Zwecke – was heißt, dass die Verschwörer dieses Gesetz erfolgreich ignoriert haben – folglich gibt es dort nicht viele Spezialisten. Die Königsfamilie selbst versteht wohl nicht das Geringste von elektronischen Geräten, deshalb kann man direkt vor ihrer Nase einen Sturz planen, solange man es auf elektronischem Wege macht.“
Mr Stuart klang verächtlich, Alicia begriff nicht, warum er diesem seltsamen Königshaus dann helfen wollte.
Er lehnte sich zurück und rauchte eine Weile schweigend. Dann beugte er sich wieder vor und drückte die Zigarre in dem Aschenbecher aus, der auf einem Beistelltischchen stand.
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„Ich gebe dir Zeit bis nächsten Samstag, dann solltest du dich entschieden haben. Bis dahin kannst du dich schon mal geistig und moralisch darauf einstellen, für unsere Organisation zu arbeiten. Das ist eine große Ehre, die nicht vielen Frauen zuteil wird!“
Er legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte sein Lächeln, dass so gar nicht zu ihm passen wollte.
„Aber eines solltest du noch wissen. Du kannst nach Ainawar nichts, überhaupt nichts mitnehmen außer den Kleidern, die du am Leibe trägst. Das ist in sofern kein größeres Problem, da wir einige Verbindungsleute in der Hauptstadt haben, die dir weiterhelfen werden.“
Er warf einen Blick auf die teure goldene Uhr an seinem Handgelenk.
„Dann werfe ich euch hiermit raus. Denk daran, Alicia Newton, wenn du nicht annimmst, suchen wir jemanden, der nicht ganz so gut ist, du ziehst nach Chicago und die Sache hat sich.“
Mr Stuart rief seine verschrumpelte Haushälterin, die Alicia und Michael zur Tür begleitete und dann sofort wieder nach drinnen huschte.
Alicia schwirrte der Kopf von den vielen Informationen, mit denen sie nichts anfangen konnte.
Erst auf der Fahrt fiel ihr Michaels besorgte Miene auf. Er hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen.
Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus.
„Michael?“
Er brummte unwillig.
„Was ist das für ein Königreich, von dem Mr Stuart gesprochen hat?“
Michael stöhnte genervt. Offensichtlich hatte er die Frage erwartet.
„Lass es dir von Thomas erklären. Der kann das besser.“
Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.
Zuhause angekommen schloss er sich sofort in seinem Zimmer ein. Alicia schlich ihm nach, um an der Tür zu lauschen.
Sie hörte, dass er telefonierte. Er klang wirklich besorgt.
„... er will sie nach Ainawar schicken!“
Michael schwieg, offensichtlich lauschte er auf eine Antwort.
„Aber sie ist noch ein Kind, verdammte noch mal!... Nein, natürlich nicht... Du weißt genauso gut wie ich, dass sie dieses Experiment erst zweimal gemacht haben, und keiner kam zurück... Trotzdem, es ist viel zu gefährlich, das ist kein Land aus Legosteinen... Ihr selbst macht es ja am meistens aus, nach Chicago zu ziehen!... Sie kann das nicht einschätzen, behaupte ich!“
Lange tat sich nichts hinter der Tür.
„... Ja, ich fürchte auch... aber schließlich und endlich wird es doch ihre Entscheidung, und wie ich das im Gefühl habe, wird sie viel tun, um hier bleiben zu können... Aber sie hat doch keine Ahnung von der ganzen Sache!... Etwas anderes wird mir kaum übrigbleiben ... Ja, sie hat gefragt, ich hab‘ gesagt, du würdest es ihr erklären... Beeil‘ dich. Bis dann.“
Alicia huschte in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Bett. Was war das für ein seltsames Land, von dem Mr Stuart gesprochen hatte und das Michael als lebensgefährlich einstufte? Sie war sich sicher, dass sie den Namen noch nie zuvor gehört hatte. Sollte sie warten, bis ihr Vater kam und ihn fragen oder versuchen, selbst etwas darüber herauszufinden?
Sie entschied zu warten. Michael hatte sich nicht so angehört, als fände man im Internet viel über dieses seltsame Königreich und Mr Stuart hatte gesagt, sie solle nicht versuchen, auf einer Karte danach zu suchen. Der musste es wissen.
Alicia öffnete das Fenster und starrte in die Dämmerung hinaus. Unter sich sah sie die Lichter der Stadt leuchten. Die Space Needle wirkte riesig, wie ein Dolch ragte sie aus dem beleuchteten Stadtzentrum. Irgendwie bedrohlich.
Alicia schauderte und zog die Fensterflügel wieder zu. Sie hockte sich auf das Bett und zog die Beine an. Eine Ahnung beschlich sie, eine Ahnung, dunkel wie die Nacht draußen. Was hatte Michael gesagt? „Keiner kam zurück“ aus diesem Land, dessen Name wie ein Echo in ihrem Kopf widerhallte: Ainawar. Ein seltsamer Name. Er klang wie eine Speise aus Japan.
Thomas saß am Tisch und sprach leise und eindringlich mit Michael, als Alicia die Küche betrat. Sofort verstummten beide.
„Klärt mich jetzt vielleicht endlich jemand auf, was das für ein seltsames Land sein soll, in das mich Mr Stuart schicken will?“, fragte sie ungehalten. Sie konnte es nicht ab, wie eine ansteckende Krankheit behandelt zu werden.
Ihr Vater fuhr sich mit der Hand über die Augen; er wirkte erschöpft und abgekämpft.
„Es ist wohl wirklich an der Zeit, dir alles zu erzählen. Setz dich.“
Alicia nahm Platz, obwohl sie nicht wusste, ob sie hören wollte, was er zu sagen hatte.
„Das Königreich Ainawar hat vor einigen Jahren erstmals mit uns Kontakt aufgenommen, wahrscheinlich sind sie nur zufällig bei der UTS gelandet. Jux war wohl auch der Grund, aus dem sie es überhaupt versucht haben. Jedenfalls gefiel meinem Chef die Idee eines Landes, das unbemerkt von unserer Welt existiert. Er versuchte zweimal, Leute hinzuschicken, doch keiner kam je wieder. Wir wissen nicht, wie es dort aussieht oder ob die Menschen genauso sind wie wir, eigentlich wissen wir überhaupt nichts außer den spärlichen Informationen aus den E-Mails des königlichen Verwalters des königlichen Computers. Aber dass dieses Land besteht, das wissen wir.“
Alicia sah verwirrt aus.
„Ich verstehe nicht ganz – wie kann dieses Land existieren, ohne dass die anderen es mitbekommen? Wo liegt es?“
Thomas schnitt eine Grimasse.
Dann sagte er betont langsam: „Hinter einem Spiegel!“
Die Stille in der Küche war greifbar. Alicia starrte ihn so ungläubig an, dass Michael geneigt war zu lachen. Seine Schwester sah von einem zu anderen.
„Ihr veräppelt mich doch! Wir sind hier in keinem Sciencefiction-Film im Kino!“
Thomas erhob sich.
„Ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn ich nicht mit eigenen Augen einen Menschen in diesem Spiegel hätte verschwinden sehen. So unglaublich es sich auch anhört, ich habe gesehen, wie dieser Spiegel den Mann geschluckt hat, er war durchlässig wie Wasser.“
„Ich würde mich an deiner Stelle einfach damit abfinden“, meinte Michael. „Habe ich auch
getan.“
Alicia klappte ihren Mund zu.
„Aber wenn keiner je zurückkam, warum schickt Mr Stuart dann noch mal jemanden hin? Und wieso mich? Ich habe doch noch weniger Ahnung von der Welt als sonst jemand.“
Ihr Vater hatte bereits die Hand auf der Klinke. Er sah Alicia nicht an.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, warum Mr Stuart dich loswerden will.“
Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Alicia starrte ihm nach. „Er lügt, nicht wahr?“, fragte sie ihren Bruder leise. „Er weiß es.“
Michael schüttelte den Kopf. „Wissen nicht, nur spekulieren. Es hört sich ziemlich verrückt an, also wundere dich nicht: Wir glauben, dass Mr Stuart Angst davor hat, Thomas könnte versuchen, ihn zu stürzen oder an die CIA zu verraten. Um das zu verhindern, will er Thomas zeigen, dass er ihn mit seinen Kindern erpressen kann. Unsere Vermutung ist, dass er klarstellen will, wer hier der Boss ist. So ein Unsinn. Als ob Vater jemals an so etwas gedacht hätte!“
Alicia dachte an die Überwachungskameras in seinem Haus und fand insgeheim, dass es dem blassen Mr Stuart durchaus zuzutrauen wäre, unter solchem Verfolgungswahn zu leiden. So langsam traute sie ihm alles zu.
Mittwoch, 21.07.
Als Alicia am Mittwoch von der Schule kam, erfuhr sie, dass Michael weggefahren war. Sie war enttäuscht, hatte sie doch gehofft, er könne ihr noch mehr über ihren seltsamen Auftrag oder das Land hinter dem Spiegel berichten.
Sie stieg die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer und schloss sich ein. Die Sonne hatte ihren Weg durch die Wolken gefunden und beleuchtete nun voller Enthusiasmus die Stadt unter sich.
Alicia genoss die Stille und Einsamkeit so hoch über dem hektischen Alltag. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versuchte sich auf französische Grammatik zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Hatte ihr Vater Recht und Mr Stuart wollte ihn wirklich nur einschüchtern?
Vergeblich zermarterte sich Alicia das Hirn, wartete, dass es ihr eine Erklärung lieferte, doch es wollte nichts kommen.
Je länger sie nachdachte, desto undurchsichtiger erschien ihr die ganze Sache. Es war unsinnig genug, an ein Land zu glauben, das es eigentlich gar nicht gab. Sie hatte Michaels Rat befolgt und versuchte, sich damit abzufinden, aber vorstellen konnte sie es sich immer noch nicht. Ob es dort wenigstens ähnlich war wie in dieser Welt, in die Alicia hineingeboren worden war?
Neugierig war sie natürlich, und sie spürte weniger Angst, als sie erwartet hatte. Schließlich musste es dort ziemlich gefährlich sein, wenn keiner der erwachsenen Männer zurückgekehrt war.
Ob sie überhaupt dort angekommen waren?
Was, wenn sie im Spiegel stecken geblieben waren?
Oder dort, in diesem seltsamen Land nicht leben konnten, da es dort so anders war als hier in ihrer relativ behüteten Welt?
Vielleicht war es wirklich eine Welt wie in einem Sciencefiction-Film, ohne Sauerstoff oder so etwas?
Vielleicht waren sie auch dort ermordet worden?
Von Zweifeln geplagt erhob sich Alicia und trat ans Fenster. Sie blickte hinaus und für einen Moment sah sie die Stadt. Es war nicht Seattle, es war eine fremde Stadt, ganz aus weißen Häusern, die im Morgenlicht aufstrahlten. Aus ihrer Mitte erhob sich ein großer goldener Turm.
Diese Stadt brauchte Hilfe, das spürte Alicia mit jeder Faser ihres Herzens.
Die Vision hatte nur wenige Sekunden gedauert. Alicia fand sich in ihrem Zimmer wieder, verwirrt, da ihr das Bild so lebendig erschienen war.
Sie starrte hinaus auf die Stadt unter ihr. Die Stadt, die ihre Heimat war und doch bald nicht mehr sein würde.
Ihr Unterbewusstsein traf die Entscheidung. Hatte sie die ganze Zeit geglaubt zu wissen, sie könne sich nicht überwinden, alle Zweifel waren dahin, geschmolzen von einem Bild, welches wahrscheinlich ihrer Fantasie entsprungen war.
Ihre einzige Sorge war ihre Familie. Thomas würde sich schreckliche Sorgen machen, ebenso wie ihre Brüder.
Alicia beschloss, ihnen bis Samstag nichts zu verraten.
Die Ratlosigkeit war im ganzen Haus zu spüren.
Alicia zwang sich, nicht an den Samstag zu denken, aus Angst, ihren Entschluss zu bereuen.
Alle schlichen mit betretenen Gesichtern herum, waren gereizt und nervös. Da keiner wusste, dass Alicia bereits einen Beschluss gefasst hatte, ließen sie sie größtenteils in Ruhe, was ihr ganz recht war.
Donnerstag, 22.07.
Der Donnerstag verging sehr schnell. Alicia sprach mehrmals mit ihrem Vater, doch versuchte sie vom Thema abzulenken und schloss sich die meiste Zeit auf ihrem Zimmer ein. In Chicago spitzte sich derweil die Lage zu, bei einer Schießerei waren mehrere von Mr Stuarts Leuten ums Leben gekommen. Das festigte Alicias Beschluss, da sie sich mehr Sorgen um das Leben ihres Vaters und ihrer Brüder machte als um ihr eigenes.
Sie überlegte, ob sie sich für den Freitag in der Schule krankmelden sollte, ließ es dann jedoch bleiben. Falls sie nicht mehr aus Ainawar zurückkehren sollte, wollte sie sich wenigstens verabschiedet haben.
Sie erhielt einen kurzen Anruf von Mr Stuarts Hausangestellten, in dem ihr mitgeteilt wurde, wann sie sich am Samstag bei ihm einzufinden hatte, um ihre Antwort zu überbringen.
Samstag, 24.07.
Alicia verbrachte den Samstag wie in Trance. Ihr Gehirn antwortete automatisch auf alle Fragen, die man ihr stellte, doch nichts blieb haften. Später wusste sie nicht einmal mehr, wann sie aufgestanden war, was sie gegessen hatte oder welche ihrer Brüder anwesend waren.
Sie ließ alle Kommentare, Bitten, Warnungen an sich abprallen, nachdem sie ihre Entscheidung verkündet hatte.
Thomas versuchte nicht, sie aufzuhalten. Er bat sie nur, es sich noch einmal zu überlegen. Alicia brach es beinahe das Herz, zu sehen, wie er seine Sorgen ihr zuliebe unterdrückte.
Alles, was sie von Mr Stuart registrierte war das Lächeln, das über sein Gesicht huschte, als er erfuhr, dass sie gehen würde.
Es war ein seltsames Gefühl, durch einen Spiegel zu gehen. Den Spiegel hatte Mr Stuart in einer Abstellkammer aufbewahrt, abgedeckt mit einem Tuch.
Thomas hatte Recht gehabt, die Oberfläche war durchlässig wie Wasser. So fühlte es sich auch an; wie eine kalte Dusche. Alicia spürte ihren Herzschlag, während sie aufbrach zu der Reise, die vielleicht ihr Ende bedeuten konnte.
Teil 2: Rawania
Kapitel 1: Der Spiegelmacher
Als Alicia ins Freie trat, musste sie die Augen zusammenkneifen. Die Helligkeit traf sie mit voller Wucht.
„Also wirklich, schicken se jetzt schon Kinder!“
Alicia riss erschrocken die Augen auf und starrte direkt in ein faltiges Schildkrötengesicht. Das Gesicht gehörte zu einem Männchen, nicht größer als sie selbst, aber mindestens hundertmal so alt. Es trug einen zerschlissenen Umhang und ziemlich mitgenommene Ledersandalen. Unter dem weißen Haarschopf blitzten zwei hellblaue Augen voller Enthusiasmus und Ironie.
Die Gestalt schüttelte aufgeregt den Kopf.
„Also wirklich, zu meiner Zeit hätt‘s das nich gegeben! Was denken die sich denn, hm? Oder ham se keine anderen Trottel mehr zum Herschicken? Sin se sich zu fein zum Selberkommen!“
Das Männchen unterbrach seinen Redeschwall und musterte Alicia, die es mit offenem Mund anstarrte.
„Na ja, macht ja nix. Kannst übrigens froh sein, dass de bei mir gelandet bist!“
Er tätschelte den Spiegel, der, wie Alicia erst jetzt bemerkte, an einer Hauswand lehnte.
„Wer sind Sie?“, brachte Alicia heraus.
Das Männchen kicherte.
„Ich bin der Spiegelmacher hier. Aus‘m ganzen Land kommen die Leute zu mir her, weil ich die besten Spiegel machen kann! Sogar die ganz Reichen kommen aus Aréija... “
„Aréija?“
Erneut wiegte der Spiegelmacher den Kopf hin und her.
„Bereit’n se euch nich mal mehr vor auf euern Ausflug? Aréija is natürlich die Hauptstadt hier in Rawania. Weißte, die ham sich ganz schön lang Zeit gelassen mit ihrem Theater. In Aréija is grad‘ alles in Aufruhr, weil so ’n Führer von den Verschwörern aus ’m Gefängnis ausgebrochen ist und jetzt die Königin stürzen will.“
Er bemerkte Alicias noch verwirrteren Gesichtsausdruck, lachte und wies über die weite Hügellandschaft um sie herum. Die Hütte, an der der Spiegel lehnte, war die einzige Behausung weit und breit.
„Das, was de hier siehst, ist Rawania, das Land hinter den Spiegeln. Bei euch nennen se’s wohl Ainawar, wegen ‘nem Übertragungsfehler bei ‘ner E-Mail. Weil des doch über‘n Spiegel geleitet werden muss. Deshalb isses rückwärts angekommen. Macht ja nix, jedenfalls ham se doch ‘nen Hilferuf geschickt, weil doch die Terroristen die Königin stürzen woll’n. Aber ich glaub‘, se ham net mit ‘nem Teenager gerechnet!“
Er brach wieder in Gekicher aus.
Alicias Kopf begann langsam, sich zu drehen. Wo war sie hier bloß gelandet?
Der Spiegelmacher wurde indes wieder ernst und sah sie mitleidig an.
„Armes Ding, weißt ja gar net, wo dir der Kopf steht. Weißte, was? Vielleicht willste erstmal was zu trinken? Geh‘n mir einfach rein, anstatt uns hier ‘n Sonnenbrand zu hol’n, und dann erzählst mir mal, warum se dich geschickt ham.“
Alicia schwirrte der Kopf von dem Geplapper des Spiegelmachers und sie folgte ihm widerstandslos in die Hütte.
Sie war sehr schlicht eingerichtet; es fanden sich nur ein Tisch, ein Bett, einige Truhen und eine Feuerstelle.
Der Spiegelmacher bugsierte Alicia auf die Eckbank am Fenster und trat an das Feuer.
„Was hättste lieber? Grünen oder schwarzen Tee? Weißte, was? Ich mach‘ dir einfach ‘n blauen.“
Er kicherte über seinen eigenen Scherz und setzte Wasser in einem zerbeulten Kessel auf.
Ganz langsam sammelte sich Alicia wieder. Sie begann zu begreifen, dass sie nicht im Spiegel feststeckte und noch keinem Meuchelmörder über den Weg gelaufen war. Sie saß nur in einer Holzhütte irgendwo in einem Land, das sie nicht kannte, und bekam die Ohren von einem Spiegelmacher vollgestopft. Damit konnte sie leben.
Der Spiegelmacher pfiff fröhlich vor sich hin, während er Teeblätter in eine blaue Teekanne schöpfte und anschließend das kochende Wasser darübergoss. Als der Tee zog, brachte er zwei große Tassen zum Tisch und stellte sie darauf. Dann schenkte er ihnen beiden Tee ein und ließ sich Alicia gegenüber ächzend auf einen Stuhl sinken.
„Na, dann schieß mal los. Was haste denn angestellt, dass se dich hierher schicken?“
Alicia zuckte ein wenig schüchtern mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, ob das hier einfach nur ein Test sein sollte, oder ob sie mich mit dem Vorsatz hergeschickt haben, dass ich nicht mehr zurückkomme. Ich weiß nichts über dieses Land, nicht viel über meine Aufgabe und ich weiß nicht, ob ich je wieder zurück kann.“
Erst als sie es aussprach, wurde Alicia ihre Lage wirklich bewusst.
Nachdem der Spiegelmacher sich an dem heißen Tee die Zunge verbrannt hatte, sah er sie nachdenklich an.
„Weißte, was? In der Theorie müsstest eigentlich schon zurückgehen können. ‘s hat nur noch keiner probiert.“
Alicia sah auf.
„Aber was ist aus den anderen beiden geworden, die schon hier waren?“, fragte sie.
Der Spiegelmacher grinste und offenbarte dabei eine Zahnlücke.
„Denen hat ’s hier so gut gefallen, die sind freiwillig geblieben. Hatten nix mehr, was sie in deiner Welt gehalten hätte.“
Er verschluckte sich am Tee und hustete.
„Alle beide sind se aus einem meiner Spiegel marschiert. Den einen hätt’s fast von den Füßen gehauen, so begeistert war der von der Landschaft hier. Der hat jetzt ‘ne Schenke aufgemacht, irgendwo in Aréija. Ich wollt‘ ihn schon immer mal besuchen. Was der andere gemacht hat, weiß ich net.“
Seine blauen Augen funkelten spöttisch.
„Der war so ‘ne Nummer! Konnt’s einfach net fassen, dass es hier nur einen Computer geben darf und dass er sich nirgendwo einen dieser dünnen Taschencomputer kaufen konnt‘! Aber sag mal, was is denn nun deine Aufgabe?“
Alicia überlegte einen Moment, ob sie dem Mann vertrauen konnte und entschied sich dann dafür.
„Wegen diesen Terroristen, da hat offenbar ein Spion des Königshauses eine Diskette mit Informationen über den Sturz der Königin bekommen, und jetzt können sie die Datei nicht öffnen.“
Der Spiegelmacher sah sie einen Moment misstrauisch an.
„Ich versteh‘ zwar nix von diesem Zeugs, aber woher wiss’n se denn, dass du’s aufmachen kannst? Da muss man doch bestimmt sehr viel Erfahrung ham!“
„Ich bin damit großgeworden“, antwortete Alicia.
„Gell, bei euch gibt’s des Zeug an jeder Ecke zu kaufen, wie Heu oder so.“
Alicia nickte nur abwesend. Sie war in Gedanken schon bei der Königin. Sie stellte sie sich ein bisschen vor wie die Queen von England. Alt und weise.
Der Spiegelmacher seufzte, als er Alicias volle Tasse bemerkte.
„Willste deinen Tee net oder isser noch zu heiß? Wenn de willst, kann ich dir ‘n bissel kaltes Wasser reinkippen.“
Alicia schüttelte hastig den Kopf.
„Nein, er ist wunderbar. Ich habe nur nachgedacht.“
„Hast ja auch Stoff zum Nachdenken“, brummte der Spiegelmacher. „Weißte, was? Ich bring‘ dich in die Hauptstadt, wenn de willst. Ich muss sowieso mal wieder hin, mir geht nämlich ‘s Stroh für meinen Esel aus.“
Alicia nahm das Angebot dankend an. Ihr behagte die Vorstellung gar nicht, ganz allein durch dieses fremde Land zu wandern.
„Wie heißte denn eigentlich? Hab‘ gehört, bei euch ham alle zwei Namen.“
Alicia nickte.
„Alicia Newton. Das sind meine beiden Namen. Aber der erste reicht.“
„Gut, Alicia.“ Er sprach den Namen vorsichtig aus, offensichtlich hatte er ihn noch nie gehört. „Ich bin für alle hier einfach der Spiegelmacher. Des genügt.“
Alicia nickte erneut.
„Wann willste denn aufbrechen?“, fragte der Spiegelmacher über den Rand seiner Tasse hinweg.
„Na ja, so bald wie möglich. Ich möchte gern schnell wieder nach Hause.“
Der alte Mann sah hinaus in den wolkenlosen Himmel.
„Dann sollten wir bald los. ‘s gibt nämlich gleich ‘n Gewitter.“
Alicia sah zweifelnd in den blauen Himmel, doch sie beschloss, dem Spiegelmacher zu vertrauen. Er kannte sich vermutlich in seinem eigenen Land besser aus.
Sie tranken den Tee aus und der Spiegelmacher erhob sich. „Musst aber noch was andres anziehen“, meinte er mit Blick auf ihr rotes T-Shirt. „Wenn’d willst, kannste’s anlassen, aber vielleicht solltst was Unauffälligeres drüberziehen. Ich hab‘ halt nix für ‘n Mädel in deim Alter, aber ‘s wird reichen müssen.“
Er wühlte eine Weile in der großen Kiste herum, die auf dem Boden stand, dann beförderte er ein langes, graues Leinenhemd zutage und musterte es skeptisch. Schließlich zuckte er die Schultern („Muss wohl reichen!“) und warf Alicia das Hemd zu.
Nachdem sie es sich übergestreift hatte, sattelte der Spiegelmacher einen kleinen Esel, der hinter der Hütte angebunden war. Er verschloss sorgfältig die Tür, dann machten sie sich auf den Weg, Alicia zu Fuß und der Spiegelmacher auf dem Esel.
Die Landschaft war malerisch. Sie wanderten auf einem schmalen Pfad, der sich mitten zwischen den weiten, grasbewachsenen Hügeln hindurchschlängelte.
Am Horizont begann ein großer Wald, und im Westen bemerkte Alicia das blaue Band eines Flussbetts.
Sie verstand, warum ihre beiden Vorgänger hier geblieben waren.
Auf dem Weg fragte sie dem Spiegelmacher Löcher in den Bauch und erfuhr vieles über das Land. Es schien sich in einem seltsamen Zeitalter zu befinden. Die Einwohner lebten wie im Mittelalter, andererseits hatte man bereits Computer erfunden, die jedoch mit so großem Misstrauen behandelt wurden, dass sie sich nicht durchsetzten. Alicia nahm an, dass man nicht einfach die ganze Entwicklung zur Neuzeit durch eine einzige Erfindung überspringen konnte. Es war seltsam; alles war so fremd und ungewohnt, doch Alicia bemerkte überrascht, dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, sich in diese seltsame Welt hineinzufinden.
Die Verständigung war kein so großes Rätsel: Es war normales Englisch, auch wenn die Aussprache des Spiegelmachers ein wenig gewöhnungsbedürftig war. Eine andere Sache war der Übergang: Offensichtlich gab es in Alicias Welt nur einen oder wenige Spiegel, die als Verbindung zu gebrauchen waren, in Rawania hingegen konnte man aus jedem beliebigen spazieren. Die Menschen, ihre Arbeit und ihre soziale Struktur waren wiederum denen sehr ähnlich, die Alicia kannte. Es gab eine Königin, die demokratisch gewählt wurde (die jetzige war noch sehr jung und noch nicht lange im Amt), und dann gab es ein Schichtenwesen, gegliedert in die Obere Schicht; das waren Geistliche, Beamte, Schreiber und Adlige; die Mittlere Schicht, Großgrundbesitzer, reiche Bauern und einige Handwerkszünfte, und die Unterschicht, alle Arbeiter, Tagelöhner, niedere Zünfte und arme Bauern oder welche mit wenig Besitz. Der Spiegelmacher erklärte stolz, er gehöre zur Mittleren Schicht und bedaure die armen Schweine der Unteren Schicht, mit denen wolle er gewiss nicht tauschen. Die Zunftordnung hatte wiederum eine eigene Hierarchie; alles Glas- und Schmiedehandwerk gehörte zu den angesehen Beschäftigungen, mit denen man laut des Spiegelmachers überall Anstellungen bekam, während Papierschöpfer und Holzverarbeiter in einem harten Konkurrenzkampf lagen, da immer nur einige wenige Betriebe das Monopol in der Hand hielten und alle großen Städte belieferten. Die anderen konnten sehen, wo sie blieben. Solche Berufe waren zwar notwendig, aber jeder einzelne Arbeiter ersetzlich; es waren keine Kunsthandwerke.
Sie waren ungefähr eine Stunde gewandert, als am Horizont plötzlich Wolken aufzogen. In Sekundenschnelle verdunkelten sie die Sonne und breiteten sich als graue Wand über den ganzen Himmel.
„Na, was hab‘ ich gesagt?“, fragte der Spiegelmacher fröhlich, sprang von seinem Esel und führte ihn am Zügel. Er strich ihm beruhigend über die Nase. „Keine Sorge, wir ham’s gleich geschafft.“
Der Pfad folgte nun dem Kamm eines Hügels, dann führte er abrupt nach unten. Alicia sah auf und sah die Stadt ihrer Vision. Das gelbliche Licht des aufziehenden Gewitters verlieh ihr etwas Bedrohliches, der goldene Turm schien seinen Glanz verloren zu haben, aber ohne Frage war es die schönste Stadt, die Alicia in ihrem ganzen kurzen Leben gesehen hatte.
Die hohe Stadtmauer hatte nur ein einziges Tor, ausgerichtet gen Osten, zur aufgehenden Sonne, wie der Spiegelmacher ihr erklärt hatte.
Hier trafen Wege aus allen Himmelsrichtungen und allen großen Städten des Landes zusammen und vereinten sich zu der mächtigen Ngumban Road, die quer durch die Stadt zum Turm hin führte.
Das mittelalterliche Tor war geschlossen. Links und rechts davon wachten jeweils drei Soldaten in schwarzen Gewändern mit schwarzen Helmen, die es unmöglich machten, ihre Gesichter zu erkennen. Sogar ihre Schwertscheiden und Bogen waren schwarz. Sie schienen überhaupt nicht zu der weißen Stadt zu passen.
Neben sich hörte Alicia den Spiegelmacher einen Schnaufer ausstoßen. Er sah aus, als wolle er sofort umkehren, und packte Alicia am Arm.
Da bemerkte einer der Wachen sie.
„He, Spiegelmacher, wohin des Weges? Du willst doch sicherlich nicht in die Stadt zu deinen alten Freunden!“, rief er schadenfroh.
Der Spiegelmacher seufzte.
„Venzo, hätt‘ ich mir ja denken können, dass du da mit drin steckst. Wo is die Königin?“
Die Wache lachte.
„Deine Königin ist über den Surièn, und sie wird nicht so bald zurückkommen! Das Land hat einen neuen König: Cant, geehrt sei sein Name, ist aus dem Gefängnis entkommen! Das ist doch ein Grund zum Feiern, alter Mann!“ Er legte eine Atempause ein, bevor er fortfahren wollte. Alicia hörte alles mit Schrecken, obgleich sie es nicht ganz verstand.
„Übrigens, wer ist deine nette Begleitung?“, fragte ein anderer Wächter mit schleppender Stimme, bevor die Wache namens Venzo ihre Lobeshymne auf den neuen König fortsetzten konnte. „Sag bloß, es ist ein junges Mädchen ohne Vergangenheit und mit seltsamem Namen!“
Der Spiegelmacher warf Alicia einen Seitenblick zu.
„Nee, des is meine Enkeltochter Rani, die mit mir reist.“
Venzo grinste unheilverheißend.
„Nun, da deine Enkelin aber verdammt gut auf die Beschreibung passt, die wir erhalten haben, werde ich unseren Anführer hierher bemühen. Denk‘ nicht mal ans Weglaufen, du würdest sofort von einem Pfeil durchbohrt. Bleibt am Besten beide genau da stehen, wo ihr seid.“
Damit wandte er sich ab und betrat die Stadtmauer durch eine Tür neben den schweren Gitterstäben des Tores.
Der Spiegelmacher beugte sich zu Alicia hinüber.
„Des sieht gar net gut aus“, flüsterte er. „Die Rebellen müss’n die Stadt eingenommen haben!“
Er wirkte sehr besorgt.
Alicia fragte ebenso leise: „Was hat er gesagt, sei mit der Königin?“
Der Spiegelmacher schüttelte traurig den Kopf.
„Er hat gesagt, sie sei tot. Surièn, das is ‘n Fluss durchs ganze Land. Umgangssprache.“ Einen Moment hing er seinen Gedanken nach. „Aber ich kann mir gar net denken, warum die ‘n junges Mädel ohne Vergangenheit suchen.“
Eine der übrigen Wachen wurde auf sie aufmerksam.
„Schone deine Stimme, Spiegelmacher, du wirst sie noch brauchen!“, fauchte er.
Der Spiegelmacher schnitt ihm eine Grimasse.
In dem Moment trat Venzo wieder ins Freie und winkte sie zu sich heran.
Ihm folgte ein grobschlächtiger, hünenhafter Mann mittleren Alters, eine Schwertscheide mit besorgniserregend langem Inhalt an der Seite. Vorn auf die Brust seines Gewandes war ein großer silberner Stern gestickt.
Alicia und der Spiegelmacher traten vor ihn hin.
Beide mussten sie den Kopf in den Nacken legen, um in die stechenden Augen des Anführers zu sehen.
Der Riese packte Alicia grob am Pferdeschwanz und drehte ihr Gesicht ins Licht. Einen Moment musterte er sie aus zusammengekniffenen Augen, dann nickte er.
„Sie könnte es tatsächlich sein. Bringt sie zum Turm, dort wird man wissen, ob sie diejenige ist, die wir suchen.“
Alicia entwand sich seinem Griff und warf dem Spiegelmacher einen besorgten Blick zu. Sie wollte nicht in die Machenschaften des Königreiches hineingezogen werden.
Der Spiegelmacher setzte eine zornige Miene auf und blickte hinauf zu dem Anführer.
„Hört mich an, des hier is meine Enkelin. Ihr habt kein Recht, se mitzunehmen! Ich weiß net, wen oder was Ihr sucht, aber ich hab‘ mit Eurem Kram nix zu schaffen. Lasst uns einfach weiterzieh’n, dann hört Ihr nie wieder von uns.“
Die höhnische Antwort des Hünen ging im Donnergrollen unter.
Zwei der Wachen traten auf Alicia zu, packten ihre Arme und fesselten sie ihr auf den Rücken. Sie hörte, wie der Spiegelmacher mit dem Anführer der Wachen diskutierte, flehte, drohte, schimpfte, doch der Wortlaut zog an ihr vorbei wie Dunstschwaden. Es war nicht wichtig.
Sie konnte es nicht fassen. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Reise, ihr großes Abenteuer hier beendet sein sollte. Keine Sekunde zweifelte sie daran, dass diese Männer sie umbringen würden, ob sie nun die Gesuchte war oder nicht. Wie hatte sie nur annehmen können, sie könne schaffen, wozu zwei erwachsene Männer nicht imstande gewesen waren?
Von einer der Wachen grob in den Rücken gestoßen, taumelte sie auf die Seitentür zu.
Kapitel 2: Aréija
Als sie die Stadt betraten, begann es zu regnen.
Es war ein harter Regen, er prasselte auf Alicias bloße Arme und machte ihr eine Gänsehaut. Sie nahm nicht viel wahr, nur hin und wieder verschwommene Gesichter im Regen, während sie über die Hauptstraße Richtung Turm gestoßen wurde. Der Weg kam ihr endlos vor. Bisher war ihr alles auch unwirklich vorgekommen, doch nun glaubte sie in einen Alptraum geraten zu sein. Warum konnte nicht ein einziges Mal etwas in ihrem Leben nach Plan laufen?
Gerade als sie bei den Selbstvorwürfen angelangt war, stolperte Alicia auf den Platz vor dem Turm.
Menschen hatten sich dort versammelt, viele Menschen, alle durchnässt, verängstigt. Oben auf dem Balkon über dem Portal des Turms stand ein Mann.
Er schien das Wasser nicht zu bemerken, das in Rinnsalen aus seinem schwarzen Ziegenbart troff und seinen schwarzen Umhang durchweichte. Beide Arme auf die Brüstung gestützt, rief er Worte gegen den Regen; regelrecht schrie er, um den Donner zu übertönen.
Erst als die Wachen eine Gasse durch den Menschenauflauf bahnten, konnte Alicia verstehen, was er sagte.
„Bürger von Aréija, die Knechtschaft ist beendet! Ihr braucht euch nicht mehr zu sorgen, was ihr euren Kinder zu essen geben könnt, denn ein neues Zeitalter beginnt! Ein Zeitalter, das Rawania seinen alten Ruhm zurückbringt! Feiert, Bürger von Aréija, denn ihr habt einen König, einen König, der euch euren Wohlstand wiedergibt! Habt ihr nicht gefürchtet, am Abend nicht genug Geld heimzubringen? Hattet ihr keine Angst, die hungrigen Schreie eurer Kinder zu hören? Habt ihr nicht gebangt, den nächsten Tag nicht zu überleben? Seid gewiss, alles Elend wird ein Ende haben!“
Einige Menschen murmelten zustimmend.
Mit gezückten Schwertern schoben sich die Wachen zum Turm hin, sie beachteten den Redner überhaupt nicht. Alicia wurde rücksichtslos vorwärts gestoßen. Sie wünschte sich nur, den Spiegelmacher bei sich zu haben, der ihr alles erklären könnte.
Er schien an der früheren Königin nichts auszusetzen zu haben, ja, er hatte sehr positiv von ihr gesprochen.
„Natürlich gibt’s Armut“, hatte er gesagt. „Die gibt’s schließlich überall. Aber ‘s geht viel schlimmer. Vor kurzer Zeit war Rawania das mächtigste der Sieben Länder, da war dauernd Krieg. Jetzt is es das zwar nimmer, aber dafür gibt’s jetzt Frieden.“
Alicia begann zu verstehen. Die Rebellen mussten genau die richtigen Leute bestochen haben, um sie für ihre Sache zu begeistern.
Eine einzelne Stimme erhob sich aus der Menge.
„Sagt uns, wo die Königin ist!“
Der Redner hob den Kopf und ließ den Blick über die Menge schweifen, als suche er den Urheber der aufmüpfigen Bemerkung, doch der hielt sich gut versteckt zwischen all den Menschen.
Der Ziegenbart machte ein dramatisches Gesicht.
„Eure Königin hat euch im Stich gelassen! Sie beging Selbstmord, noch ehe unsere Männer den Turm überhaupt betreten hatten! Feige hat sie den Kopf unter den Flügel gesteckt! Wahrlich, sie verdiente es nicht, ein Land wie unseres zu regieren!“
Bei einem Großteil der Versammelten schien diese Nachricht Bestürzung hervorzurufen, überall wurde in gedämpftem Ton gesprochen.
Inzwischen waren die Wachen mit Alicia beim Portal des Turms angelangt. Die Menschen in ihrer Umgebung murmelten und deuteten auf sie. Einer der Schwarzgewandeten hob die Hand und schlug gegen die Tür. Ein kleines Fenster öffnete sich und die Wache wechselte einige Worte mit dem Torhüter. Wenig später wurde das riesige Portal aufgestoßen und Alicia betrat den mächtigen Turm, eine nasse Spur hinterlassend.
Die Decke der Vorhalle war bestimmt sieben Meter hoch, schätzte Alicia, wenn nicht noch mehr. Der Fußboden war bedeckt mit prachtvollen Mosaiken, die Landschaft und Tiere darstellten.
Einer ihrer Bewacher eilte die spiralförmige Treppe hinauf, während der andere mit Alicia unten blieb.
Sie mussten nicht lange warten.
Nur wenige Minuten waren vergangen, bis die Wache die Treppe wieder herunter kam. Sie gab der anderen einen ungeduldigen Wink. Diese stieß Alicia den Schaft ihres Speers in den Rücken und sie stolperte auf die Wendeltreppe zu.
Im Gehen zählte sie die Stufen. Bei fünfhundertsiebenundfünfzig hielten sie an und wandten sich einer der abgehenden Türen zu. Die Treppe ging noch weiter, Alicia glaubte sich erst auf etwa zwei Dritteln des Turmes zu befinden.
Der vorausgehende Wachmann klopfte an, und auf das herrische „Herein!“ von hinter der Tür betraten sie den Raum. Er war riesig. Die Wände waren bedeckt von kunstvollen Bildern und Zierrat. Alicia erhaschte gerade noch einen Blick auf einen thronartigen Sessel am gegenüberliegenden Saalende, als sie einen weiteren Stoß in den Rücken erhielt, so dass sie auf die Knie fiel. Auch die Wachen sanken auf die Knie.
„Wo habt ihr sie gefunden?“, fragte eine Stimme, die Alicia als die des ziegenbärtigen Redners erkannte. Eine der Wachen erzählte in knappen Worten von ihrer Begegnung mit dem Spiegelmacher. Der Ziegenbart hörte still zu, dann befahl er: „Lasst sie aufstehen, damit ich sie mir ansehen kann!“
Alicia wurde auf die Beine gezerrt und wagte den Blick zu heben. Vor ihr stand der Redner, sein Bärtchen noch immer tropfend vor Nässe, und musterte sie herablassend. Er gab den Wachen ein Zeichen, worauf sie Alicias Hände losbanden und sich dann rückwärts entfernten. Der Ziegenbart fuhr fort, Alicia eindringlich zu mustern.
„Woher kommst du?“, fragte er barsch, sobald sie allein waren.
Alicia überlegte fieberhaft. Wieviel konnte sie verraten?
„Ich komme von der anderen Seite des Meeres... “ War Rawania von Meer umgeben?
„Ich bin hierher gekommen, um meinen Großvater, den Spiegelmacher, zu besuchen. Ich weiß wirklich nicht, was Ihr von mir wollt.“
„Und wie heißt du?“
Alicia entsann sich des Namens, den der Spiegelmacher den Wachen am Tor genannt hatte.
„Mein Name ist Rani, Sir.“
Der Ziegenbart konnte sich ob dieser Anrede ein Lächeln nicht verkneifen, schien jedoch mit der Antwort zufrieden zu sein. Er änderte aus heiterem Himmel seine Taktik und nickte väterlich.
„Du musst meine Männer entschuldigen. Wir suchen ein junges Mädchen aus einer anderen Welt, das meinen Plänen gefährlich werden könnte.“ Dabei beobachtete er Alicia genau. Die begriff in diesem Moment. Sie musste den selbsternannten König höchstpersönlich vor sich haben! Der Ziegenbart wollte offenbar ihre Reaktion testen.
„Nicht, dass jemand ernsthaft geglaubt hätte, so ein kleines Mädchen wäre eine Bedrohung, oder? Es sind reine Vorsichtsmaßnahmen, die mich dazu treiben, dieses Kind einzusammeln. Das verstehst du doch, nicht wahr?“ Er lächelte Alicia an. „Dein Großvater wird froh sein, dich gesund und munter wiederzuhaben.“
Er betätigte einen Knopf an der Armlehne seines Sessels, die Tür öffnete sich und ein Mann betrat den Raum. Er sah irgendwie ganz normal aus, fand Alicia, nicht wie die vielen schwarzen Wächter, obwohl auch er schwarz trug. Sein Haar hatte er unter einer Kapuze verborgen und auf seinem Gesicht lag ein melancholischer Ausdruck.
Der Ziegenbart setzte ein strahlendes Lächeln auf.
„Nummer 3, könntest du bitte Nummer 12 holen, damit er unsere junge Dame hier zu ihrem Großvater, dem Spiegelmacher, geleitet?“
Der Mann, der als Nummer 3 bezeichnet wurde, warf Alicia einen Blick zu und runzelte kurz die Stirn, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ mit wehendem Umhang das Zimmer.
Wenig später war er wieder da, diesmal zusammen mit einem anderen Mann. Der Neuankömmling war von kräftiger, gedrungener Gestalt, sein Gesicht war entstellt von Narben. Der schwarze Umhang legte sich eng um seine kräftigen Schultern und schwang bei jeder seiner Bewegungen. Er wirkte alles andere als vertrauenerweckend.
Der Mann zog eine Augenbraue in Richtung Nummer 3 hoch, dann legte er Alicia die rechte Hand auf die Schulter. Alicia bemerkte, dass ihm Zeige- und Mittelfinger fehlten. Nummer 12 warf dem Ziegenbart einen Blick aus seinen stechenden Adleraugen zu, der nickte kaum merklich und Nummer 12 bugsierte sie zur Tür.
Kaum hatten sie den Raum verlassen, wandte sich Nummer 3 an den Ziegenbart.
„Findet Ihr nicht, dass Ihr ein wenig mehr Fairness an den Tag legen könntet?“, fragte er vorsichtig. Nur Nummer 3 konnte sich erlauben, so mit dem Stellvertreter des Königs zu sprechen.
Der fuhr sich mit den Fingern durch das Bärtchen.
„Ich möchte doch meinem besten Mann den Spaß nicht verderben!“, antwortete er mit einem selbstgefälligen Lächeln.
Die drei Finger noch immer in Alicias Schulter gekrallt, verließ Nummer 12 den Turm durch einen Hinterausgang. Es hatte aufgehört zu regnen, doch am Horizont wetterleuchtete es; kein Mensch war zu sehen. Cant mochte ein Dummkopf und ein Tyrann sein, aber er ließ dem eigentlich zweiten Mann des Reiches freie Hand, was wiederum Nummer 12 und seinen Genossen zugute kam. Cant selbst legte niemals so viel Gewalt an den Tag, das durften Leute wie die Nummerierten übernehmen. Vielleicht wusste er nicht einmal um die Menschen, die ihr Leben gelassen hatten für den Versuch, Aréija zu retten.
Nummer 12 fühlte mit der linken, unverstümmelten Hand, die auch die geschicktere war, nach dem Dolch, der in seinem Gürtel steckte. Es war ein verdammt gutes Gefühl.
Draußen vor Aréijas Stadtmauern gab der Spiegelmacher seinem Verbündeten noch auf die Schnelle einige Anweisungen, bevor das schwarze Pferd die Schwingen ausbreitete und sich mit seinem jungen Reiter in den gewittergrauen Himmel erhob. Der Spiegelmacher blickte ihm nach und fragte sich, wann der Junge wohl endlich vernünftig werden würde.
Der junge Mann auf dem geflügelten Pferd freute sich auf seine Mission. Endlich konnte er einmal etwas Nützliches tun.
Der nächste Blitz ließ den Dolch in der Hand von Nummer 12 silbern aufleuchten.
Der junge Reiter drückte seinem Hengst die Fersen in die Seiten, und das gewaltige Tier schoss abwärts, zu der Stelle hin, an der Nummer 12 im Begriff war, junges, unschuldiges Blut zu vergießen.
Beinahe lautlos näherte sich das schwarze Pferd den beiden Menschen. Erst als sie so nah waren, dass er die Todesangst in den Augen des Mädchens sehen konnte, ging der Reiter zum Angriff über.
„He, Hunter, sag bloß, du gehst deiner Lieblingsbeschäftigung nach!“, rief er gegen den Donner an. Der erwünschte Effekt trat umgehend ein. Nummer 12 ließ von seinem Opfer ab und fuhr herum. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Du!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Der allseits gerühmte Verräter. Geh spielen und lass mich meine Arbeit machen!“
Der junge Mann gönnte sich ein spöttisches Lächeln, doch die schwarzen Augen unter dem schulterlangen schwarzen Haarschopf blitzen verächtlich.
„Soso, deine Arbeit. Nun, wie es scheint, wirst du diesmal auf ein weiteres Opfer verzichten müssen.“ Seine Stimme klang auf einmal hart. „Es waren schon zu viele, Hunter. Tut mir leid für dich, aber glaube mir, es ist besser so.“
Damit zog er den Bogen von der Schulter und schoss, ohne eine Sekunde zu zögern.
Als der Mörder bewusstlos zusammengesackt war, landete der junge Mann den geflügelten Rappen. Er sprang zu Boden und beugte sich über den ohnmächtigen Mann.
„So sieht er eigentlich ganz harmlos aus“, befand er. Da fiel ihm das Mädchen ein. Er wandte sich um und schenkte ihr ein Lächeln.
„Ganz schön gefährlich hier, nicht wahr? Bei Euch soll das anders sein. Und jetzt kommt, wir haben einen Spiegelmacher zu beruhigen.“
Alicia war leichenblass. Es ging ihr alles zu schnell, ihr Gehirn hatte noch nicht einmal ganz registriert, dass sie gerade einem Meuchelmörder entgangen war. Sie starrte auf den am Boden liegenden Mann.
„Ist er – tot?“, fragte sie.
„Nein, nur bewusstlos. Betäubungsgift. Er wird Kopfschmerzen haben, wenn er aufwacht.“ Der junge Mann sagte das ohne eine Spur von Mitleid. „Mein Name ist übrigens Amareth. Ich bin ein Vertrauter des Spiegelmachers; um Euch zu beruhigen, er schickte mich.“
Er streckte Alicia die Hand hin, um ihr auf den schwarzen Hengst zu helfen. Immer noch verwirrt und nicht wissend, ob sie dem Jungen einfach so vertrauen konnte, ließ sie sich von ihm auf den blanken Rücken des Tieres heben. Es wunderte sie nicht wirklich, dass es hier anscheinend Pferde mit Flügeln gab. Langsam wunderte sie sich über nichts mehr.
Amareth ließ den Rappen auf einem höhlenartigen Felsüberhang im Westen der Stadt, also gegenüber des Tores, landen. Auf dieser Seite Aréijas begann das große Gebirge; kilometerlang nichts als Stein, nichts als grauer, endloser Schiefer. Kein Haus, kein Baum und erst recht kein Mensch, der noch bei Verstand war. Weiter oben waren die Gipfel schneebedeckt und die Luft war zu dünn für Lebewesen.
Die höchsten Gipfel waren bald siebentausend Meter hoch, kein Mensch hatte je ihre Spitzen gesehen.
Der Felsvorsprung, den der Spiegelmacher als Treffpunkt für sicher genug befunden hatte, befand sich etwa auf der Hälfte eines kleineren Ausläufers des riesigen Gebirges. Der geflügelte Hengst musste sehr vorsichtig landen, um nicht von den spitzen Felszacken, die den Absatz umgaben, aufgespießt zu werden.
Von hier oben hatte man einen wundervollen Ausblick über Aréija und die Landschaft zu Füßen der Berge, doch Alicia bemerkte es nicht. Man konnte sich praktisch nicht unbemerkt nähern, höchstens von Westen, vom Hochgebirge, doch das tat niemand.
Amareth half Alicia vom bloßen Rücken des Pferdes, tätschelte ihm den Hals und scheuchte es in den hinteren Teil der Höhle. Er selbst setzte sich an die Kante, ließ die Beine baumeln, pfiff vor sich hin und sah in die Tiefe. Alicia ließ sich ein Stück weiter hinten auf dem Felsboden nieder; sie hatte Höhenangst.
„Und jetzt?“, fragte sie nach einigen Momenten des Schweigens.
„Jetzt warten wir“, entgegnete der junge Mann ohne sich umzudrehen. In der Ferne bemerkte er bereits die Punkte, die den Spiegelmacher und A’en darstellen mussten. Sie waren wirklich schnell.
„Bald werden der Spiegelmacher und einer unserer Verbündeten da sein. Dann beraten wir, was weiter zu tun ist.“
Er wandte sich um und bemerkte, dass das Mädchen ihn musterte. Er lächelte ihr kurz aufmunternd zu, dann wandte er sich wieder seinen Beobachtungen zu.
„Was für ein Verbündeter?“
Amareth runzelte die Stirn, was Alicia allerdings nicht sehen konnte.
„Er nennt sich A’en.“ Der junge Mann sprach den Namen aus wie „Ajen“.
„Ob das sein richtiger Name ist, wissen wir nicht, oder zumindest ich nicht, aber er hat Verbindungen bis in Herrschaftskreise hinauf. Die alten und die neuen. Das ist ausgesprochen nützlich. Er gehört eigentlich zu den Rebellen, aber jetzt hilft er uns."
Alicia beließ es dabei. Sie wollte nicht mehr als diesem Alptraum entkommen.
Tiefer in der Höhle hatte der Rappe seine Flügel gefaltet, sich hingelegt und die Vorderbeine unter den Körper gezogen. Hinter seinem Schopf blitzen zwei dunkle Augen, die von großer Intelligenz zeugten. Er war nicht sehr groß, aber edel und dennoch kräftig gebaut.
Amareth bemerkte ihren Blick.
„Er heißt Lancelot.“
Alicia sah auf. Sie hatte nicht mitbekommen, dass ihr Retter sich umgedreht hatte. Bevor sie etwas erwidern konnte, sah Amareth erneut in den Abgrund.
„Sie kommen.“
Nun rückte Alicia doch näher an den Abgrund und spähte hinab. Auf dem kaum erkennbaren Pfad, der zu dem Absatz hinaufführte, bewegten sich zwei Gestalten aufwärts. Die kleine, gnomenhafte des Spiegelmachers erkannte sie sofort wieder. Die andere Gestalt trug das Schwarz der Rebellen; ihre hohe, schmale Statur kam ihr irgendwie bekannt vor.
Als die beiden näherkamen, begriff Alicia: Es war der Mann, den der Ziegenbart als Nummer 3 bezeichnet hatte. Sie verspürte fast etwas wie Erleichterung. Es schien in diesem ganzen Hexenkessel auch noch Menschen zu geben, die vorhatten, etwas gegen die Rebellen zu tun.
Die beiden Männer betraten das Plateau. Der Spiegelmacher eilte sofort auf Alicia zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und begutachtete sie prüfend.
„Ein Glück, du bist heil da rausgekommen! Ich hab‘ mir fei Sorgen gemacht!“
Alicia glaubte ihm das aufs Wort. Er schien sich um alle Menschen Sorgen zu machen.
Dann erst wandte sich der Spiegelmacher an Amareth. Er klang nicht gerade freundlich.
„Ich hab‘ dir gesagt, du sollst keine Show abzieh‘n! Weißte, sogar so ‘nem alten Trottel wie ich’s bin entgeht net, wie sehr de Nummer 12 hasst, aber meinste nicht, dass de dir wenigstens ein bissl Mühe geben könntst, vorsichtiger zu sein?“
Amareths Wangen färbten sich rot vor Ärger, doch er kniff die Lippen zusammen und schwieg.
Der andere Mann, A’en, stand bloß da und musterte die Szene von Ferne. Keine Regung bewegte sein Gesicht, während der Spiegelmacher den jungen Mann ausschimpfte. Da erhob sich auf einmal das schwarze Pferd, das im Innern der Höhle gelegen hatte. Es lief zu der Gestalt am Plateaurand hin und beschnupperte seinen Umhang. Nummer 3 zog die Hände unter dem Mantel hervor und strich dem Hengst über die Mähne.
„Jetzt weiß Nummer 12 doch, dass du’s warst, der Alicia da rausgeholt hat!“
Der Spiegelmacher wandte Amareth demonstrativ den Rücken zu und nahm Alicia am Arm.
„Komm“, sagte er. „Geh‘n wir.“
„Wohin? Wohin gehen wir? Ich möchte endlich erfahren, was hier eigentlich los ist!“ Alicia hatte heftiger geklungen als beabsichtigt, doch niemand konnte es ihr verdenken.
„Ich erklär’s dir auf’m Weg.“ Der Spiegelmacher bugsierte sie tiefer in die Höhle hinein. A’en, das geflügelte Pferd und Amareth, mit noch immer wütend zusammengekniffenen Lippen, folgten ihnen.
Bald standen sie an der hinteren Felswand der Höhle. Der Spiegelmacher hob die Hand und tastete nach einer Vertiefung im Gestein, fand sie und betätigte einen verborgenen Mechanismus. Die Felswand glitt zur Seite und offenbarte einen Durchgang, gerade groß genug für einen ausgewachsenen Mann.
Alicia klappte die Kinnlade herunter. Der Spiegelmacher bemerkte es gar nicht, er schob sich ächzend durch die Öffnung. In dem dunklen Gang dahinter entzündete er eine altmodische Fackel, die die Felswände beleuchtete.
Alicia kletterte ihm nach und stieß sich dabei den Fuß an einem Zacken, der aus der Wand ragte. Während sie weiterhumpelte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, folgten A’en und Amareth. Der Rappe passte nicht durch die Öffnung. Angst, er könne weglaufen, beziehungsweise -fliegen, schien Amareth nicht zu haben. Hinter dem jungen Mann schloss sich die Felswand wieder. Mittlerweile hatte der Spiegelmacher mit seinem Bericht begonnen.
„Vor nich so langer Zeit, da war Rawania ‘n glückliches Land. Wir hatten ‘ne junge Königin, wir hatten Frieden, was braucht der Mensch mehr? Aber n‘ paar von uns ham gemerkt, dass was im Busche war. Aus gut unterrichteter Quelle ham wir erfahren, dass man unsre Königin stürzen wollte. Also ham wir uns zusammengetan, ham unsre Vorbereitungen getroffen, Informationen beschafft, Verbündete gesucht. Wir war’n so weit, wir ham diesen Idioten von Möchtegern-Anführer Cant in’s Gefängnis gebracht. Nur, da wollt‘ er nich bleiben. Zwar war’n wir sicher, wo er hingegangen ist, er ist nämlich nicht besonders helle, aber dann ham die Rebellen schneller gehandelt als wir gedacht ham. Schon gestern Nacht ham se die Stadt eingenommen, während wir alle geschlafen ham. Und jetzt ham wir den Salat.“
Der Gang verengte sich ein wenig, die Wände schienen sich zusammenzuziehen beim Gedanken an die Schwarzgewandeten.
Alicia hatte gut zugehört und zog die Stirn in Falten.
„Eins ist mir noch nicht ganz klar.“ Der Mann mit dem Ziegenbart hatte nicht den Eindruck eines hirnlosen Schlägers gemacht. „Dieser Cant, oder wie er heißt, wie sieht der aus?“
„Klein und fett!“, kam es gehässig von Amareth.
Der Spiegelmacher konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Ja, so ähnlich. Warum fragste?“
„Der Mann, dem du begegnet bist, war Lord Kaye, seine rechte Hand“, bemerkte A’en von hinten. Er sprach sehr ruhig und besonnen. „Er ist die wahre treibende Kraft des Aufstandes. Cant ist dafür zu dumm, er ist nur Mittel zum Zweck. Seine Strategie wäre losschlagen und sehen, was passiert. Nein, Kaye ist ein kluger Kopf. Er operiert lieber von hinter der Kulisse, nur dafür braucht er Cant. Er hat alles von seiner Geburt über den Anfang seiner Machtübernahme bis zu seinem Tod durchgeplant.“ Mit A’en verstummten sie wieder.
Alicia hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Die Fackel reichte kaum, die Schatten zwei Schritt vor den Füßen des Spiegelmachers zu verjagen. Nachdem sie einige Zeit schweigend gegangen waren, da niemand wusste, was er sagen sollte, kamen sie an eine große hölzerne Tür. Der Gang schien hier zu enden.
Der Spiegelmacher klopfte dreimal kurz nacheinander an. Wenig später vernahmen sie Schritte auf der anderen Seite. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, im Licht des Feuers erkannte Alicia ein runzeliges weibliches Gesicht, eingerahmt von grauen Locken. Die alte Frau öffnete die Tür ganz und lächelte dem Spiegelmacher stumm zu. Dann ließ sie die anderen vorbei. Sie betraten eine ausgedehnte Höhle, erleuchtet von einigen Fackeln, die in Haltern an der Wand steckten. Im hintersten Winkel gingen drei Türen ab. In zwei Ecken des Raumes waren in einer Vertiefung in der Felswand Feuer entzündet, die einen flackernden Schein verbreiteten. Vor einem dieser Feuer saß an einem Holztisch eine junge Frau in einem langen grünen Kleid, die sich über eine Karte oder einen Plan beugte. Sie hob den Kopf und sah Alicia geradeheraus an. Ein Funke des Feuers tanzte in ihren blauen Augen. Sie erhob sich schwungvoll und trat auf Alicia zu. Ein kleines Lächeln erhellte ihr von Sorgen gezeichnetes, aber dennoch wunderschönes Gesicht, als sie mit einer eleganten Bewegung ihr offenes braunes Haar hinter die Ohren strich. Sie ergriff Alicias Hände mit ihren langen, schlanken Fingern.
„Willkommen in Rawania, Alicia. Ich wünschte, ich könnte dir einen angemesseneren Empfang bieten, doch die momentane politische Lage erlaubt mir das nicht.“
Hilfesuchend sah Alicia sich nach dem Spiegelmacher um. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
„Alicia, des hier is die totgeglaubte Königin dieses Landes, Amariah.“ Er verneigte sich kurz in ihre Richtung. „Wir mussten se hier verstecken. Keiner darf von ihr wissen.“ Alicia fiel auf, dass er seinen breiten Akzent fast ablegte, als er über die Königin sprach. Bevor Alicia zu ihrer nächsten Frage ansetzen konnte, beantwortete er sie schon.
„Was de wissen solltest, nur unserm A’en ham wir’s zu verdanken, dass se noch lebt. Nummer 3. Die Nummerierten, das sind Cants Killer. Glück war’s, dass er A’en den ehrenvollen Job gegeben hat, ‘s Land von seiner Königin zu befreien.“
Alicia sah automatisch zu dem Spion hin. A’en hatte seine Kapuze wieder über das Gesicht gezogen und musterte das Geschehen ausdruckslos. Sein Gesicht war eine einzige undurchschaubare Maske. Die Hände unter dem Umhang verborgen, wirkte er unwirklich und abweisend. Als habe er Angst, dass jemand seinen eigentlichen Charakter erkennen könnte und er dadurch verletzlich würde. Er schien nicht einmal zu bemerken, dass man über ihn sprach.
Auch der Blick Ihrer Majestät blieb an A’en hängen. Eine Weile sahen sie sich stumm an, dann wandte die Königin sich jäh ab und ließ Alicias Hände los. Sie beugte sich erneut über den Plan auf dem Tisch und winkte den Spiegelmacher ungeduldig zu sich. Auch Alicia trat neugierig näher. Es war eine Karte von Rawania samt seinen Nachbarländern, sofern Alicia das beurteilen konnte. Seltsamerweise waren die anderen Länder nicht benannt, sondern nur numeriert. Rawania trug die Nummer Sieben. Sie erkannte das Gebirge, in dessen Innern sie sich gerade befinden mussten, östlich davon die Hauptstadt Aréija, die der Mittelpunkt des Reiches zu sein schien. Weiter nach Osten zogen sich endlose Tiefebenen, bis zu den Grenzen des Reiches. Die sechs anderen Länder waren in einem Halbkreis um Rawania herum angeordnet, das sich als größtes Land in einer halbmondförmigen Bucht befand. Die Karte endete am Meer.
Im Westen befand sich das Gebirge, hier war der verlassene Teil des Landes. Etwa in einem Drittel des westlichen Rawanias fand sich nichts als Berge und Felsen. Keine Stadt, bis hin zur Grenze des Zweiten Landes.
Königin Amariah erklärte dem Spiegelmacher offenbar Wege, Hilfe aus den umliegenden Ländern zu organisieren.
Keiner der anderen gab auch nur einen Mucks von sich, sei es aus Ehrfurcht vor ihrer Königin oder, in Amareths Fall, weil sie in Gedanken versunken waren. Der Junge musterte die junge Frau mit einem Blick, den Alicia nicht zu deuten vermochte; seine Stirn wies tiefe Falten auf. Es war eindeutig Zweifel in seinem Blick, Unglauben und Trauer.
Es gab so vieles, das Alicia nicht verstand. Hatte sie zu Anfang geglaubt, hier nur kurz eine Datensicherung zu knacken und wieder nach Hause zu gehen, kam ihr nun alles unwirklich vor, angefangen bei Mr Stuarts Auftrag. War es wirklich erst einen Tag her, dass sie durch den Spiegel gekommen war?
Während sie darüber nachsinnierte, hob der Spiegelmacher den Kopf.
„Sagt mal, wollt ihr jetzt alle hier mit Leichenbittermienen rumstehen und uns verrückt machen? Amareth, geh und bring Alicia zu Ra’ana, der will se sicher kennenlernen. A’en, dich brauchen wir noch“, fügte er schnell hinzu als auch Nummer 3 sich zum Gehen wandte. Für einen Moment zuckten A’ens Gesichtsmuskeln, doch sofort hatte er sich wieder unter Kontrolle und trat folgsam an den Tisch.
Amareth zog eine Augenbraue hoch und drehte sich um, er öffnete die Tür und ging ohne ein weiteres Wort. Alicia warf dem Spiegelmacher einen letzten Blick zu, dann folgte sie ihm.
Draußen im Gang herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Amareth machte sich nicht die Mühe, eine Fackel zu entzünden, und Alicia musste sich vorsichtig vorwärts tasten. Mehr als einmal verlor sie ihren Führer beinahe. Der schien noch immer wütend wegen des Rüffels des Spiegelmachers. Und es war mehr als das, etwas schien ihm Kopfzerbrechen zu bereiten. Alicia wünschte sich, mehr über die Umstände zu erfahren, die die einzelnen Personen zu diesem Bündnis getrieben hatten.
Kapitel 3: Der Rabe
Amareth stoppte so plötzlich, dass Alicia gegen ihn lief. In der Dunkelheit konnte sie nicht sehen, warum er stehen geblieben war, doch sie hörte, dass etwas über die Felswand schabte, wenig später floss Licht durch den Gang. Eine weitere Tür, gut getarnt in der Felswand, schwang auf. Dahinter lag ein Raum, nicht halb so groß wie der der Königin. Am einen Ende der Höhle stand ein Schreibtisch aus dunklem Holz, der über und über mit Kabeln, Steckern und Mikrochips beladen war. Genau dieselbe Ordnung herrschte überall im Zimmer. Am anderen Ende stand ein einfaches hölzernes Bett. Mitten im Raum auf dem Fußboden saß ein Mann. Eine riesige Brille zierte seine gekrümmte Nase, die seine Augen vergrößerte und ihm etwas vogelartiges verlieh, als er zu ihnen aufschaute. Inmitten des Chaos um ihn herum wirkte er verschwindend klein. Offenbar war er mit dem vergeblichen Versuch beschäftigt, zwei Kabelenden mit einer Kupferklemme zu verbinden, doch seine Finger schienen zu groß und plump dafür.
Was Amareth von dem komischen Kauz hielt, war nicht zu übersehen. Er verzog verächtlich die Lippen, als er sagte: „Darf ich vorstellen: Ra’ana, der Rabe. So nennen wir ihn. Er ist das Genie, das hinter diesem Aufstand steckt.“
Überrascht blickte Alicia ihn an. Der Mann am Boden räusperte sich vernehmlich.
„Ich muss doch sehr bitten!“ Seine Stimme krächzte tatsächlich wie die eines Raben. „Ich bin nicht der Urheber dieser Unruhen.“ Er wollte fortfahren, doch Amareth unterbrach ihn.
„Natürlich nicht. Wie komme ich bloß darauf?“
Ra’ana schaute ihn beleidigt über seine riesigen Brillengläser an, was ihm schwer fiel, da sie fast bis zu dem Ansatz seines strähnigen schwarzen Haars reichten.
„Sprich nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst und unterbrich mich nicht! Ach ja, wenn wir schon beim Thema sind, ich würde gerne ein paar Worte mit diesem jungen Fräulein unter vier Augen wechseln.“
Alicia konnte nicht sehen, ob Amareth beleidigt war; er verließ die Höhle kommentarlos.
„Setz dich.“ Der Mann wies auf einen mit Papier beladenen Stuhl. „Wirf das Zeug einfach auf den Boden.“
Alicia räumte sich ein Plätzchen frei und wartete gespannt auf Ra’anas Erklärung. Der seufzte.
„Weißt du, ich bin nun mal ein Genie, aber hier erkennt das keiner an. Ich habe... Was denn?“ Alicia machte ein irritiertes Gesicht.
„Hier? Heißt das, Sie... ?“
„Ja, ja, ich komme auch aus deiner Welt. Bevor du mich schon wieder unterbrichst, ich bin keiner der beiden anderen.“ Diese Aussage klang irgendwie logisch. „Ich bin aus Versehen hier gelandet, beim Rasieren. Die Lage dieses Landes war katastrophal. Kein fließendes Wasser, kein Strom, die haben noch nicht mal den Buchdruck erfunden! Ich kriege die verdammte Klemme nicht fest!“
So langsam begann Alicia zu begreifen.
„Dann waren Sie das mit dem Computer! Sie haben den Computer für das Königshaus gebaut!“
„Ich hatte immerhin genug Erfahrung! Ich habe für eine Laptop-Firma gearbeitet.“
Er bemerkte Alicias Gesichtsausdruck und verstand, dass ihr Einwurf keineswegs als Kompliment gedacht war.
„Vielleicht war es eine etwas voreilige Entscheidung?“, fragte er, unsicher geworden.
Alicia hätte beinahe den Kopf geschüttelt vor Entsetzen über so wenig Weitsicht.
„Man kann doch nicht einfach die ganze Zeit von vierzehnhundertirgendwas bis zum 21. Jahrhundert überspringen!“, entgegnete sie.
„So lange wollte ich nicht warten“, murmelte Ra‘ana beschämt.
„Aber woher kam Amareths Anschuldigung, Sie wären schuld an diesem Aufstand?“
Ra’ana rutschte auf dem Boden herum. Diese Wendung des Gesprächs schien ihm höchst unangenehm.
„Nun ja, die Rebellen, also, die haben über technische Wege kommuniziert. Was wir ja nicht überwachen konnten, nicht wahr? Aber ich habe keine Ahnung, wie sie an das Zeug rangekommen sind. Ich kann nur einfache Programme schreiben, und es hat ziemlich lange gedauert, bis ich ein bisschen was zustande bekommen habe. Das E-Mail-Programm stammt auch nicht von mir. Ich habe ein wenig improvisieren müssen, und da hab‘ ich verspiegeltes Glas benutzt. Na, auf jeden Fall hatten wir plötzlich Internetzugang.“ Seine Stimme klang auf einmal würdevoll. „Ich bin der königliche Computerverwalter.“
Im selben Moment öffnete sich die Tür und Amareth streckte den Kopf herein.
„Habt ihr jetzt genug Geheimnisse ausgetauscht, königlicher Computerverwalter?“, fragte er, doch er klang nicht mehr wütend. Ra’ana nickte bloß. Die beiden schienen sich nicht besonders leiden zu können.
„Wir dürfen wieder zur Krisensitzung. Du sollst auch gleich mitkommen, Ra’ana.“
„Das ist ja mal was neues, dass Normalsterbliche zu euren blöden Sitzungen kommen dürfen“, murmelte der Rabenmann und versenkte die Kabelklemme resigniert irgendwo in der Unordnung um ihn. „Die finde ich nie wieder“, bemerkte er überflüssigerweise, dann erhob er sich und rückte seine Brille gerade.
Alicia legte den Stapel Papier, größtenteils selbstgezeichnete Schaltungen, oder zumindest etwas, das danach aussah, zurück auf seinen Platz auf dem Stuhl und folgte Ra’ana und Amareth in den dunklen Gang.
Der Weg zurück zur Höhle der Königin kam Alicia um einiges kürzer vor als in die andere Richtung. Langsam begann sie sich im Innern des Berges richtiggehend auszukennen, dachte sie ironisch.
Die übrigen Verbündeten standen noch immer um den Plan herum, der Spiegelmacher hielt sich bereits den Rücken vom langen Stehen.
Als Alicia eintrat, richtete sich der klare Blick der Königin auf sie.
„Was habt ihr beschlossen?“, fragte Ra’ana neugierig, sobald er einen Blick auf die Landkarte erhascht hatte.
A’ens Blick war vernichtend. Anscheinend konnte den Raben keiner besonders gut leiden. Der Spiegelmacher wandte sich zu ihm um und winkte ihn zu sich. Er deutete auf das Land mit der Nummer 2.
„Ra’ana, wir ham ‘ne Aufgabe für dich gefunden. Dein Vorteil is, dass dich niemand kennt, der Nachteil, dass de ‘s Land net kennst. Deshalb sollste am Fuße des Gebirges entlang zum Zweiten Land geh‘n und beim dortigen König für uns vorsprechen. Du bist leider der einzige, der diesen Auftrag übernehmen kann. A’en wird hier gebraucht, außerdem tät’s bissl auffallen, wenn er nich zur Arbeit erscheinen würd‘, Ihre Majestät kann natürlich au net geh’n, und ich selber bin zu alt für so ‘nen Fußmarsch, außerdem bin ich bekannt wie ‘n bunter Hund.“
Ra’ana zog einen Schmollmund.
„Was ist mit ihm? Warum kann er nicht gehen?“ Er wies auf Amareth.
„Amareth wird für die andere Richtung gebraucht. Ihn werden wir in das Fünfte Land und zu dessen König schicken, denn er kennt sich aus in meinem Reich“, schaltete sich Königin Amariah ein. „Er ist zwar auch ziemlich bekannt, aber ihn halte ich eher für fähig, sich nicht zu verirren.“
Beleidigt verzog sich der Rabenmann in eine Ecke, in der die alte Frau mit Kochen beschäftigt war.
„Und was ist mit mir?“, wagte Alicia zu fragen. Die Königin sah sie lange an.
„Das kommt auf dich an“, erwiderte sie schließlich. „Es kommt darauf an, ob du uns helfen willst oder zurück in deine eigene Welt möchtest. Ich kann dich nicht zwingen, hier zu bleiben, und ich sage dir auch, es wird nicht einfach und zudem auch gefährlich werden, doch solltest du dich dafür entscheiden, müsstest du mit Amareth gehen.“
„Werden die Herrscher des Zweiten und Fünften Landes Euch helfen?“, fragte Alicia vorsichtig.
„Der Hilfe des Zweiten Landes bin ich mir ziemlich sicher“, meinte Amariah. „Deshalb schicke ich auch Ra’ana. Das Fünfte Land untersteht dem Zwergenkönig Rocco, es ist völlig unparteiisch. Um Rocco soweit zu bringen, dass er uns hilft, braucht es weit mehr als nur ein paar nette Worte. Er wird einen Vorteil für sich und sein Volk suchen. Deshalb wird Amareth gehen. Er beherrscht die Sprache der Zwerge ein wenig und kennt sich gut aus. Ich möchte dich wirklich nicht in deiner Entscheidung beeinflussen, aber die Chancen stünden natürlich besser, wenn ihr zu zweit wärt.“
Alicia sah von einem zum anderen. Königin Amariah musterte Alicia aufmerksam. Der Spiegelmacher wartete gespannt auf ihre Antwort. Er hatte sich an den Tisch gelehnt und die Arme vor dem Körper verschränkt. A’en sah wie immer unbeteiligt drein, doch seine braunen Augen funkelten. Ra’ana trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Und Amareth... Amareth sah aus, als versuche er ein ebenso gleichgültiges Gesicht zu machen wie A’en.
Alicias Blick richtete sich wieder auf die blauen Augen der Königin.
„Also gut“, sagte sie schließlich. „Ich helfe Euch.“
Amariah nickte nur ruhig, als habe sie nichts anderes erwartet. „Dann solltet ihr morgen schon aufbrechen. Ruhe dich aus, Alicia, denn deine Reise wird anstrengend werden.“
Sie gab der alten Frau einen Wink, die daraufhin von dem Kessel abließ, in dem sie gerührt hatte, und herbeieilte. Sie schenkte Alicia eines ihrer stummen Lächeln und führte sie dann zu einer der abgehenden Türen im hinteren Teil der Höhle.
Der dahinterliegende Raum war nur so groß wie ein geräumiger Besenschrank. Ein einfaches Bett, ein Schränkchen und ein Stuhl bildeten die ganze Einrichtung. Während die Frau stumm auf das Bett wies, spürte Alicia, wie müde sie war. Die Frau verließ die Kammer und kehrte wenig später mit einer dampfenden Schüssel voller Suppe zurück. Sie lächelte noch einmal, dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich. Alicia aß die Suppe, zog sich aus und legte sich in das Bett. Die Matratze war mit Stroh gefüllt und ziemlich hart, doch das störte sie nicht. Sie schlief kurz darauf ein.
Kapitel 4: Aufbruch
Am Fuße des Gebirges warteten Amareths Rappe Lancelot und ein kleinerer, grauer Wallach, dessen große haselnussbraune Augen so sanft blickten wie die eines Lammes.
„Ich hoff‘ doch mal, du kannst reiten!“, sagte der Spiegelmacher, der hinter ihnen den steinigen Pfad hinunterkeuchte.
„Ein wenig“, meinte Alicia bescheiden, während sie krampfhaft versuchte, nicht gähnen zu müssen. Sie war eine ausgesprochene Langschläferin, wenn man sie ließ. Amareth hingegen wirkte frisch und munter, er war glänzender Laune. Er belud seinen Hengst mit Vorräten, während dieser mit der Nase in seiner Tasche herumstöberte.
Im Osten begann der Horizont gerade rot und orange zu glühen. Alicia schätze, es müsse etwa sechs Uhr sein, doch genau wusste sie es nicht, da ihre Uhr seit ihrer Reise durch den Spiegel stehengeblieben war. Die ferne Stadtmauer von Aréija ragte beinahe unheimlich aus der ebenen Umgebung. Obwohl auch sie den goldenen Schein der Sonne spiegelte, wirkte sie doch irgendwie bedrohlich.
Von Königin Amariah und ihrer stummen Zofe hatten sie sich bereits in der Höhle verabschiedet; die beiden durften unter keinen Umständen gesehen werden. Ra’ana sollte nur unwesentlich nach ihnen aufbrechen, da er erstens nicht wachzubekommen war und zweitens die Möglichkeit bestand, dass sie unterwegs abgefangen wurden. Wenn sie getrennt reisten, konnte immer noch eine Gruppe Erfolg haben.
Bevor Alicia den Fuß in den Steigbügel des Grauen setzte, wandte sie sich noch einmal um zum Spiegelmacher, der ein Stück entfernt stehengeblieben war. Er schien Pferde nicht zu mögen, ganz im Gegensatz zu seinem Esel.
„Seid vorsichtig, gell? Und kommt mir ja gesund wieder! Ich will net hören müssen, dass mir unser Gast unterwegs auf der Strecke geblieben is!“, rief er ihnen über den Sicherheitsabstand hinweg zu.
„Ich passe schon auf sie auf!“, antwortete Amareth grinsend.
Der Spiegelmacher murmelte etwas wie „Des kann ich mir denken!“ und begann dann den Aufstieg zurück zu dem Felsvorsprung. Amareths Rappe warf ungeduldig den Kopf hin und her.
„Wir sollten los.“ Amareth ritt auch diesmal ohne Sattel, wahrscheinlich passte ein Sattel nicht über die angelegten Flügel des Hengstes. „Kommst du allein rauf?“ Alicia bemerkte, dass er das förmliche „Ihr“ vom Vortag abgelegt hatte. Sie nickte und bestieg den Wallach. Es war einige Monate her, seit sie zum letzten Mal geritten war, doch sie hatte einmal gelesen, dass man manche Sachen nicht verlernte. Tatsächlich fiel es ihr relativ leicht, sich auf dem schaukelnden Pferderücken zu halten. In dem grauen Leinenumhang, den die Königin ihr gegeben hatte, kam sie sich tatsächlich vor wie eine Spionin mit Geheimauftrag.
In einem weiten Bogen umrundeten sie die Stadt und bewegten sich querfeldein vorwärts. Das war zwar mühsamer, doch Amareth wollte nicht das Risiko eingehen, gesehen zu werden. Keiner von ihnen sprach viel. Alicia hing ihren Gedanken nach und bewunderte die Landschaft. Es kam ihr so unwirklich vor, dass sie laut Schätzung Amareths in etwas mehr als drei Tagen einem Zwergenkönig begegnen sollte, der für seinen Jähzorn bekannt war und das zweitgrößte der Sieben Länder regierte.
Sie folgten dem Flusslauf, den Alicia schon bei ihrem Marsch nach Aréija bemerkt hatte. Wie eine blaue Schlange schlängelte er sich durch die Hügellandschaft, schmal und reißend, irgendwo in das Meer mündend, das keiner in Rawania oder den Sieben Ländern je durchschifft hatte. Amareth und der Spiegelmacher hatten ihr anhand der Karte erklärt, dass sie erst einmal Sunset Haven ansteuern würden, eine der größten Handelsstädte in Rawania. Von dort aus würden sie die große Ebene durchqueren, die, wie der Spiegelmacher ihr erklärt hatte, den Namen Tulgra, „Die Unendliche“, trug. Für diesen Abschnitt ihres Weges rechnete Amareth bei gutem Vorankommen mindestens drei Tage, wenn nicht noch länger. Feixend hatte er ihr versprochen, dass sie sich nach zwei Tagen im Sattel kaum noch rühren können würde. Das hatte sie ihm aufs Wort geglaubt.
Sie ritten hintereinander auf einem schmalen Trampelpfad, der parallel zum Fluss in Richtung Süden, zum Meer hin, führte. Die Sonne schien und ließ das Gewitter vom Vortag vergessen. Die Luft war erfüllt von Gezwitscher; einige Vögel, die Alicia noch nie gesehen hatte, flatterten zwischen den Bäumen umher, die meistens auf den Hügelkuppen in kleinen Wäldchen zusammenstanden. Nur hie und da entdeckten sie ferne Dörfer, Menschen bei der Feldarbeit, Kinder beim Spiel. Hier ging das Leben seinen gewohnten Gang, entweder hatte man noch nichts von der Machtübernahme der Rebellen gehört oder man glaubte, ohnehin nicht viel ausrichten zu können. Die Bauern hatten allesamt eine Familie zu ernähren und möglichst viel einzubringen, bevor Cant anfing die Steuern zu erhöhen. Denn dass das eintreffen würde, schien allen klar zu sein. Ob die neue Regierung wirklich so viel Unterstützung im Volk hatte wie ein unaufmerksamer Beobachter annehmen konnte, dessen war sich Alicia längst nicht mehr sicher.
*
Lord Kaye steuerte direkt auf die goldbeschlagene Tür zu und trat ein ohne anzuklopfen. Er schätzte Höflichkeitsfloskeln nur, wenn sie zu seinem Vorteil waren.
Cant saß auf dem Thron, der eigentlich Königin Amariah zugestanden hätte. Der neue König war gekleidet in besten Samt, das blonde Haar ordentlich gescheitelt; er liebte seine eigene Erscheinung. Kaye fand diese Selbstverherrlichung nur anmaßend.
Cant zuckte zusammen, als sein Verwalter den Thronsaal betrat. Mit einer unwirschen Bewegung seiner beringten Hand hieß er Kaye, näher zu treten. Dieser kniete vor ihm nieder, doch er tat es mit unübersehbarem Spott in den Augen. Auch senkte er den Kopf nicht um einen Millimeter.
„Was hast du zu berichten?“, fragte Cant gelangweilt. Er hatte sich das Königsein deutlich spannender ausgemalt, denn inzwischen kannte er den Inhalt der königlichen Schatzkammern auswendig.
„Erlaubt, Majestät, dass ich Euch über die neuesten Ereignisse in Kenntnis setze. Es gab einige überraschende Faktoren in unserem Vorhaben, das Mädchen aus der anderen Welt zum Schweigen zu bringen.“
Cant forderte ihn mit einem Nicken auf fortzufahren.
„Zwar haben wir sie gefasst, wie Ihr wisst, doch ist es einem außenstehenden Verbündeten des sogenannten Spiegelmachers gelungen, unseren Mann auszuschalten und die junge Dame, die sich nun vermutlich Rani nennt, an einen unbekannten Ort zu schaffen.“
„So was Dummes. Hat man den Mann geköpft?“, fragte Cant, auf einmal spiegelte sich Interesse in seinen blassen graublauen Augen. Hinrichtungen mochte er. Kaye verdrehte innerlich die Augen.
„Er ist doch entkommen, Majestät. Auf einem geflügelten Pferd.“ Sollte dieser Hinweis etwas in Cants dummem Kopf zum Klingeln bringen, verfehlte Kaye sein Ziel um Haaresbreite.
„Aber ich meine doch unseren Mann. Der, der sich hat übertölpeln lassen. Hat man vor, den zu köpfen?“
„Mit Verlaub, Majestät, es ist unser bester Killer.“ Komm schon, dachte er genervt.
„Ach, Nummer 12? Sag’s doch gleich, ich kann doch keine Gedanken lesen. Na schön, und ist er wieder bei Bewusstsein? Hat er etwas über den Entführer ausgesagt?“
„Ja, hat er. Er ist uns wohl bekannt, Majestät. Bekannt unter dem Künstlernamen... “
Kaye machte eine Kunstpause. „... der Verräter!“
Diesmal traf er ins Schwarze. Cant schnappte nach Luft.
„Diesmal ist er zu weit gegangen!“, rief er aus. „Diesmal werde ich nicht eher ruhen, bis ich ihn bei seiner vermaledeiten Mutter unter der Erde weiß!"
„Tut das!“, stimmte ihm Kaye zu. Es war zwecklos, Cant erklären zu wollen, dass wohl noch eher Kaye das Recht besaß, Amareths Mutter zu beschimpfen. „Nummer 12 will natürlich ohnehin Rache nehmen. Ich denke, ihn mit dieser Aufgabe zu betrauen, wäre eine gute Idee.“
„Denk lieber nicht“, murmelte Cant. Er hatte das mal wo gelesen. Seit er lesen konnte, sagte er öfter solche Sachen, auch wenn er ihren Sinn nicht immer ganz durchschaute. „Aber von mir aus, setze Nummer 12 auf den kleinen Narren an. Er wird sich wünschen, zweimal nachgedacht zu haben, ehe er sich gegen mich stellt!“
Kaye lächelte stumm in sich hinein. Er brachte es immer fertig, Cant auch noch glauben zu machen, es wären alles seine eigenen Ideen gewesen. Cant war so schrecklich naiv. Irgendwann würde er sich selbst ruinieren. Doch zum Glück gab es ja seinen treuen Verwalter.
*
Nummer 12 war zufrieden. Er würde seine Rache bekommen und gleichzeitig seinen missglückten Auftrag ausführen. Dass so etwas ausgerechnet ihm passieren musste! Er war schließlich der Beste! Doch es war nicht Hunters Art, sich lange über etwas aufzuregen. Seine Methode war in der Tat ein wenig anders, und sie hatte viel mit seinem geliebten Dolch zu tun.
Nachdem Hunter einigen Bauern mit selbigem unter der Nase herumgefuchtelt hatte, wusste er, was er wissen wollte. Zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen, zusammen mit einem geflügelten Rappen. So einfach war das. Doch was wollten die beiden in Sunset Haven? Hatte der Spiegelmacher dort sein Quartier aufgeschlagen? Nein, das konnte nicht sein. Schließlich war er noch vor wenigen Stunden vor Aréijas Toren gestanden. Nach Sunset Haven war es mindestens ein Tagesritt, und soweit Hunter informiert war, hasste der Spiegelmacher Pferde. Hunter war meistens ziemlich gut informiert.
Er bestieg seinen Braunen und machte sich auf, das zu tun, was er am besten konnte.
Das zu tun, wozu er bestimmt war.
Er hatte seine Jagd begonnen.
*
Sie legten die erste Rast gegen Mittag ein. Als sie nebeneinander im hohen Gras unter einer Silberpappel saßen, wagte Alicia, Amareth über die Zwerge auszufragen, in deren Land sie reisen sollten. Amareth freute sich anscheinend über ihr Interesse.
„Die Zwerge sind ein komisches Volk“, erklärte er. „Sie sind streit- und herrschsüchtig und unglaublich schnell beleidigt. Wenn du etwas sagst, das einem Zwerg nicht gefällt, kann es passieren, dass er nie wieder mit dir spricht. Und glaube mir, darin sind Zwerge verdammt gut! Da man aber nie weiß, was einem Zwerg nicht passt, da sie das reichlich oft ändern, hält man als Unwissender am besten den Mund. Ihr König wechselt dauernd. Mal sind alle Zwerge für den einen, dann wieder für den anderen und dann bekriegen sie sich wieder wegen einem König. Das ist lustig, solange man nicht in ein solches Duell verwickelt wird, denn wenn man jemals einen Zwerg hat kämpfen sehen, vergisst man das nicht so schnell. Ihre geringe Körpergröße machen sie durch Schnelligkeit wett. Es gab erst einen Menschen, der einen solchen Kampfzwerg besiegen konnte, glaube ich. Deshalb wäre es für uns sehr von Vorteil, wenn wir ihrer Hilfe sicher sein könnten.“
Er legte eine kurze Atempause ein und schlug die Beine übereinander. „Dann ist da ihre Sprache. Zwerge sind sehr intelligent und wahnsinnig paranoid. Das verträgt sich nicht gut. Sie haben eine Sprache entwickelt, die so kompliziert ist, dass ein Menschenleben nicht ausreicht, sie zu lernen. Für jeden Gegenstand gibt es tausend Wörter, die ihn näher beschreiben. So weiß jeder Zwerg ganz genau, ob sein Nachbar mit dem Wort Wind ein leichtes Lüftchen meint, eine etwas stärkere Böe oder einen Sturm und so weiter. Es ist furchtbar für sie, wenn du nicht den richtigen Ausdruck für etwas verwendest. Die Grammatik ist grausam. Es gibt gerade mal zwei Menschen, die Zwergisch fließend sprechen, und die sind uralt und lernen es seit ihrem zweiten Lebensjahr.“
Er erhob sich und streckte Alicia die Hand hin. Sie ergriff sie und ließ sich von ihm auf die Füße helfen.
„Ich selbst beherrsche nur die vereinfachte Form ihrer Sprache. Und selbst das würde ich als gebrochen bezeichnen. Das macht aber nichts, da Zwerge selbst ein großes Talent für Sprachen besitzen; sie sprechen alles, was man in den Sieben Ländern an Dialekten finden kann.“
Sie schwangen sich wieder auf die Pferde und schlugen einen anderen, breiteren Weg ein.
„Ach, aber das schönste sind ihre Namen. Wenn du einen Zwerg findest, dessen Name nicht mit O beginnt, kannst du sicher sein, den König vor dir zu haben, der ja auch ziemlich häufig wechselt. Das O ist ihnen heilig – es ist so schön rund –, und da es inzwischen so viele Zwerge gibt und kein Name doppelt vorkommen darf, hat man einfach immer mehr Buchstaben drangehängt. Onamiksagibsalipsumps gehört noch zu den harmlosen Versionen.“ Er lachte. „Man braucht ein verdammt gutes Gedächtnis, denn wenn man einen Zwerg mit falschem Namen anspricht, wird er für immer mit dir beleidigt sein. Noch schlimmer natürlich, wenn man versehentlich den Namen seines derzeitig ärgsten Feindes benutzt, was sich ja auch dauernd ändert. Auch die Machtwechsel bekommt man außerhalb des Fünften Landes kaum mit. So etwas kann sich über Jahre hinweg ziehen oder über Nacht gehen. Aber Roccos Herrschaft ist ziemlich stabil, soweit ich weiß. Die Zwerge mögen ihn, jedenfalls jetzt gerade. Wer weiß, wann sich das wieder ändert. Dann muss er allerdings wieder seinen alten Namen annehmen, wenn den einer weggeschnappt hat, gibt’s wieder Krieg. Es gibt ein riesiges Buch, in dem jeder nachlesen kann, ob es den Namen bereits gibt, den er seinem Kind geben will. Willst du sonst noch was wissen?“
Nach diesem Vortrag schwirrte Alicia der Kopf.
„Und du besitzt so viel diplomatisches Geschick, dass die Königin dich schickt?“, fragte sie schließlich.
Amareth konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Das hofft sie zumindest. Ich werde versuchen, sie nicht zu enttäuschen.“
*
Hunter wusste, wie er vor dem Mädchen und dem kleinen Verräter in Sunset Haven sein konnte. Schließlich war er der Beste in seinem Job. Noch einmal würde er seinen Herrn nicht enttäuschen; er würde den beiden in der Hafenstadt einen hervorragenden Empfang bereiten. Hunter hatte gute Kontakte überall auf der bekannten Welt.
*
Etwa drei Stunden waren sie seit ihrer Pause geritten. Alicia begann jeden einzelnen ihrer Knochen zu spüren, und sie versuchte, nicht jedesmal das Gesicht vor Schmerz zu verziehen, wenn der Graue unter ihr einen schnelleren Schritt machte. Amareth sah ihre Bemühungen und bemühte sich, ernst zu bleiben, als er ihr versicherte, dass es nicht mehr lange dauere.
Und er hatte Recht: Nicht viel später stießen sie auf eine breite Straße, auf der mehrere Pferdewagen in beide Richtungen unterwegs waren und die auf eine imposante Stadtmauer zuzuführen schien. Als sie sich auf dem Weg nach Sunset Haven eingereiht hatten zwischen einem Bauernkarren und einem flotten Zweispänner, dessen Kutscher vortrefflich fluchen konnte, kehrte Amareths Beredsamkeit zurück. Er verwies auf die vielen vornehmen Kutschen und erklärte, dass durch den Fernhandel viele Männer ihr Glück gemacht hätten. Allerdings war das mehr oder weniger schwierig, da die Länder, mit denen gehandelt wurden, sich inkognito hielten und nur mit ausgewählten Kaufleuten handelten. Sie lagen auf der anderen Seite des Meeres, doch kein Bürger der Sieben Länder war jemals dort gewesen.
Amareth erklärte ihre Herren für noch paranoider als die Zwerge es waren, was wohl einniges heißen wollte.
Sie passierten die genervten Torwachen und ritten in die Stadt ein. Sunset Haven war nicht so auffällig gebaut wie Aréija, es wirkte ein wenig wie eine mittelalterliche Burg. Die gepflasterte Hauptstraße führte vorbei an großen, beeindruckenden Villen und einem geschäftigen Marktplatz, der erfüllt war vom Geschrei der ihre Ware anpreisenden Händler. Amareth und Alicia stiegen ab und führten die Pferde am Zügel, als sie in das Gedränge auf dem Markt kamen; nur der Stadtwache war es gestattet, in der Menge zu reiten. Deshalb erkannte man sie nicht nur an ihren leuchtend roten Gewändern bereits von weitem.
Amareth führte Alicia mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die enger werdenden Gassen, die längst nicht mehr die Wohnorte der reichen Kaufleute waren. Sunset Haven hatte wie alle Städte seine Schattenseiten, die natürlich gerne verschwiegen wurden.
Amareth führte Alicia zu einem ziemlich heruntergekommenen Gasthof in einer ebenso heruntergekommenen Seitengasse. Als er ihren Blick bemerkte, lachte er.
„Es sieht nur von außen so schlimm aus. Drinnen ist es besser.“ Alicia versuchte wirklich, ihm zu glauben.
Amareth schlug gegen die hölzerne Tür, die schräg in ihren Angeln hing, und wenig später wurde ein kleines Fenster neben dem Eingang aufgestoßen und ein Mann streckte den struppigen Kopf heraus.
„Was wollt Ihr?“, rief er ärgerlich. Sein Atem roch so stark nach Alkohol, dass Alicia es auf ihre zwei Meter Entfernung noch gut riechen konnte.
„Wir wollen nur zwei Zimmer für die Nacht und einen Ort, an dem wir unsere Pferde unterstellen können!“ Amareth ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Der Mann brummte etwas Unverständliches, dann zog er den Kopf zurück und kurz darauf bewegte sich knarzend der Riegel. Alicia vernahm ein unterdrücktes Fluchen. Die Tür schob sich ächzend und keuchend wie eine alte Lokomotive auf. Der Mann, dessen übriges Äußeres auch nicht gerade dem eines Edelmannes entsprach, scheuchte einen mageren Jungen von vielleicht elf Jahren zu ihren Pferden und gab ihm unwirsch die Anweisung, sie in den Hof zu bringen und Futter und Wasser bereitzustellen. Das schmächtige Bürschchen strich bewundernd über Lancelots angelegte Flügel, fasste dann die Zügel der beiden Tiere und sauste davon. Der Wirt ließ Amareth und Alicia herein und schlug die Tür wieder zu, so heftig, dass Teile des morschen Holzes abbröselten. Anschließend wankte er ihnen voran in die verrauchte Wirtsstube.
„Halt dich bei mir!“, flüsterte Amareth ihr noch zu, ehe er dem schmuddeligen Wirt folgte. Das hätte Alicia ohnehin getan. In der Schenke war es brechend voll, Alicia entdeckte keine einzige Frau. Nur Männer, abgebrannte, zerbrochene Männer, die ihre Sorgen mit Branntwein hinunterzuspülen versuchten. Alicia drehte es beinahe den Magen um; dies war wirklich nicht die Art Gesellschaft, die sie genoss. Der Wirt brüllte quer durch den Raum nach einem anderen Jungen, noch jünger, verstört und ängstlich, der herbeihastete, als wäre der Teufel persönlich ihm auf den Fersen. Er übernahm auf den mürrischen Befehl des Wirts die Führung der beiden Gäste, denen neugierige bis unverschämte Blicke auf ihrem Weg folgten.
Er führte sie durch den Schankraum, eine Treppe hinauf und einen Gang entlang bis zu zwei nebeneinanderliegenden Zimmern mit jeweils einem Bett darin, verbunden durch eine Tür.
Dort überreichte er ihnen die Schlüssel und sauste die Treppe wieder hinunter. Amareth seufzte und schloss das eine Zimmer auf. Er hielt Alicia die Tür auf und sie betrat den Raum der eindeutig seit längerem nicht mehr gelüftet worden war. Hinter sich schloss Amareth die Tür wieder und sah sich kopfschüttelnd um.
„Ist ja noch schlimmer geworden, seit ich das letzte Mal hier war!“, murmelte er. „Tut mir Leid, dass ich dir keine edlere Unterkunft bieten kann, aber ich hoffe, hier erregen wir am wenigsten Aufsehen.“ Er hielt ihr den Schlüssel hin. „Du solltest heute Nacht abschließen, sonst kommt womöglich noch einer von den besoffenen Idioten da unten auf die Idee, dir einen Besuch abzustatten!“ Er ignorierte ihren entsetzten Blick. „Ich nehme nicht an, dass du zum Essen runtergehen möchtest? Dann bringe ich dir nämlich etwas von unseren Vorräten.“ Er wandte sich zu der Verbindungstür.
„Gehst du etwa runter?“, fragte Alicia rasch. Amareth drehte sich um und grinste.
„Sicher, zu meinen Saufkumpanen. Nein, ich wollte mich bei dir einladen.“ Er verschwand in dem angrenzenden Zimmer.
Das Abendessen gestalteten sie kurz, da beide müde waren und Alicia sich kaum mehr bewegen konnte vor Muskelkater. Amareth brachte etwas Brot und Käse und sie setzten sich auf die Wolldecke von Alicias Bett. Während Alicia nur wenig aß, begann Amareth, nach ihrer Familie zu fragen. Als sie von ihrem Vater und ihren vier Brüdern erzählte, bemerkte sie, wie sehr sie sie vermisste. Amareth schien es zu spüren, denn er stellte bald keine Fragen mehr. So wünschte er ihr bald eine gute Nacht, klopfte die Decke aus und begab sich in sein eigenes Zimmer, sorgfältig die Tür hinter sich schließend. Alicia verschloss ihre Tür und fiel ins Bett, wo sie kurz darauf fest eingeschlafen war.
Es musste nach Mitternacht sein, als sie aus dem Schlaf schreckte. Sie war sich sicher, etwas gehört zu haben. Da bemerkte sie die offenstehende Verbindungstür und wenig später eine Gestalt, deren Gesicht im spärlichen Mondlicht, das zu der Fensteröffnung hereinsickerte, kaum zu erkennen war.
Sie richtete sich auf und wollte etwas sagen, da presste Amareth ihr die Hand auf den Mund.
„Zieh dich an und komm rüber, beeil dich!“, flüsterte er, dann war er wieder verschwunden. Verwirrt schob Alicia die Füße unter der Decke hervor, als sie auf dem Gang vor ihrem Zimmer ein Geräusch vernahm; es war das selbe leise Klirren, welches sie geweckt hatte. Da draußen war jemand. Sie entsann sich Amareths Anweisungen und streifte sich rasch und leise den Umhang der Königin über. Dann huschte sie zur Verbindungstür und betrat Amareths Kammer. Er erwartete sie am offenen Fenster. Wortlos schob er sie auf die Fensterbank zu.
„Wir sind in eine Falle geraten“, flüsterte er ihr gedämpft ins Ohr. „Draußen auf dem Gang erwartet jemand den Befehl, die Tür aufbrechen zu dürfen und uns den Garaus zu machen. Wir müssen über das Dach des Stalles zu den Pferden.“
Alicia nickte und versuchte die Angst niederzukämpfen, die sich in ihrer Brust breitmachte wie ein gefräßiges Tier und ihr die Luft abschnürte. Vorsichtig bestieg sie den Fenstersims und blickte hinaus in die schwarze Nacht. Ein wenig rechts und zwei Meter unter ihr befand sich der gepflasterte Hof, auf dem ihre Pferde angebunden waren. Ihr wurde schwindelig, sie griff nach dem Rahmen des Fensters; da spürte sie Amareths Hände an ihrer Hüfte, er hob sie hinaus auf das Stalldach. Sobald sie sicher stand, kletterte er hinterher. Mit schlafwandlerischer Sicherheit balancierte er auf dem Dach entlang zu einem Stützbalken, der das Dach vor dem Einsturz bewahrte. Dort angelangt, schlang er die Beine um das morsche Holz und rutschte abwärts, bis er festen Boden unter den Füßen spürte. Lautlos bedeutete er Alicia, es ihm nachzutun. Glücklich unten gelandet, waren ihre Hände übersät mit Holzsplittern. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz, während Amareth ihr bereits die Zügel des Grauen zuwarf. Alicia schwang sich in den Sattel und die beiden Pferde preschten auf das Hoftor zu. Es war geschlossen. Eineinhalb Meter hohe Eisenstäbe lagen zwischen ihnen und der rettenden Gasse. Alicia warf Amareth einen panischen Blick zu, doch der ließ seinen Rappen einfach beschleunigen und setzte in einem eleganten Satz über das Tor hinweg. Ehe Alicia sich bewusst wurde, dass sie noch niemals in ihrem Leben mit einem Pferd gesprungen war, hob auch der Graue ab und flog über das Tor. Die Hände in seine Mähne gekrallt, schloss sie die Augen. Dann war es vorbei, der Wallach kam auf und ging sofort in Galopp über. Alicia riss die Augen auf und schaffte es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Aus dem Gasthaus ins Mondlicht trat, das narbige Gesicht von Hass verzerrt, Nummer 12.
Die Hufschläge hallten verräterisch laut durch die schlafende Stadt. Wie lange würde es wohl dauern, bis Hunter und seine Spießgesellen auf ihren Pferden saßen? Hatten sie genug Vorsprung? Wie hatte er von ihrer Unterkunft erfahren? Solche und ähnliche Gedanken schossen Alicia durch den Kopf, als sie noch immer im gestreckten Galopp durch die Gassen jagten. Die Pferde atmeten schwer, als Amareth sie schließlich durchparieren ließ.
„Wir müssen sie schonen!“, flüsterte er. „Außerdem sind wir weit zu hören. Wir werden sehen, dass wir sie in die Irre führen.“
Er lauschte einen Moment in die Nacht. „Ich kenne einen Wachmann am Osttor, der uns durchlassen wird. Hoffen wir nur, dass er auch Wache hat.“
Danach ritten sie schweigend nebeneinander kreuz und quer durch verlassene Gassen. Wie hoch mochten die Chancen stehen, ebendiese Wache zu erwischen?
Die Dunkelheit hüllte die Pferde ein wie ein Mantel, doch etwas in dieser Nacht schien bedrohlich. Es war, als hielte die ganze Welt den Atem an in der Hoffnung, Amareth und Alicia entkommen zu sehen. Vielleicht war es nur eine gewöhnliche Nacht, hingegen kam sie Alicia dunkler vor als jede andere zuvor.
Endlich erreichten sie das Osttor. Im Mondlicht waren die Silhouetten einiger Wachen auf der Stadtmauer auszumachen, die anscheinend gelangweilt auf und ab gingen. Amareth bedeutete Alicia, still zu sein, dann hob er die Hände an die Lippen und ahmte den Schrei einer Eule nach. Nur wenige Minuten später wurde die Tür zum Innern der Mauer aufgeschoben und eine kleinwüchsige Gestalt trat ins Mondlicht. Sie mochte Alicia kaum bis zur Hüfte reichen. Der Neuankömmling sprach mit erstaunlich tiefer Stimme.
„Amareth, comsar ta?“
Amareth antwortete in derselben Alicia unbekannten Sprache; er schien es eilig zu haben.
Der Zwerg grinste breit, dann eilte er zum Tor und schob es auf, wobei er sich sehr groß machen musste. Amareth bedankte sich, dann ritten sie schweigend hinaus. Hinter ihnen schloss sich das Tor wieder. Erst nach einigen hundert Metern wagte Alicia, Amareth anzusprechen: „Dein Freund eben, war das... ?“
„Ja. Das war ein Zwerg. Ich hab‘ ihm einst das Leben gerettet, seitdem verzeiht er mir sogar, wenn ich seinen Namen vergessen habe. Er heißt Oroposopomolodoc. So begeistert waren seine Eltern von dem Buchstaben O.“ Er lachte, wenn auch sehr leise.
„Glaubst du, dass, wir jetzt außer Gefahr sind?“ Beklommenheit war die richtige Beschreibung für Alicias Gefühl. Amareth runzelte die Stirn, was sie allerdings in der Finsternis nicht erkennen konnte.
„Wir werden bis zum Fünften Land nicht sicher sein. Seit wir wissen, dass Hunter uns auf den Fersen ist, müssen wir doppelt und dreimal so vorsichtig sein.“
Alicia hatte nicht geglaubt, dass sie nach dieser Nacht schlafen konnte. Dennoch schlief sie auf dem schaukelnden Pferderücken ein, sobald Amareth sie am Sattel festgebunden hatte. Er selbst schien jede Müdigkeit zu unterdrücken.
Sie erwachte erst, als sie leicht an der Schulter gerüttelt wurde. Zuerst bemerkte sie, dass sie nicht mehr auf dem schaukelnden Pferderücken lag. Dann bemerkte sie Amareth, der über sie gebeugt stand und auf sie hinunterblickte.
„Na, schon wach?“, begrüßte er sie im üblichen spöttischen Tonfall. „Gibt man dir bei euch in der Welt eigentlich nichts zu essen, oder warum bist du so leicht?“
„Woher weißt du, wieviel ich wiege?“, fragte sie, verwirrt in das helle Licht blinzelnd.
„Ich musste dich doch von deinem Pferd holen.“
Alicia erhob sich vorsichtig und glaubte, jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper zu spüren.
„Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen!“ Amareth fasste sie an der Hand, begegnete ihrem Blick und ließ sie wieder los. Sie begannen die kleine Anhöhe hinaufzusteigen, die Amareth als Rastplatz erkoren hatte, vorbei an dem Fichtenwäldchen, in dem die Pferde angebunden waren. Am höchsten Punkt angelangt wies er über die Landschaft, die vor ihnen lag.
„Sieh dir das nur gut an, das werden wir die nächsten beiden Tage zu sehen bekommen! Nur am letzten Tag kommen noch ein paar Felsen hinzu.“
Um ehrlich zu sein, sah Alicia gar nichts. Sie hatte sich nicht ausmalen können, wie leer eine Ebene überhaupt sein konnte. Kein Stein, kein Baum, noch nicht einmal eine Erhebung wie die, auf der sie standen. Amareth ließ sich zu ihren Füßen auf einem Felsblock nieder und sagte: „Dieses Land ist seltsam. In der Mitte Aréija, drum herum drei, vier Bauern und dann im Westen unwirtliche Berge und im Osten unwirtliche Tiefebenen. Ich weiß wirklich nicht, was ich so liebe an dieser gräßlichen Landschaft!“
Alicia ließ sich neben ihn fallen und baumelte mit den Beinen. Unter ihnen fiel der Hang sanft und grasbewachsen ab, bis er in die Ebene überging. Eine Weile betrachteten beide die scheinbar endlose Landschaft.
„Wie lange können wir rasten?“, fragte sie schließlich.
Amareth zögerte. „So kurz, wie möglich. Wir können es uns nicht leisten, noch mal von Hunter eingeholt zu werden. Die Vorräte sind soweit in Ordnung, wir können also aufbrechen, wann immer dir danach ist.“
Er half ihr auf die Beine und gemeinsam gingen sie zurück zu den Pferden. Das Moos federte unter ihren Füßen, die Luft roch angenehm, doch der Wind, der von der Ebene her wehte, war kalt und scheidend.
Die Mähne des grauen Wallachs war mit Wassertröpfchen übersät, die vom Tau herrührten. Der Rappe scharrte mit den Hufen und warf den Kopf hin und her. Amareth ging zu ihm, um etwas Essbares aus den Satteltaschen zu organisieren. Während sie sich auf ihren Umhang setzte, dachte Alicia noch immer an die nächtlichen Begegnung mit dem Killer. Sie spürte etwas, das sie bis dahin nicht gekannt hatte: wahrhaftige Angst. Nicht nur Respekt oder Unwohlsein, sie fühlte die Angst in ihrem Herzen aufsteigen, sobald sie auch nur an das narbige Gesicht Hunters dachte. Zweimal war es ihr gelungen, ihm zu entgehen, beide Male hatte Amareth ihr das Leben gerettet, doch würde es noch mehr Begegnungen mit Nummer 12 geben?
Amareth schien ihre Gedanken zu lesen, denn er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
„Du denkst schon wieder an Hunter? Unangenehmer Zeitgenosse, das muss ich zugeben. Aber er wird uns auf keinen Fall durch die Ebene folgen. Entweder weil er uns aus den Augen verloren hat und unser Ziel nicht kennt, oder wenn er weiß, wohin wir unterwegs sind, wird er wissen, dass wir vor ihm dort sind, und mit den Zwergen will selbst er sich nicht anlegen.“
Alicia nagte an ihrer Unterlippe.
„Aber in Sunset Haven war er doch auch vor uns, oder?“
Darauf wusste Amareth nichts zu erwidern.
„Seit wann hat dieser Cant den Aufstand eigentlich geplant? Muss wohl schon ziemlich lange sein, denn seine Leute waren ja einsatzbereit, als er aus dem Gefängnis kam“, wechselte sie das Thema.
„Genau weiß man das nicht, aber Ihre Majestät nimmt an, das er, beziehungsweise Kaye, die Sache seit ihrer Krönung geplant haben. Das war vor fast vier Jahren. Sie glaubt, dass die beiden ihren Wahlerfolg geahnt haben und sie schon vorher zu verhindern gesucht haben.“ Das klang nicht so, als wäre Amareth derselben Meinung.
„Und du? Was glaubst du?“
Seine Miene verschloss sich augenblicklich.
„Meine Meinung zählt nicht. Vergiss es einfach.“
„Wenn ich deine Meinung aber wissen möchte?“
Alicia wusste nicht, was seine Meinung am Lauf der Welt ändern sollte, trotzdem beharrte sie darauf. Sie spürte, dass sich hinter der einfachen Frage mehr verbarg. Keine Regung in Amareths Gesicht zeigte seinen inneren Aufruhr, als er mit scheinbarem Gleichmut antwortete: „Ich glaube, dass Kaye gar nicht wusste, dass Amariah überhaupt zur Debatte stand. Er war zu dem Zeitpunkt nämlich im Dritten Land unterwegs. Erst nach der Wahl registrierten Cant und er, wer sie war.“
Damit erhob er sich jäh und band den Rapphengst los.
„Los, komm jetzt, wir müssen weiter!“
Verwirrt folgte Alicia seinem Beispiel und klopfte ihren Umhang aus. Dass Amareth ihr etwas verschwieg, dessen war sie nun ganz sicher.
Doch kaum waren sie unterwegs, hatte Amareth seine gute Laune wiedergefunden. Sie ließen von dem Thema Aufstand ab und Alicia nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger damit zu sein. Die Sonne schien mit voller Kraft, beinahe schon erbarmungslos auf sie herab, als sie den Hügel hinabritten und der felsige Untergrund der Ebene den Pferden das Vorankommen erleichterte. Alicia ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Zwei volle Tage lang nichts zu sehen als diese düstere, scheinbar endlose Einsamkeit. Entweder brauchte sie Stoff zum Nachdenken, oder sie würde Amareth zum Reden bringen müssen.
Kapitel 5: Der Verräter
Sie waren noch nicht lange unterwegs, als Amareth von selbst auf das Thema zurückkam, das er vorhin so hastig abgebrochen hatte. Er schien ein schlechtes Gewissen zu haben, jedenfalls wirkte er ziemlich zerknirscht.
„Alicia, es tut mir Leid, das ich dich gerade eben so abgefertigt habe“, fing er so unvermittelt an, dass sie einen Moment nachdenken musste, was er meinte.
„Vielleicht ist es sowieso an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.“ Er machte eine Pause. „Mein Verdacht kommt nicht von ungefähr. Ich wusste, dass Kaye im Dritten Land war, was außer mir nur ein anderer Mensch wusste. Cant.“ Alicia wagte kaum zu atmen. Sie spürte, dass er kurz davor war das zu verraten, was ihm so schwer auf der Seele lag.
„Ich war bei Kaye, als er die Nachricht von Amariahs Wahlerfolg erhielt.“
„Als Spion?“, fragte Alicia gespannt. Amareth schien überrascht.
„Als Spion? Nein. Ich war aus... persönlicheren Gründen bei ihm.“
„Aus welchen?“ Alicia konnte sich absolut keinen Grund vorstellen, der einen freiwillig in die Nähe des Ziegenbarts trieb. Amareth schwieg eine Weile und musterte sie ausgiebig. Dann sagte er bedächtig: „Du hast es wirklich nicht begriffen, oder? Nun, es ist ganz einfach: Ich bin Kayes Sohn!“
Alicia fiel nicht einmal auf, dass ihr der Mund offenstand. Es gelang ihr einfach nicht, Amareth mit all seiner Herzlichkeit, seinem Übermut, seiner ungebrochen guten Laune und seinem Humor mit dem kühlen, arroganten Ziegenbärtchen in Verbindung zu bringen. Sie musste sich verhört haben!
„Guck mich nicht an, als hätte ich dir erzählt, die Erde sei würfelförmig! Ich kann schließlich auch nichts dafür! Glaubst du, ich hätte mir meine Verwandtschaft ausgesucht?"
Alicia klappte ihren Mund zu. „Nein, natürlich nicht“, murmelte sie beschämt. „Aber... wer ist deine Mutter?“
Amareth hob eine Augenbraue.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte er nach kurzem Zögern. „Kaye hat mich mit sich genommen, als ich kaum ein Jahr alt war. Er kann sie nicht geliebt haben, verstehst du? Denn anscheinend waren ihre Ansichten so verschieden, dass er versucht hat, mich gleich nach seiner Denkweise zu erziehen. Er hätte nie damit gerechnet, dass ich ihn verraten würde!“ Amareth stieß das Wort aus, als verbrenne es ihm die Zunge. „Dabei kennt er sich doch mit Verrätern bestens aus, ist er doch selber einer, wie seine Gefolgsleute auch! Alle sind sie ein einziger Haufen aus diebischem Gesindel, Mördern und Staatsfeinden!“
Amareth redete sich so richtig in Rage.
„Einige von ihnen sind sogar schon öfter im Gefängnis gewesen, zum Beispiel unser Freund Hunter!“ Er bemerkte Alicias überraschten Ausdruck.
„Hast du nicht bemerkt, er trägt das Zeichen des Verräters an seiner rechten Hand.“
Alicia schnappte nach Luft. „Die Finger...“
Amareth nickte grimmig.
„Genau, die fehlenden Finger. Es gibt nicht viele Männer in unserem Land, die einen so schrecklichen Verrat begehen, um mit diesem Mal versehen zu werden. Das Schlimmste ist, dass Hunter auch noch stolz darauf ist, zu diesen wenigen zu gehören!“ Er schnaubte voll Verachtung. „Mit solchen Menschen umgibt sich Kaye. Denn dann hat er das Gefühl, etwas Besonderes zu sein! Ja, er hält sich wirklich für sehr gescheit! Oh, wie ich diesen Kerl hasse! Hast du jemals echten Hass gespürt? Ich jedenfalls nicht, bis zu seinem Beschluss, diesen Aufstand anzuzetteln.“ Amareth atmete heftig aus. Dann schüttelte er plötzlich den Kopf; er hatte sich wieder unter Kontrolle.
„Was nicht unbedingt viel an den Umständen ändert. Verzeih mir meinen Ausbruch, ich konnte nur bisher mit niemandem darüber sprechen. Sie hätten es nicht verstanden.“
Er fuhr sich resigniert mit dem Handrücken über die Augen. Alicia verspürte auf einmal das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und ihm tröstend auf den Arm zu legen, doch sie traute sich nicht. Er schien so unnahbar, verletzlich hinter seiner Maskerade aus Todesverachtung. Diese Gedanken überraschten Alicia selbst. Scheu warf sie Amareth einen Blick von der Seite her zu.
„Ich habe noch nie die Nerven verloren.“ Er tat ihr so unendlich leid. „Ich glaube, ich habe dich überfordert. Was interessieren dich auch meine Verwandtschaften?“
„Nein.“ Alicia schüttelte den Kopf. „Ich danke dir, dass du mir das erzählt hast.“ Sie schwieg einen Moment beklommen. „Wissen die anderen von deinem Vater?“
Amareth zuckte mit den Schultern. „Ihre Majestät weiß es. Sie war ja so großzügig, mich trotz meiner Verwandtschaft zu Staatsfeind Nummer eins noch zu akzeptieren. Außer ihr weiß es nur A’en.“ Er stieß ein freudloses Lachen aus. „Der weiß alles.“
Alicia schwieg betreten. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Jeden hätte sie sich als Amareths Vater vorstellen können, aber nicht Kaye!
„Sprechen wir über etwas Erfreulicheres“, schlug Amareth vor. Er klang beinahe wie der Alte. „Ich weiß ein gutes Rätsel!“
Für die Nacht fanden sie in den Ausläufern des östlichen Gebirges, das bis in das Fünfte Land reichte, einen Felsüberhang, ähnlich dem, in welchem der Eingang zu Königin Amariahs Versteck lag. Amareth entzündete ein kleines Feuer und kochte Tee, dann aßen sie etwas und legten sich, jeder in seinen Umhang gewickelt, neben das Feuer. Amareth stützte sich auf seinen Ellenbogen und betrachtete Alicia über die Glut des verlöschenden Feuers hinweg. Die bemerkte es nicht, sie beobachtete die Dunkelheit, die sich wie ein schwarzes Tuch über die Landschaft legte.
„Woran denkst du?“, fragte er leise. Sie rollte sich auf die Seite.
„An zu Hause“, erwiderte sie ebenso leise.
„Hast du dort eigentlich einen Freund?“ Er versuchte seine Frage unbeteiligt klingen zu lassen, was ihm jedoch nicht ganz gelang.
Alicia rollte sich wieder auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Höhlendecke.
„Noch nie gehabt. Du?“
Sie hörte Amareth lachen. „Ich hatte auch noch keinen Freund, nein.“
„Idiot! Natürlich eine Freundin!“
„Auch nicht. Obwohl mir das eigentlich leicht fallen müsste, bei meinem fantastischen Aussehen!“
Erneut lachte er über seinen eigenen Scherz.
Eine Weile schwiegen beide. Dann setzte sich Amareth auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand.
„Hast du das Gefühl, dass dir deswegen etwas fehlt?“, fragte er tiefgründig. Alicia richtete sich ebenfalls auf und schüttelte den Kopf.
„Nein, aber wie kommst du darauf? Wieso interessiert dich das?“
„Nur so.“ Er sah sie nicht an. „Einfach nur so.“
Wiederum schwiegen sie. Alicia wickelte sich enger in ihren Umhang.
„Es wird ganz schön kühl hier, wenn das Feuer aus ist.“
Amareth nickte nur. „Soll ich es wieder anfachen?“
„Schon in Ordnung.“ Sie rieb ihre kalten Hände aneinander.
Amareth erhob sich, setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in seine.
„Besser?“
„Geht schon. Wirklich.“
Sie versuchte ihm ihre Hände zu entziehen, doch er hielt sie fest.
„Es ist aber schöner so.“
Alicia sah krampfhaft hinab auf seine rauen Hände. Er hatte Recht, das musste sie zugeben, und doch fürchtete sie sich vor dem, was kommen würde, wenn sie den Kopf hob. Amareth nahm ihr die Entscheidung ab. Er ließ ihre eine Hand los, legte ihr zwei Finger unters Kinn, hob ihren Kopf an und zwang sie so, ihn anzusehen. Dann strich er ihr zärtlich mit den Fingerspitzen über die Wange.
„Ich muss dir danken“, sagte er ruhig. „Du hast die Nachricht von meiner Verwandtschaft zu Kaye aufgenommen, ohne mir gegenüber Vorurteile zu bekommen. So etwas halte ich für wahre Größe. Es hat mir mehr bedeutet als alles andere.“
Er beugte sich vor und küsste sie.
*
Der Bote war ausgesprochen nervös. Warum musste ausgerechnet er immer schlechte Nachrichten überbringen? Munkelte man nicht, dass Lord Kaye den Überbringer schlimmer Nachrichten hängen zu lassen pflegte? In seiner knienden Stellung konnte der Bote ihn zwar nicht sehen, doch hörte er seine Schritten auf dem Marmorfußboden und sah seine golddurchwirkten ledernen Sandalen auf und ab gehen. Irgendwann blieb Kaye stehen und machte eine unwirsche Handbewegung, die der am Boden kauernde Mann allerdings nicht bemerkte.
„Du kannst gehen!“, sagte Cants rechte Hand ungeduldig. „Ich muss mit dem König sprechen!“
Der Bote war so erleichtert, dass er sich beeilte, unter vielen Verbeugungen den Raum rückwärts zu verlassen.
Cant saß wie immer gelangweilt auf seinem Thron und hörte sich die Anklage einer jungen Bäuerin an, deren Nachbar angeblich nachts von ihren Hühnern gestohlen hatte. Dabei fielen dem König beinahe die Augen zu.
Als die großen Flügeltüren aufschwangen und Kaye den Saal betrat, wies er die Wachen an, die junge Frau hinauszuwerfen.
„Was gibt’s? Wehe dir, wenn es nicht interessant ist!“, rief Cant seinem Stellvertreter entgegen. Kaye ließ sich nachlässig auf die Knie nieder, wie immer mit hoch erhobenem Kopf.
„Es ist interessant, Majestät, jedoch keineswegs erfreulich. Mir scheint, Nummer 12 leidet an Altersschwäche: Er hat den Verräter schon wieder durch die Lappen gehen lassen, in Sunset Haven.“
„Ach, nee. Aber was kann ich daran ändern?“
Kaye sah auf. „Gebt mir nur zwei, drei Tage Zeit, dann bringe ich Euch den Jungen und seine Begleiterin.“
Cant sah auf. „Du willst die Sache selbst in die Hand nehmen? Aber was mache ich hier so lange?“
Beinahe hätte Kaye „Regieren!“ geantwortet.
„Wollt Ihr nun, dass er ausgeschaltet wird oder nicht?“
„Ja, ja, so geh eben. Auf mich braucht niemand Rücksicht zu nehmen, ich bin ja wohl kein kleines Kind mehr.“
Das war wohl die klügste Erkenntnis, zu der Cant in seinem bisherigen Leben gekommen war. Und das dauerte immerhin schon vierzig Jahre.
*
Alicia war so überrascht, dass sie zuerst nichts tun konnte als die Augen zu schließen. Unfähig, sich zu rühren, spürte sie Amareths Hand mit leichtem Druck auf ihrer Schulter ruhen; sie glaubte ersticken zu müssen und konnte es sich nicht erklären. Unter sich konnte sie Erhebungen des Felsens erahnen, sie meinte draußen eine Grille zirpen zu hören. Erstaunlich nüchtern ordneten ihre Gedanken sich und sie schob Amareth zurück.
„Amareth... das geht nicht... ich muss zurück in meine Welt!“
Er zog seine Hand augenblicklich zurück.
„Natürlich nicht! Wie konnte ich das vergessen!“, schnaubte er. „Verstehst du nicht? Wir haben nur die Zeit für uns, in der wir unterwegs sind, danach gehst du wieder zurück. Ich wünsche mir, wenigstens diese Zeit nutzen zu können.“
Alicia blickte hinab auf ihre Hände.
„Ich wünschte, ich könnte etwas tun“, murmelte sie.
„Dadurch wird sich der Lauf der Welt aber nicht ändern! Bitte“, fügte er etwas leiser hinzu. Alicia hatte ihn noch nie so befangen erlebt. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter; ihre Stimme zitterte.
„Ich fürchte doch nur, dass wir es uns noch schwerer machen, als es sowieso schon ist.“
Amareth strich ihr gedankenverloren übers Haar.
„Was im Leben ist nicht schwer? Alle sagen, ich sei zu emotional, aber ich kann nicht anders, verstehst du? Wenn die anderen Verbündeten wüssten, was heute Abend... geschehen ist, würden sie mich für verrückt erklären. Wir kennen uns immerhin erst seit drei Tagen.“ Er machte ein trotziges Gesicht. „Obwohl ich finde, dass das eindeutig genug ist!“
Alicia schwieg. Dieselben Gedanken hatte sie sich Minuten zuvor gemacht.
Es war inzwischen so dunkel in der Höhle, dass sie Amareths Gesicht nicht mehr klar ausmachen konnte. Sie spürte nur seine Hand, die unbeirrt über ihren Kopf strich.
Es fühlte sich gut an. So wollte sie ausharren; sollte sich doch jemand anderes um den blöden Aufstand kümmern, was ging es sie schon an? Sie schloss die Augen, ihre Gedanken schweiften zurück in ihre eigene Welt.
Wenn Matthew mich jetzt sehen könnte, dachte sie. Und dann noch: Wieso der?
Dann war sie eingeschlafen.
*
Kaye saß auf einem gescheckten Hengst, den er selbst zugeritten hatte. Er hatte sich von Hunter alles bis ins kleinste Detail erzählen lassen und hatte sich seinen Teil zusammengereimt. Er wusste, von wem das ausgehen musste.
Die ganze Nacht hindurch hetzte Kaye die kleine Gesandtschaft, die ihn begleitete, schließlich sollte der Verräter und seine kleine Freundin angemessen in Empfang genommen werden, möglichst noch vor der Grenze.
Nummer 12 war ebenfalls unter ihnen, kleinlaut wie noch nie. Zweimal von jemanden hereingelegt worden zu sein, der halb so alt war wie er, machte ihm schwer zu schaffen. So etwas verzieh man sich als bester Killer der Sieben Länder nicht so rasch. Und das Kaye höchstpersönlich die Sache in die Hand nahm, versetzte seinem Stolz einen schweren Dämpfer. Vielleicht wurde er alt.
Kapitel 6: Zwergenland
Es gelang Amareth tatsächlich, am nächsten Morgen so zu tun, als wäre nichts geschehen. Er alberte wie üblich herum, war glänzender Laune und imitierte mehrmals mit großem Erfolg den Akzent des Spiegelmachers.
Er kam nicht auf den vergangenen Abend zu sprechen, und Alicia war das nur recht.
Sie ritten früh los; die Sonne hatte kaum den Horizont überschritten. Die Landschaft änderte sich, am frühen Mittag ließen sie die Ebene hinter sich und kamen durch felsiges Gebiet. Als die Sonne im Zenit stand, kamen sie zum ersten Mal seit zwei Tagen durch ein kleines Dorf. In einer kleinen Gasse fanden sie einen Gasthof, in dem sie es wagten, etwas zu essen.
Doch auch hier dauerte die Pause nicht lange. Kaum hatte Alicia den letzten Bissen geschluckt, als Amareth sie auch schon wieder zur Eile anhielt. Er schätzte, dass sie die Grenze am späten Nachmittag erreichen würden und mit etwas Glück noch am selben Tag eine Audienz bei dem Zwergenkönig bekämen.
Alicia bemerkte, dass sie kaum noch Muskelkater hatte. Die alte Weisheit, dass gegen Muskelkater, der vom Reiten stammte, Reiten am besten helfe, schien zu stimmen. Als sie Amareth davon erzählte, setzte er zu einer endlosen biologisch-psychologisch-philosophischen Erklärung an, von der Alicia nur das Wort „Gewöhnung“ verstand. Manchmal konnte er einen wirklich in den Wahnsinn treiben!
Sie kamen nun öfter durch kleine Bauerndörfer, vorbei an Feldern, auf denen Menschen arbeiteten. Die Sonne schien wie immer, in den Bäumen zwitscherten Vögel. Alles schien so friedvoll, dass Alicia, wie so oft in der letzten Zeit, beinahe vergaß, wo sie war und was sie hier sollte. Es war einfach angenehm, an Amareths Seite durch die Welt zu reiten. Alicia wünschte sich, sie wäre aus einem anderen Grund hier, in dieser wunderschönen Welt.
Am frühen Abend konnten sie in der Ferne die Grenze ausmachen. Es waren mehrere hohe Wachtürme, dazwischen patrouillierten Soldaten. Beim Näherkommen sah Alicia, dass es sich sowohl um die kleinwüchsigen Zwerge als auch um Menschen handelte. Es gab keinerlei Probleme an der Grenze, und Alicia kam zu dem Entschluss, dass Amareth wohl Recht haben musste mit seiner Vorhersage, dass Nummer 12 ihnen nicht folgen würde.
Die erste Stadt, die sie im Fünften Land durchritten, wirkte genau wie eine Stadt für gewöhnliche Menschen, mit dem einen Unterschied, dass sie nur etwa halb so groß war. Die Häuser waren halb so groß, die Straßen waren halb so groß und die Menschen, die die Straßen bevölkerten, waren es auch. Nur die Tiere, Pferde, Esel und Ziegen, denen sie begegneten, waren so groß wie ihre Verwandten auf der anderen Seite der Grenze. Alicia wusste nicht wohin mit ihren Augen. Zu dumm, dass sie nur ein Paar davon besaß! Während sie versuchte, alles auf einmal beobachten zu können, blieb Amareth völlig ungerührt; er war bereits einige Male hier gewesen.
Auf ihrem Weg kamen sie durch mehrere dieser Dörfer, bis sie schließlich in der Ferne die Hauptstadt ausmachen konnten.
Sie war größer als die Dörfer; die Häuser waren fast schon von normaler Höhe. Alle Dächer schienen aus reinem Gold gegossen, sie strahlten im Sonnenlicht um die Wette.
Auf den vielen Straßen, die aus allen Himmelsrichtungen auf die Stadtmauern zuliefen, drängelten sich Wesen aller Art. Nicht nur Zwerge, auch Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters und Hautfarbe traten sich gegenseitig auf die Füße. Es war noch belebter als die Straße von Sunset Haven. Amareth schlängelte sich auf seinem Rappen geschickt durch die Menge, ohne auf die empörten Bemerkungen aus der Menge zu achten, und Alicia bemühte sich, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie passierten das Tor. Innerhalb der Mauern herrschte urplötzlich eine fast andächtige Stille; jeder verhielt sich einfach wie selbstverständlich lautlos. Dabei gab es jede Menge Anlass, Lärm und Geräusche zu machen. Die Stadt war gebaut wie andere auch, der Marktplatz und die Gassen waren ebenso belebt wie die Straße vor dem Tor, doch keiner wagte einen überflüssigen Laut von sich zu geben.
Der Palast des Zwergenkönigs war am anderen Ende der Stadt errichtet worden. Obgleich er nur zwei Stockwerke besaß, war er riesig. Seine Ausdehnung betrug gut und gerne die Größe eines Fußballfeldes. Und all das für einen Zwergenkönig. Der Palast schien von ferne ganz aus Gold gebaut, doch Alicia erkannte bald, dass die Wände verkupfert waren, ebenso die Dächer der restlichen Häuser dieser wundersamen Stadt. Der Palast zeugte nicht von großer architektonischer Kunst, er wirkte eher wie ein unzureichend zusammengeklebter Ameisenhaufen aus Kupfer.
Ab einer bestimmten Straße sah man fast nur noch Zwerge. Hier begann das Hoheitsgebiet des Königs, das kein Mensch ohne triftigen Grund betrat. Der Palast selbst war umgeben von eigenen Mauern, höher als die Stadtmauer.
Amareth führte Alicia mit derselben schlafwandlerischen Sicherheit durch die Gassen, mit der er sich überall auf dieser Welt bewegte. Am prachtvollen Tor angekommen, wechselte er einige Worte mit den Wachen, bis die sie schließlich widerwillig einließen. Ihre Pferde mussten sie in der Obhut eines Stallknechts lassen.
Ein besonders kleinwüchsiger Zwerg führte sie durch den gepflasterten, schmucklosen Hof. Dabei wedelte er hin und wieder mit der Keule, die alle Wachen bei sich trugen, wenn ihm jemand im Weg stand. Einmal rief er einem anscheinend jüngeren Zwerg etwas zu, der daraufhin in einer Seitentür des Palastes verschwand.
Amareth und Alicia wurden hingegen zum Haupteingang geführt. Alicia fühlte sich an den Eingang eines Opernhauses erinnert, sobald sie die unverhältnismäßig hohen Stufen sah, die ihr kleiner Führer erstaunlich schnell und problemlos hinaufsprang. Überall waren Wachen aufgestellt, die mit einer Wachsamkeit um sich sahen, die man bei menschlichen Wächtern selten antraf. Aus zusammengekniffenen Augen starrten die kleinwüchsigen, aber bis an die Zähne bewaffneten Wesen ihnen nach.
Das Innere des Palastes war vollgestopft mit Zierrat aller Art. Er schien eine Trophäensammlung darzustellen, denn jedes einzelne Stück war sorgfältig mit einem Schildchen versehen.
Der Zwerg führte sie eine Treppe hinauf, einen langen Korridor entlang, durch zwei Flügeltüren, einen weiteren Flur entlang, noch ein Treppe hinauf und dann vor eine Tür, so hoch wie die Eingangshalle des goldenen Turms in Aréija. Dort wandte er sich um und sah sie mit finsterer Miene an.
„Wenn ihr reingeht, dann verneigt euch gefälligst tief genug!“, knurrte er mürrisch, stieß die Türflügel auf und trat zur Seite. Amareth und Alicia fielen gleichzeitig auf die Knie.
War ihr zuvor bereits mulmig zumute gewesen, so wurde Alicia nun schlecht. Der Geruch, der ihnen aus dem Raum entgegenschlug, erinnerte an ungewaschene Socken und modrigen Schimmel.
Dies konnte unmöglich der Audienzsaal eines Königs sein, höchstens die Folterkammer, dachte Alicia in einem Anflug von Galgenhumor.
„Wer sind diese Menschenwesen?“, vernahmen sie eine herablassende Stimme. „Sie mögen sich erheben, so kann man ihrer ja nicht gewahr werden.“
Alicia versicherte sich, dass Amareth sich ebenfalls erhob, bevor sie wagte, aufzusehen. Als sich ihre Augen an die dämmrigen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, hätte ihre Überraschung nicht größer sein können: Sie befanden sich in einem gigantischen, fensterlosen Saal, der fast vollständig leer war. Nur in der Mitte war eine Art langgestreckten Bettes aufgestellt, das so unter einen Schreibtisch geschoben worden war, dass es aussah, als säßen die vier Zwerge, die darin lagen, an dem Tisch. Es waren unglaublich alte Zwerge, drei von ihnen mit meterlangen Bärten. An der rechten Seite des Bettes war auf dem nackten Steinfußboden in einer Vertiefung ein Feuer entzündet, das gespenstische Schatten an die Wände warf.
Der Zwerg, der gesprochen hatte, war wohl der älteste von ihnen; sein Bart war so lang, dass er ihn dreimal um den Bettpfosten gewickelt hatte.
Er saß (lag?) ganz rechts, direkt neben dem Feuer.
Die Wache, die sie hergeführt hatte, ergriff das Wort: „Es sind welche von drüben, die Ihre Majestät König Rocco den Ersten sprechen wollen.“
„Ihre Majestät hat aber im Moment keine Zeit!“, erklärte der Zwerg links von dem ersten. „Er ist ein sehr beschäftigter König.“
„Darum führte ich sie zu Euch“, wagte der Wachmann zu sagen.
„Was ist denn ihre Begehr?“, fragte nun der dritte Zwerg.
„Sie wollen zum König“, wiederholte der zweite.
„Und was wollen sie da?“, fragte der vierte Zwerg.
Der zweite kratzte sich am Bart.
„He Ihr, was wollt Ihr von Ihrer Majestät? Ihr seid zu groß für diese Welt!“
„Wir wollen auch nicht einwandern.“ Amareth sprach sehr ruhig, doch Alicia glaubte seine Nervosität zu spüren. „Im Siebten Land gab es Unruhen. Die Königin...“
„Ach, sie sind von drüben?“, fragte der dritte Zwerg.
„Ja, sind sie“, erklärte geduldig der zweite. „Sprich weiter, Mensch von drüben.“
Amareth fuhr fort. „Ihre Majestät Königin Amariah die Erste wurde von ihrem rechtmäßigen Thron gestürzt. Wir sind gekommen, um König Roccos gnädigen Beistand und militärische Hilfe zu erflehen.“
„König Rocco hat aber keine Zeit“, sagte der dritte Zwerg. „Er ist ein sehr beschäftigter König.“
„Warum sollte unser König der Königin von drüben helfen?“, fragte der erste Zwerg ärgerlich. „Dabei gibt es für ihn keinen Vorteil.“
„Der Mann, der die Macht übernommen hat, sieht vor, alle Sieben Länder unter seine Kontrolle zu bringen.“
„Unsere Streitmächte sind stark“, erwiderte ausdruckslos der zweite Zwerg.
„Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Doch der Unwürdige will einen Feuerring um alle Länder legen, die sich ihm widersetzen, und sie so vernichten.“
„Aber unser Ewiges Feuer brennt doch auch!“, warf der dritte Zwerg ein.
„Das ist natürlich beunruhigend.“ Der zweite klang kein bisschen beunruhigt. „Wir danken Euch für Eure Warnung. Wir werden rechtzeitig mit dem neuen König ein Bündnis schließen.“ Damit lehnte er sich zurück und begann, Däumchen zu drehen.
Der dritte Zwerg guckte irritiert. „Aber wir haben doch schon ein Bündnis geschlossen. Mit König Farì, vor zweihundert Jahren. Ich erinnere mich noch genau daran!“
Keiner beachtete ihn.
„Ich bitte Euch dennoch, uns zum König zu lassen. Ich bin geschickt worden, mit Ihm zu sprechen und...“
„Habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt?“, fragte der zweite Zwerg böse. „Verschwindet, aus dem Palast und dem gesamten Reich, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“
Amareth verneigte sich und verließ rückwärts den Raum. Alicia tat es ihm gleich. Bevor der Wachzwerg die Tür schloss, hörte sie noch die trotzige Stimme des dritten Zwerges: „Aber wir haben schon ein Bündnis geschlossen! Brauchen wir etwa zwei?“
Auf dem Weg zurück ins Freie sprach niemand ein Wort. Amareth schien wütend auf sich selbst zu sein und konnte seinen Ärger nur mühsam unter Kontrolle halten.
Draußen war es dunkel geworden. Ihr Führer ließ ihnen ihre Pferde bringen und dirigierte sie zum Tor. Dort machte Amareth noch einen Versuch: „Bitte, lasst uns zum König. Es ist wichtig!“
Der Zwerg warf ihm einen missbilligenden Blick zu. „Ich kann mich doch einer Entscheidung des Ältestenrats nicht widersetzen! Ihr tätet besser daran, so schnell wie möglich aus dem Fünften Land zu fliehen!“
„Es ist mitten in der Nacht! Seht Ihr nicht, dass meine Begleiterin beinahe im Stehen einschläft?“
Die Miene des Zwerges blieb unerbittlich, er würdigte Alicia keines Blickes. „Seht zu, dass Ihr dieses Land verlasst. Möglichst noch vor dem Morgengrauen.“
Auffordernd wies er auf das goldene Tor. Amareth wandte sich ab; Alicia wusste, dass er vor Wut schäumte. Schweigend folgte sie ihm zum Tor.
„Acrirà! Wartet!“
Amareth brachte den geflügelten Rappen so jäh zum Stehen, dass Alicias Grauer mit der Nase an dessen Kruppe stieß. Sie blickten zurück und sahen einen anderen Zwerg in edlerer Kleidung, der vom Palast her auf sie zugelaufen kam. Außer Atem bremste er ab und redete wild gestikulierend auf den Wachposten ein. Der runzelte die Stirn und nickte ab und zu nachdenklich. Schließlich zuckte er die Achseln und erwiderte etwas. Dann drehte er sich zu Amareth um.
„Es sieht fast so aus, als könntet Ihr doch hierbleiben, zumindest für diese Nacht.“
Der andere Zwerg gab ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen. Die Wache ließ die beiden Pferde erneut wegbringen.
„Unser großer Gönner Lord Ovlo von Olovmov wünscht Euch zu sehen. Er hörte von Eurer Ankunft.“
Alicia warf Amareth einen fragenden Blick zu, doch der sah nicht minder ratlos aus. Sie folgten dem Zwergen in den Palast hinein; diesmal ging es einen Korridor entlang, dessen Wände zahllose Porträts von grimmig dreinblickenden Zwergen (ehemalige Könige?) zierten, viele Stufen abwärts, um eine Ecke, weitere Treppen abwärts und immer wieder geradeaus; endlose unterirdische Gänge erstreckten sich anscheinend unter der gesamten Stadt. Je tiefer sie kamen, desto dunkler wurde es; irgendwann nahm ihr Führer eine Fackel aus einer Halterung an der Wand und wanderte unbeirrt weiter.
Nach Stunden, wie es Alicia erschien, erreichten sie eine Tür irgendwo in den Eingeweiden der Stadt. Der Zwerg hob die Hand und pochte kurz und kräftig daran, dann schob er sie ein Stück auf und schlüpfte hindurch. Etwas unschlüssig blieben Amareth und Alicia davor stehen. Nur kurze Zeit darauf öffnete der Zwerg die Tür ganz und winkte sie ungeduldig hinein.
Der Saal war prunkvoller als der des Ziegenbartes im Turm von Aréija. Schwere Teppiche bedeckten den Steinboden, an den Wänden hingen Porträts und Zierrat, an allen Ecken und Enden wuselten geschäftig aussehende Zwerge umher, gekleidet wie Diener.
Am ehrfurchtgebietendsten war allerdings die thronartige Erhöhung am hinteren Ende des Raumes, auf welcher ein Zwerg saß. Er war annähernd so alt wie die Zwerge des Ältestenrates, doch Alicia konnte sich keine Person denken, die mehr Autorität besessen hätte.
Der Zwerg, der sie hergeführt hatte, ging nun vor ihnen zu dem Lord (denn das war der erhöhte Zwerg ohne Zweifel) und trat neben ihn.
„Da sind sie, Euer Lordschaft“, sagte er hochnäsig. „Ich habe sie gerade abgefangen, als sie hinauswollten.“ Der Zwerg sah sie so anklagend an, als wäre es ihre Schuld, dass sie weggeschickt worden waren.
Seine Lordschaft beugte sich von seinem Thron herunter und musterte Amareth mit zusammengekniffenen Augen. Offensichtlich war er kurzsichtig. Dann richtete er sich auf und sprach mit tiefer, wohltönender Stimme: „Gib ihnen ein Bett zum Schlafen und etwas zu essen. Morgen werde ich bei Seiner Majestät König Rocco dem Ersten ein gutes Wort für sie einlegen. Doch nun mögen sie sich zurückziehen!“
So knapp abgefertigt wurden sie von dem Untergebenen durch eine der vielen Türen im Saal hinausgeführt. Diesmal ging es nur zwei Treppen hinauf und einen Gang entlang, da standen sie schon vor einer großen Doppeltür, die ihr Führer schwungvoll aufstieß.
Dahinter lag ein kurzer Flur, von dem zwei weitere Türen abgingen. Hier war die Einrichtung zweckmäßiger und nicht so prunkvoll wie unten. Ein hoher Spiegel hing an der Wand und eine Eichentruhe stand auf dem Teppich. Fenster gab es keine. Der Zwerg hieß sie einzutreten und deutete auf die beiden Türen.
„Dahinter liegen Eure Schlafzimmer und die Eurer Begleiterin.“ Wieder schien er nur zu Amareth zu sprechen. „Glaubt bloß nicht, dass unser großer Gönner Euch eine bessere Behandlung zuteil werden lässt, nur auf Grund Eurer Herkunft von drüben. Brot findet Ihr in den Zimmern. Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe.“ Damit wandte er sich um und schlug die Tür hinter sich zu. Augenblicklich waren Amareth und Alicia in Dunkelheit getaucht. Amareth tastete sich an der Wand entlang zu einer der Fackeln, die in Haltern auf Mannshöhe in der Mauer steckten. Alicia hörte ihn fluchen, als er gegen die hölzerne Truhe lief, dann flammte die Fackel auf. Ihr Schein warf verzerrte Schatten auf Amareths Gesicht. Der seufzte tief und stieß eine der Türen auf. Dahinter lag nur eine winzige Kammer, erleuchtet vom Feuer in einer Wandnische. Auf einem Schemel stand ein Krug Wasser und ein Kanten Brot. Das andere Zimmer war genauso.
„Haben sie etwa Angst, dass wir ausrücken? Wo wir doch so dringend zum König wollten.“ Amareth sprach mehr zu sich selbst. „Na schön, in welchen dieser Kerker willst du? Sie sind wohl beide gleich schlimm.“
„Sie gehen doch.“ Alicia lehnte sich an die Türöffnung des einen Raumes und verschränkte die Arme vor dem Körper. „Ich bin jedenfalls froh, dass wir nun doch zum König kommen. Und dass die Räume geheizt sind.“ Sie zog fröstelnd die Schultern hoch.
„Sag nur, du frierst schon wieder.“ Das gewohnte spöttische Grinsen erschien auf Amareths Gesicht.
„Ich friere, wenn es kalt ist. Und das ist es jetzt.“
„Ein Wunder, dass sie uns überhaupt Wasser und Brot bereitgestellt haben. Ich komme mir vor wie ein Vaterlandsverräter, der irgendwo in einem Kerker schmoren muss, bis ihn sein Herr begnadigt.“
Alicia musste ihm Recht geben, obwohl es ihr im Moment gleichgültig war. Sie war müde, und, was am wichtigsten war, sie hatten eine zweite Chance erhalten, ihren Auftrag auszuführen. Vielleicht war der König ja klüger als sein Ältestenrat und hörte sie wenigstens an.
„Ich gehe jetzt auf jeden Fall schlafen“, verkündete sie. „Du kannst dich von mir aus noch eine Weile ärgern, aber ohne mich.“ Damit verschwand sie in der einen der beiden Kammern. Die Tür besaß keinen Riegel, und so musste sie auf Amareths Anständigkeit vertrauen, während sie sich auszog und hinlegte. Das Feuer im Kamin warf flackernde Schatten an die Wand. Sein Licht wirkte beruhigend und einschläfernd. Sie schloss die Augen und lauschte auf die Geräusch des Hauses, in dem sie sich nun befand. Geräusche gab es in jedem Haus. Wenig später schlief sie ein.
Am nächsten Morgen erwachte Alicia beim ersten Hahnenschrei. Das Feuer war inzwischen heruntergebrannt; es war fürchterlich kalt. Alicia stand auf zog und sich mit klammen Fingern an. Während sie ihr viel zu großes Herrenhemd überstreifte, das sie gegen das T-Shirt aus ihrer Welt getauscht hatte, ging die Tür auf und Amareth streckte seinen Kopf herein.
„Stehst du auch endlich auf?“ Er grinste. „Mir scheint, ich habe etwas verpasst. Ich hätte nicht so lange überlegen dürfen, ob ich dich ausschlafen lasse!“
Alicia schüttelte ärgerlich den Kopf. „Schon mal was von anklopfen gehört?“
„Nein, du etwa?“ Er wurde wieder ernst. „Rate mal, was ich heute morgen entdeckt habe. Ich glaube, man muss wirklich die Gastfreundschaft dieses Landes loben. Sie haben uns eingeschlossen!“
„Was?!?“
„Ja. Wir sollten sehen, dass wir so schnell wie möglich zum König kommen und dann von hier verschwinden. Ich meine, es gehört ja nicht gerade zum guten Ton unter Gastgebern, seine Gäste einzuschließen, oder?“
Alicia schauderte. „Also mir ist das unheimlich. Immerhin wagt es dieser Lord sowieso, sich dem komischen Ältestenrat zu widersetzen. Und dann behandelt er uns wie Schwerverbrecher. Das riecht doch faul.“
„Von hier aus haben wir wenigstens den Hauch einer Chance, zum König zu gelangen“, beruhigte Amareth sie. Ein anzügliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. „Bis dahin müssen wir uns wohl die Zeit vertreiben...“
„Hörst du bitte mal mit deinen ewigen Anspielungen auf? Mir ist wirklich nicht nach Scherzen zumute.“
„Tut mir leid, ich kann nicht anders. Himmel, hier ist es ja furchtbar kalt.“
Amareth ging zum Kamin, doch es gab kein Holz mehr. Kopfschüttelnd über so viel Gastfreundlichkeit hockte er sich auf Alicias Bett.
„Sag bloß, du frierst.“ Jetzt war es Alicia, die sich den Kommentar nicht verkneifen konnte.
Doch Amareth hörte ihr gar nicht zu. Er starrte ein Loch in die Luft und schien nachzudenken. Alicia setzte sich neben ihn auf das Bett. Sie glaubte, seine Gedanken lesen zu können.
„Was machen wir, wenn der König genauso stur ist wie sein seltsamer Ältestenrat?“
Amareth zuckte die Achseln. „Aufgeben?“, fragte er sarkastisch. „Wir könnten auch auf die Straße betteln gehen, aber ich glaube nicht, dass das viel helfen würde. Nein, wir haben nur noch die eine Gelegenheit. Wir brauchen die Unterstützung der Zwerge. Der Ältestenrat kann über so etwas eigentlich gar nicht entscheiden. Die sind nur so der Form halber da. Ich habe gehört, dass der König ihnen ihr letztes Bisschen Macht entzogen hat, weil sie beinahe eines seiner vielen Bündnisse verhindert haben. Leiden ein wenig an Altersschwäche, die Herren.“
Er lächelte bereits wieder. „Die meisten von ihnen sind über vierhundert Jahre alt. In dem Alter bekommen sogar Zwerge Verschleißerscheinungen.“
Alicia seufzte. „Wir hatten schon öfter nur noch die eine Gelegenheit, immer haben wir noch eine bekommen. Wie lange kann das noch gehen?“
„Diesmal ist das letzte Mal. Diesmal schaffen wir es.“ Er klang so überzeugt. Alicia nickte stumm. Amareth legte ihr den Arm um die Schultern.
„Es wird alles gut werden. Vertrau mir.“
Das tat sie. Bedingungslos.
Gegen Mittag hörten sie endlich Geräusche an der Tür. Wenig später polterten Schritte im Vorraum und die Tür der Kammer wurde aufgestoßen. Im Türrahmen stand der Zwerg, der sie gestern hergeführt hatte. Hinter ihm drängten sich sechs bewaffnete Zwerge, die ohne Zweifel zur Palastwache gehörten.
„Kommt!“ Der scharfe Befehl war alles, was der Vertraute des adligen Zwerges von sich gab. Alicia und Amareth erhoben sich rasch und folgten ihm hinaus auf den Korridor. Dort gruppierten sich die Wachen um sie wie eine Leibgarde. Alicia war äußerst unwohl beim Anblick ihrer Streitäxte und Schwerter.
Sie wurden nicht zu dem Thronsaal des Zwergenlords geführt, das registrierte Alicia schon bald. Es ging abwärts, anhand der Fenster konnte sie erkennen, dass sie sich nach kurzer Zeit durch einen ebenerdigen Gang fortbewegten.
Sie begegneten nur wenigen anderen Zwergen auf ihrem Weg. Die meisten wichen ehrfurchtsvoll beiseite, sobald sie die schwer bewaffnete Wachmannschaft bemerkten.
In diesem Moment kam ein hohes Portal in Sicht, welches zweifellos ins Freie führte. Doch sie gingen nicht hindurch, sondern bogen kurz davor nach links ab, einen schmalen Gang entlang und anschließend durch eine Tür. Der Raum dahinter war nicht besonders groß, aber ausgestattet mit hohen Fenstern; die Wände bedeckten Teppiche und weitere Porträts. Ihr Führer wies sie an zu warten, dann verließ er mit den bewaffneten Zwergen den Raum. Alicia hörte, wie draußen leise Befehle gab; sie vermutete, dass er Wachen aufstellte. Aufseufzend ging sie zu einem der Fenster und sah hinaus. Sie überblickte einen Teil der Stadt und links von ihr den Innenhof des Palastes, in dem sie sich befanden. Er lag auf einer Anhöhe, sodass sie die ganze Stadt gut im Blick hatte.
Dann konzentrierte sie sich auf die Fensterscheibe. Die Spiegelung des Zimmers war nicht besonders stark, da kein Licht brannte, dennoch konnte Alicia die Bewegung erkennen, als Amareth hinter sie trat. Er legte die Arme um sie, und während er sprach, spürte Alicia seinen Atem im Nacken.
„Schöne Aussicht von hier oben.“
„Noch schöner wäre sie, wenn sie uns nicht behandeln würden, als wollten wir jede Sekunde flüchten. Warum hassen sie uns so?“
Amareth schnaubte.
„Es gab vor langer Zeit einmal irgendwelche Erbstreitereien zwischen einem Menschen und einem Zwerg. Und ich habe es dir ja bereits gesagt, Zwerge vergessen nie. Sie haben den Streit nicht gelöst, da der Mensch, er kam übrigens aus unserem Siebten Land, starb, ehe der Zwerg ihn zum Duell herausfordern konnte. Der empfand das als tödliche Beleidigung und ließ alle zukünftigen Könige schwören, die Menschen aus dem Siebten Land für immer zu verachten. Das liegt jetzt über tausend Jahre zurück. Vielleicht ist König Rocco ja einsichtiger.“
„Hoffen wir‘s.“ Alicia war immer noch nicht wohl bei dem Gedanken daran, was der Zwergenkönig mit ihnen anstellen könnte, wenn er den Erbstreit nicht vergessen hatte.
Es dauerte nicht lange, bis sie erneut Stiefeltritte vor der Tür hörten. Amareth trat hastig einen Schritt zurück.
Die Tür flog auf und der Vertraute des Lords steckte seinen Kopf herein. Seine kleinen Augen blickten Alicia zum ersten Mal an, ohne durch sie hindurch zu sehen.
„Seine Majestät König Rocco wünscht Eure Begleiterin zu sehen“, erklärte er. Alicia durchquerte zögernd den Raum. Doch als Amareth ihr folgen wollte, wies der Zwerg ihn mit einer unwirschen Handbewegung zurück und fügte hinzu: „Allein!“. Alicia warf Amareth einen panischen Blick zu, doch der Zwerg winkte ihr nur ungeduldig zu, daher beschloss sie, sich zu fügen. Schließlich blieb ihr auch kaum eine andere Wahl.
Außerhalb des Raumes wurde sie wieder von den Wachen umringt, doch zwei von ihnen blieben an der Tür zurück.
Die hatten wohl wahnsinnig Angst, dass Amareth entkommen könnte, auch wenn Alicia nicht verstand, warum. Gestern hatten sie den Eindruck gemacht, als wollten alle sie so schnell wie möglich wieder loswerden.
Alicia stolperte vor den Bewaffneten den Gang zurück, den sie gekommen waren, dann bog ihr Führer abrupt ab und stand vor einer Tür. Er klopfte an, und wenig später ertönte von innen ein gleichgültiges „Herein!“. Der Zwerg stieß die Tür auf und betrat den Raum. Noch ehe Alicia einen Blick auf den Zwergenkönig erhaschen konnte, erhielt sie von hinten einen Stoß, dass sie in die Knie ging.
„Aber, aber, nur nicht so grob!“ Diese Stimme sollte Alicia ihr Leben lang nicht mehr vergessen, obwohl sie sie erst ein einziges Mal zuvor vernommen hatte. Entsetzt hob sie den Kopf und blickte in dieselben Augen, in die sie schon einmal voll Todesangst gestarrt hatte.
„Sieh an, man erinnert sich an mich.“ Hunter klang vollkommen ruhig, obwohl Alicia seinen Hass förmlich spüren konnte. Er kroch ihren Nacken hinauf wie eine Spinne, und sie schauderte.
„Sollen wir den anderen holen?“, fragte der Zwerg neben ihr ungerührt.
Nummer 12 schüttelte den Kopf. „Nein,“, sagte er. „das mache ich selbst.“
Dann wandte er sich wieder an Alicia. „Steh auf!“, fuhr er sie an. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie das Gefühl hatte, keine Sekunde auf ihnen stehen zu können. Sie waren in die Falle getappt!
„Braucht Ihr nicht die Unterstützung meiner Männer?“, fragte der Zwerg. „Es wäre mir eine Ehre, sie Euch zur Verfügung stellen zu können.“
„Oh, nein. Vielen Dank.“ Hunter verzog die Lippen zu einem Lächeln, das jedoch seine Augen nicht erreichte. „Es wird mir ein Vergnügen sein, meinen – ähem – alten Bekannten selbst zu überreden, dass es besser für seine kleine Freundin ist, wenn er sich nicht wehrt!“ Damit trat er vor und packte Alicia am Nacken wie ein Tier, das sich gegen seinen Dompteur wehrt. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.
Hunter steuerte auf die Tür zu, doch kurz vorher wandte er sich noch einmal um und warf dem Zwerg einen Beutel Münzen hin. „Gute Arbeit!“, meinte er noch, dann fiel die Tür hinter ihnen zu.
Nummer 12 schob Alicia vor sich her den Weg zurück zu dem Raum, in dem Amareth ahnungslos saß und sich fragte, wo sie wohl solange blieb. Verzweifelt zermarterte Alicia sich das Hirn, wie sie ihn warnen konnte. Hunter schien ihre Gedanken zu lesen, denn noch ehe sie zu Ende gedacht hatte, zog er seinen geliebten Dolch aus dem Gürtel und legte ihr das kühle Metall an den Hals.
„Denk nicht mal daran!“, zischte er ihr ins Ohr. „Es wäre mir höchst unangenehm, wenn ich Lord Ovlos Teppich mit deinem Blut beschmutzen müsste. Seine Majestät ist da etwas eigen, und Blut setzt sich gern in Stoffen fest. Ich habe da meine Erfahrungen. Also tu nichts Unüberlegtes!“
Die Angst schnürte Alicia die Kehle zu. Wie gern hätte sie Hunter angeschrien – es schien das mindeste, was sie tun konnte – doch sie brachte keinen Ton heraus.
Nummer 12 stieß sie auf die Tür von Amareths Gefängnis zu und gab den Wachen einen ungeduldigen Wink. Die traten hastig beiseite. Hunter schob den Riegel zurück und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Alicia sah, wie Amareths Gesichtsausdruck in Sekundenschnelle zu Entsetzen wechselte, als er registrierte, wer da in der Tür stand. Hunter war größer als Alicia, er konnte problemlos über ihren Kopf hinweg sehen, den rechten Arm mit den drei Fingern um ihren Hals geschlungen, mit der linken die Klinge des Dolches an ihre Kehle pressend.
„Keine Bewegung!“, drohte er und wies mit dem Dolch auf einen der wertvollen Sessel, die um ein Tischchen gruppiert in einer Ecke am Fenster standen.
Hunter selbst näherte sich ihm nur ein Stück, während Amareth sich wie betäubt in den Sessel niederließ.
„Nun, mein Freund – “, Hunter sprach zu Amareth, „ – lass uns reden. Wir haben viel Zeit. Ich werde mir meine verbliebenen acht Finger nicht an dir schmutzig machen. Du könntest eigentlich an mir vorbeispazieren, hinaus auf den Hof gehen und mit deinem ganz erstaunlichen Pferd einfach wegfliegen, nicht wahr? Keiner würde dich aufhalten. Doch das wirst du nicht tun. Nicht solange ich diese hübsche junge Dame bei mir habe, denn sie wird eines tragischen Todes sterben, solltest du auf die Idee kommen, eine falsche Bewegung zu machen. Obwohl sie das früher oder später sowieso tun wird.“ Während er sprach, spürte Alicia seinen Atem im Nacken. Es drehte ihr den Magen um, als sie daran dachte, dass noch vor wenigen Minuten Amareth ebenso hinter ihr gestanden hatte. Hunter presste ihr den Dolch noch etwas fester in die Haut.
„Kommen wir zur Sache: Es gibt ein ziemlich einfaches Gesetz in diesem und auch in unserem Land, welches Rache betrifft. Ein Mann tut dem anderen etwas an, der bringt ihn dafür um. Ganz harmlos also. Du hast mich bei der Arbeit gestört und mir zudem heftige Kopfschmerzen eingebracht. Nach dem Gesetz unseres neuen Königs ist das Anlass genug, dich umzubringen. Insofern kannst du dir schon einmal deinen letzten Wunsch überlegen.“
Alicia gab einen erstickten Schmerzenslaut von sich, als er jäh den Griff um ihren Hals verstärkte.
„Ja, Verräter, ich werde dich töten. Aber nicht hier. Und auch deine reizende Begleitung werde ich töten. Schade eigentlich, so ein hübsches Mädchen. Und alles deine Schuld.“
Er machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf. Langsam, wie in Trance, erhob Amareth sich und trat näher.
„Jetzt wirst du deine Hände auf den Rücken nehmen und vor mir hergehen. Denk immer daran, wen ich bei mir habe!“
Amareth gehorchte widerstandslos. Hunter lachte leise und rau.
„Siehst du, das ist der wahre Unterschied zwischen uns beiden. Du bist verletzlich. Magst du auch den Tod nicht fürchten, so bist du doch töricht genug zu lieben. Du wärst bei Gott ein würdiger Nachfolger für mich geworden, aber du hast nicht gelernt, was im Leben zählt. Und nun vorwärts!“
Amareth ging langsam auf die Tür zu und Hunter folgte ihm auf dem Fuß. Alicia fühlte noch immer das kühle Metall seiner Waffe auf der Haut; sie schauderte.
Irgendwie schienen sich lebensgefährliche Situationen bei ihrem Auftrag zu häufen, und meistens hatten sie mit Hunter zu tun.
Keiner der auf dem Hof beschäftigten Zwerge schenkte ihnen Beachtung.
Hunter dirigierte Amareth zum Tor und dem außerhalb wartenden Pferdewagen. Er lächelte liebenswürdig, während er, ohne den Dolch von Alicias Kehle zu nehmen, den Wagenschlag öffnete und Amareth mit dem Kopf ein Zeichen machte, hineinzusteigen. Dann stieß er Alicia hinterher und machte sich in aller Seelenruhe daran, ihnen die Arme auf den Rücken zu fesseln. Schließlich steckte er den Dolch weg und sagte: „Bis nach Aréija ist es weit. Ihr solltet bis dahin schlafen.“
Das letzte, was Alicia sah, war das siegessichere Grinsen auf seinem entstellten Gesicht, als seine Handkante ihre Schläfe traf. Ohne einen Laut sackte sie in sich zusammen.
Kapitel 7: Kaye
Alicia erwachte. Um sie herum war es so finster, dass sie nicht einmal Umrisse ihrer Umgebung ausmachen konnte. Es fühlte sich an, als wäre sie erblindet.
Ihr Kopf dröhnte, als sie versuchte, sich ein wenig zu drehen. Sie lag auf dem Boden; unter ihr befand sich etwas, dass sich wie Stroh anfühlte. Wo war sie? In einem Stall?
Nein, es roch nicht nach Tier. Eher nach Schimmel, Verwesung und abgestandener Luft.
Als sie erneut versuchte sich zu bewegen, klirrten die schweren Eisenketten an ihren Handgelenken.
Sie musste sich tatsächlich in einem Kerker befinden. Ob sie schon in Aréija war? Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Und wo war Amareth?
Sie getraute sich nicht, zu rufen, also prüfte sie, ob sie mit dem Fuß an eine andere Wand stieß als die, an der ihre Ketten befestigt waren. Sie tastete sich an der kalten Steinmauer entlang und stieß kurz darauf auf die gegenüberliegende Mauer. Sie unterdrückte einen Fluch. Die Zelle musste winzig sein.
Auf einmal hörte sie ein Geräusch. Es raschelte irgendwo in der Dunkelheit, nicht weit von ihr. War hier noch jemand? Kurz darauf spürte sie, wie etwas über ihren Fuß lief.
Eine Ratte! Beinahe hätte sie aufgeschrien. Wie lange gedachte man sie hier vergammeln zu lassen? Hoffentlich gab es nicht noch mehr von diesen grässlichen Tieren!
Alicia lag da und starrte in die Dunkelheit. Die Minuten dehnten sich zu Stunden, doch sie nahm es nicht wahr. Noch immer benommen von Hunters Schlag, wartete sie. Auf was, wusste sie nicht. Alles war besser als diese unerbittliche, unendliche, schwarze, hoffnungslose Einsamkeit.
Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, doch er dauerte nicht lange, und bald starrte sie erneut in die undurchdringliche Finsternis.
Stunden später. Alicia fuhr zusammen, als von irgendwo jenseits der Mauern Schritte von schweren Stiefeln erklangen. Dann hielten die Schritte inne und der Riegel der Tür wurde knarzend zurückgeschoben.
Alicia blinzelte ins Licht einer Laterne; sie war so geblendet, dass sie nicht erkennen konnte, wer in der Tür stand. Der jemand leuchtete ihr kurz ins Gesicht und machte sich anschließend mit einem riesigen Schlüsselbund an ihren Ketten zu schaffen. Dann war sie frei und der Mann packte sie an den Armen und zerrte sie auf die Beine, die ganz taub waren nach der endlosen Bewegungslosigkeit. Sie wurde aus der Zelle geschleift und im schwachen Fackellicht im Gang davor konnte sie ihren Befreier erst erkennen. Es war ein riesiger, grobschlächtiger Kerl, der sie mit eisernem Griff gepackt hielt. Den traute sie sich nicht zu fragen, wo sie war.
Er schleifte sie ohne ein Wort den spärlich beleuchteten Gang entlang, vorbei an weiteren schweren, eisenbeschlagenen Türen, hinter denen sich wohl noch weitere Zellen wie die ihre befanden. Sie stolperte eine Treppe hinauf und dann waren sie plötzlich draußen.
Im hellen Sonnenlicht blinzelnd, versuchte Alicia sich zu orientieren, doch der Hüne zerrte sie rücksichtslos weiter. Als sie einigermaßen erkennen konnte, worauf sie zuhielten, wurde ihr Verdacht bestätigt. Sie war in Aréija. Vor ihr ragte der Turm auf, genauso mächtig und wunderschön wie bei Alicias ersten Besuch in der Hauptstadt. Offensichtlich lag der Kerkereingang in einer Art Hinterhof.
Durch eine silberne Tür gelangten sie in die riesige Halle im Erdgeschoss des Turmes. Der Gefängniswärter stieß sie auf die Treppe zu und aufwärts bis zu der Tür, durch die sie schon einmal gegangen war, ebenfalls gefangen, damals noch ohne die geringste Ahnung von dieser Welt.
Als sie in den prachtvollen Raum hinter der Tür nach den fünfhundertsiebenundfünfzig Stufen stolperte, glaubte sie zu wissen, wer sie erwartete. Doch war es nicht die Stimme von Lord Kaye, die sie aufblicken ließ.
Es war eine andere, dumpfere, die irgendwie gelangweilt klang.
„Ich hatte sie mir größer vorgestellt!“
Auf dem Thron an der gegenüberliegenden Wand des Raumes saß ein untersetzter, blonder Mann, der sie aus blassen, graublauen Augen musterte. Das musste der König sein, Cant.
„Sie ist ja fast noch ein Kind.“ Kayes Stimme hätte sie wohl auch Jahre später noch wiedererkannt. Er stand etwas abseits an eine prunkvolle Säule gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Jetzt wandte er sich direkt an Alicia.
„Sieh an, Rani, so sieht man sich also wieder. Ihr habt Euch gar nicht verändert.“
Alicia brachte keinen Ton heraus, einerseits aus Angst, andererseits, da der Riese ihr noch immer die Luft abdrückte.
Kaye fuhr fort: „Es ist wahrhaft bedauerlich, hättet Ihr und der Verräter doch beinahe Euer Ziel erreicht. Aber macht Euch nichts daraus, immerhin habt Ihr es mit mir zu tun.“ Er lächelte, doch es war kein angenehmes Lächeln. Eher ein gefährliches, lauerndes. Jetzt fühlte sich allerdings Cant vernachlässigt und rief sich den Anwesenden mit einem leichten Hüsteln wieder in Erinnerung.
„Nun, euer Wiedersehen ist ja wirklich rührend, doch sollten wir vielleicht zum Thema kommen.“ Anscheinend bildete Lesen wirklich. Der Satz stammte nämlich von Cants Lieblingsschurken aus einer Erzählung seines persönlichen Dichters.
Kaye warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den Cant jedoch nicht bemerkte. Er war nämlich zu beschäftigt damit, sich ein unsichtbares Staubkörnchen mit der Hand vom Umhang zu fegen.
„Also schön, Alicia, kommen wir zur Sache.“ Woher Kaye ihren wirklichen Namen haben konnte, wusste sie nicht.
„Es sind noch einige Tage bis zur Hinrichtung unseres Freundes Amareth, das ist genug Zeit für Euch, Euch freizukaufen. Es gibt nur eine winzige Sache, die wir von Euch wissen möchten. Wir fragen Euch, da der Verräter ohnehin nichts verrät außer seinen eigenen Leuten. Aber Ihr, Ihr werdet es tun, nicht wahr? Lass sie doch los, um Himmels Willen, sie bekommt doch so keine Luft!“, fuhr er den Gefängniswärter an, der blitzartig von Alicia abließ und rückwärts den Raum verließ.
„Alles was wir wissen wollen, ist: Wo ist die Königin?“
Alicia fuhr so heftig zusammen, das es sogar einem Blinden aufgefallen wäre. Ein Lächeln stahl sich auf Kayes Gesicht. Sie wusste es.
„Die Königin ist tot.“ Alicia schluckte. Sie wusste, dass es sinnlos war, noch ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.
„Natürlich sollte sie das sein, doch anscheinend ist ihr dummerweise die Flucht gelungen, ohne das Verschulden ihres Mörders.“
A’en hatte Glück gehabt.
„Ihr werdet uns doch sicher sagen, wo wir die junge Dame finden können. Wenn Ihr uns diese eine Frage beantwortet, könnt Ihr gehen, wohin Ihr wollt, zurück in Eure Welt, zum Beispiel.“
„So wie Euer letztes Versprechen, mich gehen zu lassen, nicht wahr?“
Alicia wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm, so mit diesem Mann zu reden, doch Kaye ging nicht darauf ein.
„Also werdet Ihr es uns sagen?“, fragte er ungerührt.
„Niemals!“
„Nun, wir werden sehen. Morgen gibt unser König – “, er warf Cant einen unfreundlichen Seitenblick zu, „– ein großes Fest zu Ehren der Ergreifung eines gefährlichen Vaterlandsverräters. Ihr habt folglich noch genügend Zeit, Euch Eure Antwort zu überlegen.“
Cant erwachte aus der Betrachtung seiner Fingernägel und nickte nur unbeteiligt. Ehe der riesenhafte Gefängniswärter wieder gerufen wurde, wagte Alicia noch einmal, den Mund aufzumachen.
„Ich habe noch eine Frage.“
Sie richtete das Wort absichtlich an Kaye. Der nickte kurz.
„Wie lange war ich bewusstlos?“
„Nun, Eure Ergreifung im Fünften Land ist drei Tage her. Wir haben inzwischen Nachmittag. Ach, und falls es Euch interessiert, es ist unser ausdrücklicher Wunsch, dass Ihr morgen an unserem Fest teilnehmt.“
Alicia unterdrückte ein Stöhnen. Warum taten sie ihr das an?
Sie würde wohl viel Zeit haben, darüber nachzudenken, denn Cant ließ den Riesen von einem Gefängniswärter rufen, der sie zurück in ihre winzige Zelle brachte. Dort wurde sie wieder angekettet, und der Wärter ließ sie allein.
„Es sind noch einige Tage bis zur Hinrichtung unseres Freundes Amareth...“
Sie würden ihn umbringen. Doch hatte sie nicht gewusst, wie gefährlich die Männer waren, mit denen sie sich einließ? Sie hätte gehen können, zurück in ihre Welt, zu ihrem Vater und Michael... Doch sie hatte sich dagegen entschieden, und das zu Recht, oder etwa nicht? Ihre Familie hielt sie immerhin schon für tot.
Sie versuchte, sich so zu drehen, dass das Blut in ihren Beinen etwas weniger abgedrückt wurde, und richtete sich auf eine unbequeme Nacht ein.
Alicia hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte, als der Wachmann zurückkehrte. Er befreite sie von den Ketten und schleifte sie erneut den Weg zum Turm hinter sich her. Die Sonne stand schon wieder ziemlich tief, obwohl es Alicia vorgekommen war, als wären drei Tage vergangen statt einem. Ihr war jegliches Gefühl für Zeit abhanden gekommen, verschluckt von der undurchdringlichen Finsternis ihrer Zelle.
Diesmal wurde sie nicht in den kleinen Thronsaal geführt, sondern die weitere Stufen hinauf bis zu einer silbernen Tür. Der Gefängniswärter stieß sie auf und Alicia in das dahinterliegende Zimmer. Der Raum war nicht groß, und ein kleiner Bereich war durch einen Wandschirm abgetrennt. An der Wand lehnte Lord Kaye; er lächelte, als er Alicia sah.
„Habt Ihr gut geschlafen?“, fragte er freundlich, während er sich von der Mauer abstieß und auf sie zutrat. „Ich erinnere mich, dass ich Euch von dem heutigen Fest in Kenntnis gesetzt habe. Doch so, wie Ihr derzeit ausseht, könnt Ihr unmöglich auf einem Fest erscheinen. Ich habe mir erlaubt, Euch angemessene Kleidung auszusuchen. Außerdem habe ich den Wunsch, dass Ihr Euch wascht.“ Er warf einen Blick auf ihr langes, inzwischen ziemlich verfilztes Haar, das seit Tagen nicht mehr gewaschen worden war. Dann wies er auf den Wandschirm.
„Euer Aufseher wird selbstverständlich hier auf Euch warten. Ferner steht Euch eine Zofe zur Verfügung, die Euch helfen wird.“
Kaye verneigte sich galant und ging an Alicia vorbei zur Tür. Dort hielt er noch einmal inne und sagte: „Ihr fragt Euch sicher, womit Ihr dieses Fest verdient habt. Nun, seht es als kleinen Teil einer Strafe an, dass Ihr einen meiner Männer mehrmals hereingelegt habt.
Obwohl man es wohl kaum Euch anlasten kann, strenggenommen war es die Schuld Eures Begleiters. Doch seid Ihr nicht ganz unschuldig, und wenn Ihr Mut habt, was ich nicht bezweifle, so tragt diesen Abend mit Fassung.“ Damit wandte er sich ab und verließ den Raum. Alicia blickte ihm nur hasserfüllt nach.
Knapp eine Stunde später saß Alicia auf einer Mauer im Hinterhof und ließ ihr Haar an der Luft trocknen. Ihr Bewacher hatte sich keinen Steinwurf entfernt an die Außenmauer des Turmes gelehnt. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen.
Notgedrungen trug Alicia das Kleid, dass Kaye für sie ausgesucht hatte. Es war schlicht; weinrot und ohne besondere Verzierungen. Sie hatte es vom ersten Augenblick an gehasst.
Um sie herum waren einige Männer eifrig mit der Vorbereitung für den Abend beschäftigt. Dies war der Ort, den Kaye als am ausbruchsichersten befunden hatte, hier konnte er es wagen, Alicia und Amareth zusammentreffen zu lassen. Natürlich unter strengster Aufsicht durch mehrere Soldaten.
Alicia hatte die ganze Zeit, die sie hier saß und wartete, die Tür zu den Kerkern nicht aus den Augen gelassen. Endlich vernahm sie die Schritte der eisenbeschlagenen Stiefel der Soldaten, und dann erschien Amareth. Zwei Männer hielten seine Arme fest, obgleich er gefesselt war. Er sah fürchterlich aus, offenbar hatte man ihn schlechter behandelt als sie. An seiner Schläfe klebte Blut, und er hatte mehrere Schrammen am Körper. Seine Kleider waren inzwischen reichlich mitgenommen, doch schien er erleichtert, sie zu sehen.
Die Wachen stießen ihn auf die Mauer zu, auf der Alicia saß und entfernten sich wenige Schritte. Befangen mühte Alicia sich, nicht auf seine Verletzungen zu schauen, doch natürlich bemerkte er es.
„Das ist nichts“, sagte er leise. „Wie ich sehe, geht es dir gut.“
„Nein“, murmelte sie. „Sie werden dich umbringen.“
Amareth bemühte sich zu lächeln, was ihm jedoch nicht recht gelang. „Damit kann ich leben“, versuchte er zu witzeln.
„Was viel wichtiger ist, ist die Frage: Wie bringen wir dich hier raus?“ Er sprach nun so leise, dass die Wachen ihn nicht hören konnten. Sie versuchten es allerdings auch nicht. „Ich nehme an, sie wollen von dir wissen, wo Königin Amariah steckt.“
Alicia nickte. „Von mir erfahren sie nichts!“, meinte sie trotzig. Es klang mutiger, als sie sich fühlte.
„Wie lange haben sie dir Zeit gegeben?“, fragte Amareth.
Alicia schluckte. „Bis zu...“ Sie brach ab. Konnte es nicht aussprechen.
„Bis zum Tag meiner Hinrichtung.“
Seine Ernüchterung tat ihr weh. „Bitte... es muss einen Weg für uns beide geben!“
„Ich sehe keinen. Hör zu, sie sind hauptsächlich an mir interessiert, also werden sie dich eher entkommen lassen als mich. Ich werde versuchen, irgendwie Tumult auszulösen, wenn du im Freien bist, und tu mir den Gefallen und warte nicht auf mich, wenn es soweit kommt.“
Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter.
„Weine nicht.“ Seine Stimme klang belegt, doch er bemühte sich, seine innere Bewegung nicht zu zeigen.
„Seid ihr langsam fertig?“, rief einer ihrer Wächter ungeduldig.
„Es wird alles gut, ich verspreche es dir. Geh zurück in deine Welt, sobald du kannst. Falls du vorher noch den Spiegelmacher aufsuchen willst, du findest ihn sicher in seiner Hütte.“ Amareth sprach leise und hastig, denn die beiden Soldaten, die ihn hergebracht hatten, näherten sich ihnen ungeduldig.
„Denk an den Abend auf unserer Reise, in der Höhle, erinnerst du dich? Vergiss ihn nicht!“
Die Wächter zerrten Amareth auf die Beine und auf den Kerkereingang zu.
„Das werde ich nicht!“ Vor ihren Augen verschwamm seine Gestalt, bis sie die Augen schloss und ihren Schmerz irgendwo in den Tiefen ihres Herzens versenkte. Alicia nahm sich vor, ihn nie wieder hervorzuholen.
Sie wollte stark sein, weil Amareth stark war.
Der Abend kam schneller, als Alicia lieb war. Um sie herum wurden Tische aufgebaut, Blumenschmuck verteilt und riesige Mengen an Speisen herangeschleppt. Sie hasste Kaye so sehr dafür, dass er ihr das antat. Doch hatte sie sich vorgenommen, ihm nicht die Genugtuung zu verschaffen, sie weinen zu sehen.
Als es dunkelte, begann sich der Hinterhof zu füllen. Es war kein öffentliches Fest, wie ihr Kaye anvertraut hatte. Dafür, dass es im „kleinen Kreis“ stattfinden sollte, waren jedoch eine ganze Menge Leute anwesend. Alicia blieb auf der Mauer sitzen. Für immer wollte sie hier sitzen bleiben, oder zumindest solange, bis Königin Amariah wieder auf ihrem rechtmäßigen Thron saß. Während sie auf die unerreichbar fernen Sterne starrte und einige Sternbilder bemerkte, die sie auch aus ihrer Welt kannte, blieb ihr Bewacher die ganze Zeit in ihrer Nähe an die Mauer gelehnt stehen, die Hand am Schwertgriff, als könnte sie jeden Moment einen Fluchtversuch unternehmen.
Irgendwann hielt Kaye eine seiner berüchtigten Reden, in der er das blutige Schicksal von Vaterlandsverrätern im Allgemeinen und Amareths im Besonderen auf höchst unappetitliche Weise erläuterte. Alicia hörte ihm schon bald nicht mehr zu. Dann erklärte Kaye das Büfett für eröffnet und der Kreis der Zuhörer zerstreute sich. An der gegenüberliegenden Mauer des Innenhofs begann ein Orchester zu spielen und einige Zeit später war die Luft erfüllt vom fröhlichen Geplapper der Versammelten. Alicia schnürte ihre Fröhlichkeit beinahe die Luft ab. Wer waren diese Menschen, dass sie sich so auf eine Hinrichtung freuten?
Die Zeit verging, ohne dass Alicia etwas davon mitbekam. Sie blieb nur auf der Mauer sitzen und beobachtete unbeteiligt das festliche Treiben um sie herum. Inzwischen waren einige der Tische beiseite geschoben worden, und auf der entstandenen Fläche tanzten einige Paare. Keiner beachtete Alicia, also beachtete sie auch niemanden.
Da stand auf einmal Kaye vor ihr.
„Tanzen?“
Alicia warf ihm nur einen geringschätzigen Blick zu.
„Nicht mit Euch.“
Kaye lehnte sich unbefangen neben ihr an die Mauer.
„Es würde Eurer Stimmung sicherlich gut bekommen“, meinte er, als habe sie sich nur den Fuß gestoßen und deshalb schlechte Laune.
„Glaubt Ihr denn, dass ich meine Stimmung verbessern will?“ Er sollte sich nicht einbilden, dass sie es ihm einfach machen würde.
„Ehrlich gesagt, Ihr scheint mir nicht besonders niedergeschlagen. Wer weiß, vielleicht hasst Ihr den Verräter ja aus tiefster Seele?“
Alicia spürte, dass sie wütend wurde, doch genau das war es, was Kaye erreichen wollte.
„Vielleicht hasse ich auch nur seinen Vater aus tiefster Seele?“, entgegnete sie bissig.
„Er hat es Euch also anvertraut.“ Es war eine Feststellung. „Wie rührend von ihm. Er scheint ja wirklich großes Vertrauen in Euch zu setzen. Wisst Ihr denn auch von seiner Mutter?“
„Das geht mich nicht wirklich etwas an, oder?“
Kaye lächelte. „Das nicht, aber womöglich interessiert es Euch. Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen: Es war einmal ein dummes junges Mädchen, das hielt sich für den Nabel der Welt. Es glaubte, wenn es einen Adligen heiraten würde, könne es Königin werden, denn obgleich unsere Königinnen gewählt wurden, hatte man mit Adelstitel bessere Aussichten auf den Thron.“
Alicia wusste nicht, ob sie diese Geschichte hören wollte.
„Also versuchte das Mädchen, sich einen hübschen jungen Adligen zu angeln. Sie lernte auch tatsächlich einen kennen, doch die beiden mussten sich heimlich treffen, denn die Eltern des jungen Mannes wollten nicht, dass er mit einem Mädchen aus der Unterschicht zusammen war. Alles ging gut, bis das Mädchen eines Tages schwanger wurde. Sie war verzweifelt, eilte zu ihrem Geliebten und bat ihn unter Tränen, sie zu heiraten. Der junge Adlige jedoch glaubte nicht an die Liebe seines Lebens und schickte sie weg. Ein knappes Jahr später gebar das Mädchen einen Sohn, ihre Eltern verstießen sie nicht und sie fragte sich, warum sie einen solchen Aufstand gemacht hatte. Das Kind half ihr über den Verlust des Mannes, den sie glaubte geliebt zu haben, hinweg. Doch jener Mann hatte inzwischen große Pläne. Deshalb wartete er nur ein knappes Jahr, dann holte er seinen Sohn. Denn ihm war klar geworden, dass es viele Vorteile für ihn barg, einen Sohn zu haben. Niemals hätte er erwartet, dass sich sein eigener Sohn eines Tages gegen ihn stellen würde. Oder dass das Mädchen tatsächlich auch ohne seinen Adelstitel Erfolg haben könnte bei der Wahl zu neuen Königin.“
Kaye schwieg einen Moment, dann fuhr er fort.
„Ich nehme an, jetzt wisst Ihr, wer das einfältige Mädchen war. Wir hörten lange nichts von ihr, bis zum Tag der Wahl. Ich war an jenem Tag nicht hier, sondern im Dritten Land, daher erfuhr ich noch später von ihrem überraschenden Sieg. Sie hatte sich ziemlich verändert in den achtzehn Jahren, die dazwischen lagen.“
„Warum erzählt Ihr mir das, was noch nicht einmal Amareth selbst weiß?“ Alicia versuchte, ihre Wut zu beherrschen.
„Ich hielt es nicht für nötig, ihn einzuweihen“, meinte Kaye kühl. „Es hätte ihn damals nur in seinem Entschluss, mich hinter sich zurückzulassen, bestärkt. Seit dem Tag, als er ging, habe ich ihn nicht wiedergesehen.“
Alicia sah in ausdruckslos an. Da fiel ihr auf, dass er dieselben dunklen Augen hatte wie Amareth. Eigentlich war er ein überdurchschnittlich gut aussehender Mann.
„Nun, denn.“ Kaye stieß sich von der Mauer ab und verneigte sich knapp vor ihr. „Es war mir ein Vergnügen, mit einer so schönen Dame zu plaudern. Wir sehen uns morgen.“ Damit wandte er sich ab und verschwand in der Menge. Kaye mochte zwar grausam sein und ein Verbrecher, doch er war es auf eine sehr charmante Art.
Später, als Alicia wieder allein in ihrem Kerker lag, wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf nur so herum.
Wie hatte Königin Amariah nur auf Kaye hereinfallen können? Wusste sie, dass Amareth ihr Sohn war? Dass er sterben würde? Dass er nicht wusste, dass sie seine Mutter war? Hatte sie damals gewusst, dass sie einmal so verbittert gegen den Mann kämpfen würde, den sie einst geliebt hatte?
Alicia würde ihr Versteck nie verraten. Wenn Kaye Amareth umbringen würde, war sowieso alles egal. Sie fühlte sich so leer; schwarz und hohl wie die Finsternis ihres Gefängnisses. Es war so ungerecht. Wie konnten sich Menschen anmaßen, über Leben und Sterben zu entscheiden?
Und warum, warum in aller Welt musste es Amareth sein, den sie beseitigen wollten?
„Eure Antwort bleibt also Nein?“ Kayes Stimme hallte durch den großen Thronsaal. Es schien ihm nicht besonders viel auszumachen, dass sich Alicia heute erneut aufsässig benahm. Es schien ihn sogar zu erheitern.
„Würdet Ihr selbst dann nicht von Eurer Meinung abweichen, wenn wir Euch anböten, den sogenannten Verräter freizulassen?“
„Das würdet Ihr nicht tun.“ Alicia war vollkommen beherrscht. „Ihr würdet warten, bis Ihr wüsstet, wo sich die Königin befindet, dann würdet Ihr nicht nur sie, sondern auch Amareth und mich umbringen. Nicht wahr?“
Kaye lächelte wie ein Lehrer, der einem Kind eine schwierige Lektion klargemacht hat.
„Ihr habt viel gelernt, seit ihr den Turm zum letzten Mal mit Eurem Besuch beehrt habt. Vermutlich habt Ihr Recht, er würde dennoch oder gerade deswegen sterben. Allerdings spricht noch immer nichts dagegen, Euch selbst zu retten. Mein Angebot gilt noch immer. Verratet Ihr mir, wo sich die ehemalige Königin zu diesem Zeitpunkt aufhält, so lassen wir Euch gehen.“
„Meine Antwort wird sich nicht mehr ändern. Von mir erfahrt Ihr nichts, das sollte Euch inzwischen klar geworden sein.“
Fast schien es Alicia, als freue sich Kaye über ihren Ungehorsam.
Die Dunkelheit war ungewohnt hell. Es schien unglaublich, wie viel das Mondlicht ausmachte, obwohl gerade mal eine schmale Sichel zu sehen war.
Alicia bemerkte nicht, dass ihr Tränen die Wangen hinunterliefen und tausend Dornen sich in den Stoff ihrer Kleider krallten. In ihrem Kopf war nur Raum für einen Gedanken: Sie war frei!
Später hatte sie weder eine Erinnerung daran, wie sie entkommen konnte, noch an ihre wilde Flucht durch Aréija und den Wald. Sie hörte Amareths Worte in ihrem Kopf: Tu mir den Gefallen und warte nicht auf mich, wenn es soweit kommt.
Dann war der Wächter unaufmerksam gewesen, als habe er nur auf ein Signal gewartet, um sie entkommen zu lassen.
Alicia wusste, wo sie hingehen würde: zum Spiegelmacher. Sie konnte nicht zu der Höhle der Königin, falls man ihre Fährte aufnahm oder gar Hunter hinter ihr her schickte. Sie besaß einen relativ guten Orientierungssinn und glaubte, den Weg zur Hütte des Spiegelmachers auch im Dunkeln zu finden, obwohl sie erst einmal dort gewesen war.
Sie benutzte nicht den Weg, sondern rannte ein Stück weiter zwischen den Hügeln entlang. Immer wieder musste sie innehalten, um ihr rasendes Herz zu beruhigen oder ein Seitenstechen zu unterdrücken. So brauchte sie bedeutend länger als mit dem Spiegelmacher zusammen. Auch lauschte Alicia ab und zu in die Nacht, ob sie schon das Getrappel von Pferdehufen oder die Rufe der Männer hören konnte. Es war auch möglich, und dieser Gedanke jagte ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter, dass Hunter ihr allein gefolgt und dicht auf den Fersen war. Fast meinte sie, bereits seinen Atem im Nacken zu spüren, während er seinen silbernen Dolch zog.
Es war beinahe noch beängstigender, dass nichts geschah. Als am Horizont die ersten Sonnenstrahlen aufleuchteten, kehrte sie auf den Weg zurück und sah vor sich, unberührt und friedlich, die Hütte des Spiegelmachers liegen. Der Esel stand an der Rückwand angebunden da und fraß Heu, was Alicia als gutes Zeichen auffasste, denn es bedeutete, dass der Spiegelmacher zu Hause war.
Sie sah sich sehr gründlich um, bevor sie die Straße betrat und zur Vordertür der Hütte lief. Dort klopfte sie etwas zögerlich.
Nach einiger Zeit vernahm sie von drinnen schlurfende Schritte, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit und der Spiegelmacher streckte verschlafen den Kopf ins Freie. Als er Alicia erkannte, wurde er jedoch schlagartig hellwach.
„Um Gottes Willen, was ham se denn mit dir gemacht? Wo wart’n ihr überhaupt solange? Und wo is Amareth? Was is passiert?“
Alicia sah sich vorsichtig um. Der Spiegelmacher bemerkte es und bat sie ins Haus. Dort bugsierte er sie zum Tisch und sie ließ sich wie betäubt auf der Eckbank nieder. Der Spiegelmacher setzte sich ihr gegenüber und sah sie erwartungsvoll an.
„Also, jetzt erzähl mal. Was is passiert?“
Da hielt Alicia es nicht mehr aus.
„Sie werden ihn umbringen!“, stieß sie hervor und kämpfte schon wieder mit den Tränen. „Sie haben uns in der Hauptstadt des Fünften Landes abgefangen, und jetzt werden sie ihn töten!“
Der Spiegelmacher schaute erschüttert drein. „Moment mal, der Reihe nach. Cants Leute ham euch im Fünften Land abgefangen und festgenommen. Jetzt woll’n se Amareth hinrichten lassen, stimmt‘s?“
Alicia nickte nur. Der Spiegelmacher blickte einen Moment aus dem Fenster zum Sonnenaufgang hinaus.
„Wie bist denn eigentlich du entkommen? Die werd’n euch doch ganz ordentlich bewacht haben.“
„Ich weiß es nicht.“ Alicia senkte den Blick. „Es war, als würden alle Wachen auf einmal weniger auf mich achtgeben.“
„Moment mal.“ Auf dem faltigen Gesicht des Spiegelmachers machte sich Bestürzung breit. „Was wollt’n se eigentlich von dir?“
„Sie wollten wissen, wo die Königin ist.“ Mit einem Mal fühlte Alicia all die Leere und Taubheit zurückkehren, die sie von ihrem dunklen Gefängnis her kannte. „Aber ich hab’s ihnen nicht gesagt. Obwohl sie mich danach freilassen wollten.“
„Dann werd’n se bald hier sein“, murmelte der Spiegelmacher, während er sich erhob und zum Fenster humpelte. Er drehte sich zu Alicia um und sah sie ernst an.
„Du musst wieder in deine Welt. Jetzt gleich!“
Alicia starrte ihn entsetzt an. „Ich kann nicht!“
„Du musst. Ich glaub nämlich, dass se dich nur laufengelassen ham, um zu sehen, ob de schnurstracks zur Königin rennst. Oder zu ihren Verbündeten. Mich ham se schon länger auf’m Kieker, also dürfen se dich net bei mir finden, verstehste?“
Das leuchtete ein, doch Alicia konnte jetzt nicht einfach zu ihrem ehemaligen Leben zurückkehren. Nicht solange Amareth in Lebensgefahr war.
„Komm.“ Der Spiegelmacher führte sie wieder ins Freie und zu dem Spiegel, aus dem sie gekommen war.
„Ich kann nicht einfach verschwinden, als ob nichts gewesen wäre! Was wird aus Amareth?“ Sie spürte Verzweiflung in sich aufsteigen.
„Wir werd’n tun, was wir können!“, versprach der Spiegelmacher. „Jetzt musste nicht zuletzt zu deiner eigenen Sicherheit hier weg!“ Er schob sie auf den Spiegel zu. „Komm nicht zurück. ‘s is zu gefährlich. Wir hätt‘n dich von Anfang an net mit reinziehen sollen. Geh jetzt!“
Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen, als sie sich umdrehte und den Spiegel betrat. Das letzte, was sie sah, als sie noch einmal zurückblickte, waren etwa ein halbes Dutzend Reiter, die sich schnell auf der Straße näherten.
Kapitel 8: Verzweiflung
Alicia war fast zwei Wochen wieder in ihrer Welt, als sie beschloss, zurückzukehren. Seit Mr Stuart im Gefängnis von Seattle in Untersuchungshaft saß, mussten sie noch viel vorsichtiger sein als zuvor. Zum Glück waren noch Ferien, da fiel es leichter, im Haus zu bleiben. Die Gefahr, dass man Thomas auf die Spur kam war zu groß, obgleich er von einem Internetcafé aus alle Daten auf Mr Stuarts Rechner, in denen einer seiner Decknamen vorkam, sowie die wichtigsten Beweisstücke gegen Stuart selbst und seine Familie vernichtet hatte. Matthew Stuart und seine Mutter waren bei Verwandten im Osten der Stadt untergekommen.
Diese zwei Wochen waren eine einzige Tortur gewesen. Nicht, dass sie das Ausgehverbot sonderlich störte, Alicias Brüder verbrachten einfach den ganzen Tag vor ihren Computern oder spielten alberne Spiele, da Thomas ihnen den Internetzugang verwehrt hatte. Alicia hingegen aß kaum etwas, schloss sich in ihrem Zimmer ein und starrte aus dem Fenster.
Ihr Aufenthalt hinter dem Spiegel hatte in ihrer Welt mehr als zwei Wochen gedauert, in Rawania hingegen nur etwa zehn Tage. Das erklärte vermutlich auch den Unterschied in den Epochen; in Rawania lief die Zeit einfach langsamer. So hatte sich Alicia ziemlich genau ausrechnen können, an welchem Tag Amareth hingerichtet werden sollte.
An diesem Tag hatte sie ihr Zimmer überhaupt nicht verlassen.
Ihrer Familie hatte sie so wenig wie irgend möglich erzählt; es tat zu sehr weh. Allein der Gedanke an den unvermeidlichen Spott in Amareths dunklen Augen ließ Tränen hinter ihren Augen brennen. Sie wusste, dass es nicht nur an der Ungerechtigkeit und ihrem guten Verhältnis zu Amareth lag, sondern hauptsächlich an dem besonderen, was sie für ihn empfand. Sie war sich sicher, dass diese zwei Wochen die schlimmsten ihres Lebens waren. Alicia musste sich Gewissheit verschaffen, sonst würde sie an ihrem Kummer ersticken.
Den Spiegel hatte Matthew gerettet, im Haus seiner Verwandten war sie aus ihm heraus gestolpert. Alles, was sie zu tun hatte, war, sich heimlich wegzuschleichen und Matthew oder seine Mutter zu überreden, sie zum Spiegel vorzulassen.
Matthew kam häufiger zu ihnen, seit sein Vater hinter Gitter gebracht worden war. Er sprach viel und leise mit Thomas und Michael und blieb manchmal den ganzen Tag. Alicia musste also nur einen Moment finden, mit ihm allein zu sprechen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, ob er ihr überhaupt zuhören, geschweige denn sie ernst nehmen würde. Sie wurde aus Matthew einfach nicht schlau. Er beherrschte sich immer und zeigte nie auch nur die Spur eines Gefühls; Alicia gegenüber verhielt er sich höflich und distanziert, so ganz anders als Amareth. Sie war sich sicher, dass es nicht einfach werden würde, ihn zu überzeugen.
Doch der Zufall kam ihr zuvor.
Als wie aus dem Nichts ein anonymer Zeuge gegen Mr Stuart auftrat, wurde er zu mehreren Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Seine Frau entschied, mit Matthew in ein Dorf südlich von Seattle zu gehen und alles, was an ihr altes Leben erinnerte, zu vernichten.
Der Spiegel entkam diesem Schicksal nur aufgrund seines angeblich hohen Wertes; er sollte auf einer Auktion versteigert werden.
Ein wenig außerhalb von Seattle lebte Alicias Großmutter väterlicherseits. Sie war eine Liebhaberin von außergewöhnlichen Möbelstücken aller Art. Rein zufällig und ohne die geringste Ahnung, dass er dem Chef ihres Sohnes gehört hatte, kaufte sie den Spiegel und hängte ihn sich ins Haus.
Als nun Thomas Newton beschloss, seine seit neuestem in sich gekehrte und anscheinend verzweifelte Tochter, die nicht über das reden wollte, was ihr auf der anderen Seite des Spiegels geschehen war, zur Erholung zu ihrer Großmutter zu schicken, ergriff Alicia die Gelegenheit beim Schopf. Noch in der ersten Nacht, die sie im Haus ihrer Großmutter verbrachte, schrieb sie einen ausführlichen Brief an ihren Vater, in dem sie ihm alles erzählte und ihm versprach, nur nachzusehen, ob Amareth wirklich tot war und dann sofort wieder nach Hause zu kommen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass sie dieses Versprechen nicht auch nur annäherungsweise würde halten können.
Den Brief deponierte sie gut sichtbar auf dem Esszimmertisch, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und betrat zum dritten Mal in ihrem Leben einen Spiegel.
Kapitel 9: Zurück
Diesmal war Alicia vorsichtiger, als sie ins Freie trat. Wenn der Spiegelmacher recht gehabt hatte, könnte sie theoretisch aus einem Spiegel im Turm von Aréija und Kaye direkt in die Arme laufen. Da sie das natürlich vermeiden wollte, versuchte sie, zuerst durch das von der Rückseite milchig wirkende Glas zu spähen, ehe sie den dahinterliegenden Raum betrat. Viel erkennen konnte sie nicht, doch reichten die Schemen aus, um ihr zu sagen, dass sich niemand unmittelbar vor dem Spiegel befand.
Vorsichtig, falls trotzdem jemand im Raum war, streckte Alicia den Kopf durch das Glas. Und fuhr zusammen. Einen ersten schrecklichen Moment lang glaubte sie, im Turm gelandet zu sein, bis ihr bewusst wurde, dass es niemals so sein konnte. Der Raum, in den sie gestolpert war, besaß keinerlei Fenster und nur eine Tür. Er war schlicht eingerichtet; die Einrichtung kam Alicia bekannt vor. Ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch, eine Feuerstelle, eine Truhe. Sonst nichts.
Der Spiegel hing an der Wand, die dem Eingang gegenüberlag. Er war etwa mannshoch und kunstvoll verziert.
Alicia bemühte sich, möglichst leise auf den Boden zu springen. Gerade hatte sie beschlossen, zuerst an der Tür zu lauschen, ob jemand kam, da wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Der äußere Riegel gab ein kratzendes Geräusch von sich, als er zurückgeschoben wurde. Dann wurde die Tür aufgeschoben.
Schwer zu sagen, wer mehr erschrak, Alicia oder die Person, die in der Türöffnung, Alicias einzigem Weg nach draußen, stand.
„Alicia!“ Königin Amariah entspannte sich sichtlich. „Wo kommst du denn auf einmal her? Und was machst du hier?“
Auch Alicia musste sich erst von dem Schreck erholen.
„Ich wollte...“ Sie fasste sich ein Herz. „Ich muss nur wissen, ob Amareth wirklich tot ist.“
Ein Muskel in Amariahs Gesicht verkrampfte sich. „Komm!“, sagte sie nur und verließ die Kammer. Alicia folgte ihr bange. Sie wusste nicht, ob sie die Antwort auf ihre Frage wirklich wissen wollte.
Sie betrat hinter der Königin die große Höhle, in der sich Amariah versteckt hielt. In der Ecke am Feuer stand ihre stumme Zofe und stocherte mit einem Schürhaken in der Glut herum. Am Tisch jedoch stand A’en. Er hatte die Kapuze seines dunklen Umhangs zurückgeschlagen; Alicia bemerkte, dass sein schwarzes Haar bereits graue Strähnen aufwies. Er reagierte kaum erstaunt, als er Alicia bemerkte. Fast, als habe er immer gewusst, dass sie eines schönen Tages zurückkehren würde. Er hob lediglich die Augenbrauen um einen halben Millimeter.
„Ich hole den Spiegelmacher“, erklärte er dann, verneigte sich kurz vor Amariah und verließ die große Höhle durch die Tür, die auf den Gang hinaus führte. Die Königin bot derweil Alicia einen Stuhl an und setzte sich ihr gegenüber.
Sie schien Alicia anzusehen, doch ihre blauen Augen waren auf einen Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet, den niemand außer ihr einsehen konnte. So saßen sie stumm da, bis die Tür erneut aufging und A’en gefolgt von dem Spiegelmacher und Ra’ana hereinkam. Der Spiegelmacher drängte sich an A’en vorbei und fasste Alicia an den Schultern.
„Ich hab‘ dir doch gesagt, dass de nicht wiederkommen sollst. ‘s is zu gefährlich! Überleg mal, was passiert wär, wenn de im Turm von Aréija rausgekommen wärst. Des wär dein Todesurteil!“
„Ist sie aber nicht.“ Die Königin unterbrach den Spiegelmacher nicht besonders laut, doch er schwieg sofort. „Sie möchte nur wissen, was mit Amareth geschehen ist, dann geht sie wieder.“
Der Spiegelmacher runzelte die Stirn. „Amareth...“, murmelte er gedankenversunken.
„Was ist mit ihm?“, fragte Alicia voller Angst. „Ist er... Haben sie ihn umgebracht?“
Endlich war es draußen. Der Spiegelmacher gab sich einen Ruck.
„Nee, sie ham sich wohl im letzten Moment noch umentschieden.“ Er blickte hilfesuchend zu A’en, doch der machte keine Anstalten, etwas zu sagen.
„Also... sie ham seine Erinnerungen gelöscht. Unsre Alchimisten ham schon seit einiger Zeit an ‘ner Droge rumprobiert, mit der man ‘s Gehirn praktisch vollständig ändern kann. Die Erinnerungen und Denkweisen und den Glaube und so. Ich fürchte, Amareth war ihr Versuchskaninchen.“
Alicia sog scharf die Luft ein. Wenigstens lebte er.
„Er nennt sich inzwischen Ruphus und arbeitet für Kaye“, schaltete sich A’en nun doch ein. „Stationiert wurde er nördlich von Aréija, am Rand des Großen Waldes. Er ist dort wohl so etwas wie die Grenzwache, denn Kaye befürchtet, dass Hilfe für die Königin aus dem Zweiten, Dritten oder Vierten Land kommen könnte; diese Sorge ist ja auch berechtigt. Meinen Informationen nach ist die Droge jedoch so gut entwickelt, dass er sich auf keinen Fall an irgendjemanden von uns erinnern würde. Kaye hat ihm eine vollständig neue Identität verpasst.“ Das war vermutlich die längste Rede, die A’en in seinem ganzen Leben gehalten hatte.
„Aber was wird nun?“ Alicia blickte zurück zur Königin. „Wie ist denn eigentlich Ra’anas Ausflug ins Zweite Land verlaufen?“
„Erfolgreich!“, mischte sich Ra’ana ein. „König Farì XII. ist äußerst angetan von ihrer Majestät.“ Er wies überflüssigerweise auf Königin Amariah. „Er gab sein Einverständnis zu militärischer Unterstützung gegen Cant. Auch wollte er sich mit den Herrschern des Dritten und Vierten Landes in Verbindung setzen, doch nun scheint von ihnen keine Hilfe zu erwarten sein, da sie nicht über die Grenze kommen.“
Wenn Blicke töten könnten, wäre Ra’ana unter A’ens Blick sofort umgekippt. Offensichtlich war der Spion der Meinung, dass man keine Frage beantworten sollte, die an die Königin gerichtet war. Doch Amariah nickte nur betrübt.
„So ist es wohl. Manchmal scheint mir die Situation so aussichtslos.“ Sie verbarg das Gesicht in den Händen.
Für einen Sekundenbruchteil kreuzte Alicias Blick den von A’en, und zu ihrem grenzenlosen Erstaunen las sie in seinen Augen dasselbe Bedürfnis, die Hand tröstend auf Amariahs Arm zu legen, wie sie es verspürt hatte, als Amareth ihr von seiner Verwandtschaft zu Kaye erzählt hatte. Doch der Augenblick verging so schnell, dass Alicia sicher war, ihn sich eingebildet zu haben.
Da hob Amariah den Kopf und straffte sich. Sie strich ihr langes Haar hinter die Ohren und sah einen der Anwesenden nach dem anderen geradeheraus an.
„Die Frage ist, was tun wir jetzt? Noch müssen wir warten, ob König Farì etwas erreicht hat, doch können wir davon nicht ausgehen. Ich nehme an, dass keiner von uns in der Lage ist, eine weitere Woche abzuwarten.“ Mit dieser Annahme hatte sie wohl recht.
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Alicia plötzlich.
„Kurz nach Sonnenuntergang“, antwortete der Spiegelmacher. „Wann willste denn zurück in deine Welt?“
„In meiner Welt ist jetzt Nacht.“ Alicia schoss ein Gedanke durch den Kopf. Sie war mit einem winzigen Funken Hoffnung hierher gekommen, doch dieser Funke war inzwischen zu einem ausgewachsenen Feuer geworden.
„Wenn du möchtest, kannst du auch erst morgen zurückkehren“, bot Königin Amariah an. „Es ist reichlich langweilig beim Frühstück, wenn nur meine Zofe und ein ewig quasselnder Rabe anwesend sind.“
Ra’ana bemühte sich, kein allzu beleidigtes Gesicht zu machen.
„Das würde ich gerne.“ Alicia versuchte, beiläufig zu klingen, damit keiner Verdacht schöpfte. Eigentlich wollte sie nicht schon wieder jemandem davonlaufen, doch sie konnte sich auch niemandem anvertrauen. Sie würde nur zurückgeschickt werden.
„Also gut, aber ich verabschied mich dann mal gleich.“ Der Spiegelmacher zog Alicia in seine Arme. „‘s tut mir sehr leid, was passiert is. Mach’s mal gut, gell? Vielleicht seh’n wir uns ja irgendwann wieder.“
Alicia erwiderte seine Umarmung.
„Vielleicht“, meinte sie bedrückt. Sie hatte all diese Menschen ganz schön ins Herz geschlossen. Der Spiegelmacher ließ sie los und sah zu A’en.
„Kommste?“, fragte er. Der Spion nickte Alicia zu und die Andeutung eines winziges Lächelns huschte über sein sonst so steinernes Gesicht.
„Pass auf dich auf.“ war alles, was er sagte, dann verbeugte er sich vor Amariah und ging mit dem Spiegelmacher hinaus.
Ra‘ana war noch immer beleidigt, doch natürlich traute er sich nicht, etwas zu sagen.
„Ich ziehe mich zurück“, sagte er würdevoll. „Wenn Eure Majestät erlaubt. Wir sehen uns ja morgen beim Frühstück.“ Der pikierte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Königin Amariah schickte ihm einen resignierten Blick hinterher.
„Manchmal ist er etwas schwierig“, seufzte sie dann. „Komm, Alicia. Hast du Hunger?“
Wenig später lag Alicia in demselben Zimmer, das sie auch schon benutzt hatte, bevor sie mit Amareth in das Land der Zwerge aufgebrochen war. Sie hatte die Decke bis zum Kinn gezogen und sich fest vorgenommen, nicht einzuschlafen.
Alicia versuchte sich vorzustellen, was sie erwarten würde. Wie war Amareth nun, als Ruphus? Was hatte Kaye mit ihm angestellt? War Amareth genauso grausam geworden wie sein Vater?
Allein dieser Gedanke hielt Alicia wach. Sie dachte erneut an sein Lachen, das kaum von seinem Gesicht zu wischen war, seinen Spott und Lebensmut. Vielleicht würde er sie sogar Kaye ausliefern, wenn sie bei ihm aufkreuzte. Aber sie musste sich ja nicht gleich zeigen. Sie hatte beschlossen, erst einmal abzuwarten und herauszufinden, wie er sich verändert hatte. Es konnten schließlich auch alles Schauermärchen sein, was A’en über diese mysteriöse Erinnerungsdroge erzählt hatte. Wer wusste das schon? Nicht mal A’en war allwissend.
Alicia nahm an, dass Amareth nicht allein im Großen Wald war. Schließlich sollte er die Grenzen bewachen.
Ob es wirklich nicht möglich war, seine Erinnerungen wieder herzustellen? Es musste doch einen Weg geben! Alicia wollte sich nicht damit abfinden, dass sie ihn wieder verloren haben sollte. Jetzt, da sie wusste, dass er noch lebte, hatte sie wieder Hoffnung. Und sie wusste, dass sie sich selbst überzeugen musste, so gefährlich es auch war.
Es gelang Alicia tatsächlich, wachzubleiben.
Sie hockte auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit, wartete darauf, dass draußen in der großen Höhle alle zu Bett gehen würden. Als sie sicher war, niemanden mehr vorzufinden, erhob sie sich und schlich vorsichtig zur Tür. Die schwere Tür ächzte in ihren Angeln, als Alicia sie vorsichtig aufschob. Sie bemühte sich, kein Geräusch zu machen, und schob sie hinter sich wieder zu.
„Ich wusste, dass ich dich hier treffen würde.“
Alicia fuhr so heftig herum, dass sie sich den Fuß an der Tür zu ihrem Zimmer stieß. Die Königin hob beschwichtigend beide Arme.
„Keine Angst, ich bin es nur. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
Alicia wusste nicht, wohin sie sehen sollte.
„Ich... äh...“
„Das ist schon in Ordnung“, unterbrach Amariah sie. „Ich will auch wissen, wie es ihm geht.“
Sie lächelte, als sie Alicias verwirrtes Gesicht bemerkte, aber es war ein trauriges Lächeln.
„Glaubst du im Ernst, dass du die einzige bist, die jemals jung war?“
Alicia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Zum Glück war es in der Höhle so dämmrig.
Die Königin senkte den Kopf. Sie kämpfte mit ihrer Vergangenheit, schoss es Alicia durch den Kopf, und sie wusste nicht, ob sie etwas sagen musste.
„Ich selbst habe dummerweise fast zwei Jahre meiner Jugend an einen Dummkopf verschwendet, der mich nun umbringen will.“
Sie sah Alicia an.
„Die Nachricht scheint dich nicht zu überraschen. Hat er es dir gesagt?“
„Ja. Amareth.“ Alicia spürte einen Kloß im Hals.
„Amareth... Er wusste es selbst nicht. Also, Kaye kannte er natürlich, aber er wusste nicht, dass ich... seine Mutter bin.“
Alicia starrte auf ihre Füße. Sie getraute sich noch immer nicht, etwas zu sagen. Königin Amariah gab einen erstickten Laut von sich, und Alicia wusste, dass sie weinte.
„Himmel... Ich war fünfzehn, und er war betrunken. Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, wollte ich das Kind nicht. Kaye hat mir das Herz gebrochen, und das Beste, was er je zustande gebracht hat, war Amareth. Den hat er mir dann auch fortgenommen. Und jetzt, jetzt will er ihm auch noch die Chance nehmen, die Wahrheit zu erfahren... Verdammt, er ist mein Sohn!“ Amariah blickte auf, die Augen voller Tränen. „Finde ihn, Alicia. Finde ihn, da ich selbst es nicht tun kann.“
Die Nacht war kühl und sternenklar.
Die Königin hatte Alicia Kleidung und Vorräte überlassen, außerdem den Grauen, den sie auch auf ihrer Reise mit Amareth geritten hatte. A’en hatte es geschafft, Kaye den Wallach abzuschwatzen.
Es war schlimmer, allein zu reiten als mit Begleitung, selbst wenn diese manchmal stundenlang geschwiegen hatte. Die Schatten schienen größer, es knackte öfter im Gebüsch und die hohe Stadtmauer von Aréija schien tausend Augen zu haben, als Alicia an ihr vorbeiritt. Sie rechnete fast damit, dass jeden Moment von irgendwo einer von Cants Killern auftauchte und sie vor Kaye zerrte. Wenn er sie nun in die Finger bekam, würde er sie umbringen oder hätte sie Amareths Schicksal zu teilen? Sie wusste nicht, was ihr lieber war.
Hör auf!, schalt sie sich im nächsten Moment selbst. Alles ist besser als der Tod!
Zum wiederholten, und gewiss nicht zum letzten Mal in dieser Nacht, fragte sich Alicia, was die Erinnerungsdroge aus Amareth wohl gemacht hatte.
Die Sorge um Amareth trieb sie vorwärts. Auch wenn sich der Schlafmangel langsam bemerkbar machte und sie manchmal am liebsten abgestiegen wäre und sich irgendwo abseits des Weges ins Gebüsch gelegt hätte, biss sie die Zähne zusammen und ritt weiter. Sie ließ Aréija hinter sich und folgte einem schmalen, ungepflasterten Weg in Richtung Norden. Es war fast der Weg, den Ra’ana genommen hatte, nur hatte ihr die Königin eine Abzweigung beschrieben, die sie nicht verpassen durfte. Der neue Weg führte nach Osten, am Wald entlang. Soweit Alicia in der Dunkelheit etwas erkennen konnte, schätzte sie manche Bäume des Waldes an die vierzig Meter hoch. Schwarz und bedrohlich wirkten sie, voll von Geheimnissen, die kein Mensch je erblickt hatte. So erschien es Alicia jedenfalls. Vielleicht war sie auch nur in so düsterer Stimmung.
Amariah hatte gesagt, dass sie etwa drei Stunden bis zum Wald zu reiten hätte. Wo im Wald Alicia suchen musste, wusste auch die Königin nicht; nicht einmal A’en kannte den genauen Ort, an dem das Dorf lag, in dem Amareth stationiert war. Es musste ziemlich im Osten des Großen Waldes liegen.
Alicia hatte beschlossen, bis zum Tagesanbruch am Waldrand entlang zu reiten, sich den Tag über versteckt halten und vielleicht abseits eines Weges in den Wald einzudringen. Schließlich musste sie vorsichtig sein, da sie nicht wusste, was sie erwartete.
Ihre Vorsicht war nicht übertrieben. Kurz nach Sonnenaufgang kam ihr eine Gruppe von vielleicht einem Dutzend Reitern entgegen, und sie schaffte es erst im letzten Moment, sich mit dem Grauen ins Gebüsch zu schlagen. Ihr Haar verfing sich in den Zweigen, und sie harrte in recht unbequemer Stellung aus, während sich die Tritte der Pferde rasch entfernten. Alicia entschied, sich von jetzt an nur noch im Dickicht fortzubewegen, – im Freien schien es ihr zu gefährlich – als sie plötzlich eine Stimme zusammenfahren ließ, die von oben zu kommen schien.
„Guck mal einer, wen wir da haben. Ist das nicht allerliebst?“
Die Stimme war hoch und quäkte ein bisschen. Alicia sah nach oben in das undurchdringliche Grün des Blätterdachs über ihr.
„Guckt nach oben und erguckt mich nicht. Putzig!“
Alicia sah sich immer noch um, ohne etwas oder jemanden zu entdecken.
„Hier bin ich! Sperr doch deine Glotzböbbel auf, Mensch!“
Auf einem Zweig ziemlich weit oben saß etwas.
„Na endlich, jetzt hat sie mich erguckt!“
Es war ein Mensch, oder zumindest ein menschenähnliches Wesen. Höchstens zwanzig Zentimeter groß, obwohl das auf die Entfernung schwer zu schätzen war. Ansonsten die Gestalt eines Menschen, nicht so stämmig und pummelig wie ein Zwerg, feingliedriger, in grüne Jägerkleidung gewandet, außerdem mit einem Bogen bewaffnet, und, was das erstaunlichste war, auf dem Rücken trug es ein Paar gefaltete Flügel.
„Da guckst du, was? Das ist aber unhöflich!“
Alicia versuchte, nicht dauernd auf die kleinen weißen Schwingen zu starren, als sie sagte: „Es tut mir leid. Ich wollte nicht taktlos erscheinen. Ich habe nur noch nie jemanden wie dich gesehen.“
„Macht nichts. Geht den meisten Menschen so.“ Das kleine Wesen breitete seine Flügel aus und segelte elegant auf einen Zweig drei Meter tiefer, auf Alicias Augenhöhe. Seine Gesichtszüge waren rund und es hatte viele Lachfältchen um die Augen.
„Aber was... wer bist du?“, fragte Alicia, immer noch ziemlich fassungslos.
„Ich? Ich bin Eebly. Was ich bin, kann ich dir auch sagen: Ich bin Eebly.“
Der kleine Kerl grinste fröhlich und entblößte dabei zwei Reihen spitzer weißer Zähne.
„Ich bewache den Wald hier. Damit keine Eindringlinge hereinkommen und so. Bist du etwa ein Eindringling?“
„Nein, eigentlich nicht“, sagte Alicia möglichst beiläufig. Sie hielt es für sicherer, nicht als Eindringling dazustehen.
„Dachte ich auch nicht. Hier kommt nie ein Eindringling her. Richtig langweilig, der Job. Immer kriegen das die Kleinen ab. Aber was machst du dann hier?“
„Ich suche jemanden.“ Sie durfte nur nicht zuviel verraten.
„Da wirst du aber kein Glück haben. Hier ist nämlich niemand, den man suchen wollen könnte. Alle, die da sind, sind nicht besonders nett.“ Im nächsten Moment presste er sich die Hand auf den Mund und sah sich erschrocken um. Doch weit und breit war niemand zu sehen, nicht mal ein Eichhörnchen, und das Wesen entspannte sich wieder.
„Man soll nicht schlecht über seine Arbeitgeber reden“, murmelte es beschämt.
„Du arbeitest für die?“, fragte Alicia unruhig.
„Ja klar, sonst findet sich doch keine Arbeit für jemanden wie mich. Als Jäger muss man größer und kräftiger, als Krieger dreimal so groß und kräftig sein wie ich. Und arbeitslos sein ist doof.“ Eebly wippte auf dem Zweig auf und ab und baumelte mit den Beinen. „Also mach ich halt so langweilige Späher- oder Botenjobs. Die Großen brauchen immer jemanden, der vom einen Großen zum anderen Großen fliegt und sagt, was der eine Große haben will. Dankbar sind sie einem zwar nie, weil sie immer alles am liebsten vorgestern erledigt gehabt hätten, aber die Arbeit ist nicht anstrengend und ich fliege ziemlich schnell.“ Er lächelte stolz. „Aber wen suchst du denn? Vielleicht hab ich ihn ja gesehen.“
Alicia war nicht sicher, wie er es aufnehmen würde, wenn sie ihm sagte, dass sie vermutlich einen seiner Arbeitgeber suchte, deshalb meinte sie nur: „Ist nicht so wichtig. Hier werde ich ihn wahrscheinlich nicht finden, da hast du recht.“
Doch Eebly war nicht zufrieden. „Wenn du jemanden suchst, dann musst du ihn auch finden. Sonst ist ja eh alles sinnlos und du wärst ganz umsonst in den finsteren Wald gekommen. Wie sieht er denn aus? Wann hast du ihn verloren?“
„Vor etwa einer Woche...“
„Das ist doch schon mal was. Also, entweder ist er groß und dick und bewegt sich wie eine Walze vorwärts, dann ist er seit etwa drei Tagen da, oder er ist so ein Schönling mit blonden Locken, der immer alle Blicke auf sich zieht, oder er...“ Das Männchen bekam auf einmal riesige Kugelaugen. Alicia sah die Furcht, die darin lag.
„Oder er ist Ruphus“, beendete Eebly seinen Satz hastig. Er sah sich schon wieder furchtsam um. „Dann wäre er etwa zwanzig Jahre alt, ziemlich gut aussehend, so mit schwarzen Haaren, die er im Pferdeschwanz trägt, ziemlich furchterregend und übrigens bei den Mädchen durchaus beliebt...“
Alicia wurde hellhörig. „Hier gibt es Frauen?“, fragte sie überrascht.
„Aber sicher. Die müssen für die ganze Einheit kochen und so. Als der alte Anführer im Kampf gegen einen Zwerg draufgegangen ist, war das alles ein Chaos hier. Damals war der Wald noch ein geheimes Versteck für die Rebellen.“ Eebly gönnte sich ein schadenfrohes Lächeln. „Aber als sie die Macht übernommen haben, kam Ruphus, und alles wurde besser. Er hat diese Weicheier ordentlich auf Trab gebracht.“
Alicia musste schlucken. Es klang nicht so, als wäre mit dem neuen Amareth gut Kirschen essen.
„Nun, ich denke, ich muss mal weiter. War nett, mit dir zu reden.“
Eebly machte ein enttäuschtes Gesicht. „Also war es keiner von denen?“, fragte er.
„Ich glaube nicht.“ Alicia tat es ein wenig leid, den kleinen Kerl wieder seinem langweiligen Job zu überlassen, doch sie musste in Ruhe überlegen, wie sie weiter vorgehen konnte.
„Du hast sie ja gar nicht gesehen“, murmelte Eebly. „Wie kannst du es da wissen?“
„Weißt du, ich glaube nicht, dass sie erfreut wären, mich hier zu sehen. Vielleicht halten sie mich für einen Eindringling.“
„Na, dann sag ihnen doch einfach, dass du keiner bist.“ Eebly bleckte seinen kleinen spitzen Zähne. „Ich meine, du kannst doch nicht die Chance verstreichen lassen, jemand Verlorenes wiederzufinden.“
Er sah, dass sie immer noch zweifelte.
„Denk an all den Aufwand, den du hattest, um herzukommen, die lange Reise und so. Das soll alles umsonst sein?“
Alicia musste lächeln. Aus seinem Mund hörte sich alles so einfach an. Eebly deutete das als Zustimmung.
„Soll ich dich hinbringen? Wir können ja erst mal versteckt bleiben und gucken, ob sie überhaupt da sind. Vielleicht sind sie auch unterwegs, um die Grenzen zu bewachen.“
Alicia seufzte – und nickte. „Also gut. Aber wir halten uns versteckt!“
„Ja, ja, bin ja nicht doof.“ Eebly breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft.
„Was machen wir mit deinem Pferd?“, fragte er. „Das kann nicht mitkommen.“
„Ich kann es aber auch schlecht hierlassen, oder?“, gab Alicia zurück.
„Das ist ein liebes Pferd, das sehe ich. Du kannst es ja holen, wenn du weitergehen musst.“
Also banden sie den Grauen an einem Baum an, mit genügend Freiraum, dass er etwas fressen konnte. Dann flatterte Eebly los und Alicia folgte ihrem kleinen Führer durch das Unterholz, immer tiefer in den Wald hinein.
Zweige und Dornen blieben in Alicias Kleidern und Haaren hängen, als sie sich durch das Gebüsch schlug und gleichzeitig versuchte, ihren Begleiter nicht aus den Augen zu verlieren. Eebly flog schnell, er duckte sich unter tiefhängenden Zweigen einfach hindurch.
Alicia wusste nicht, wie lange sie unterwegs waren. Am Stand der Sonne konnte sie erahnen, dass es bereits auf die Mittagszeit zuging, doch sie verspürte weder Hunger noch Durst. Nur Müdigkeit. Nun war sie so nahe am Ziel und alles, was sie dachte, war wie sehr sie sich wünschte, schlafen zu können. Wenigstens ein bisschen.
Irgendwann flog Eebly zu ihr hinunter und legte den Finger an die Lippen. „Ab jetzt müssen wir leise sein“, flüsterte er. „Ich hätte ja eigentlich meinen Posten nicht verlassen sollen, aber es ist für einen guten Zweck. Also, da vorne ist das Dorf. Hier gibt es jede Menge Gebüsch, wo du dich verstecken kannst, wenn du dich nicht zeigen willst. Ich glaube, es ist mir ja peinlich, also, ich sollte wohl mal für kurze Zeit verschwinden.“ Er grinste betreten. „Bin gleich wieder da. Ich hätte wohl doch nicht so viel aus dem Bach trinken sollen...“
Er warf ihr noch einen entschuldigenden Blick zu, dann flatterte er irgendwo ins Gebüsch. Alicia ließ sich auf alle viere nieder und kroch vorsichtig zu den Büschen am Rand einer großen Lichtung. Dort sollte das Dorf liegen. Dort sollte sie Amareth finden.
Sie kam sich vor wie bei den Versteckspielen, die sie früher mit ihren Brüdern gespielt hatte. Man hatte sich versteckt, bang aus dem Versteck gelinst und die Luft angehalten, sobald der Sucher kam. Auch jetzt hielt Alicia die Luft an, als sie langsam Zentimeter um Zentimeter den Kopf hob. Dann blickte sie hinaus auf den Dorfplatz.
Es war ein ganz normales Dorf, nicht wie das von Soldaten. Einige Hütten standen am Boden, andere waren in die hohen Bäume gebaut, die sich rings um eine Senke gruppierten. In ihrer Mitte spielten einige Kinder. Der Rand der Senke war an der höchsten Stelle gut und gerne sieben Meter hoch. Zur einen Seite war er niedriger, fast nur ein Erdwall, sodass Alicia bequem in die Vertiefung sehen konnte. Im Durchmesser betrug sie etwa achtzig Meter. An der Beschaffenheit des Bodens und des Randes glaubte Alicia zu erkennen, dass es sich um einen Steinbruch handelte. Rund um die Senke tobte das Leben: Einige wenige Frauen liefen hin und her, beladen mit Wasserkrügen und Töpfen, einige bewaffneteMänner, keiner älter als dreißig, standen in kleinen Grüppchen herum und unterhielten sich, etwa ein halbes Dutzend Kinder sprang den Erwachsenen zwischen den Beinen herum. Ein ganz herkömmliches Dorf, wie es sie auch im Mittelalter in Europa tausende gegeben hatte. Irgendwie war das hier ja auch Mittelalter.
Doch wie sie nun weiter vorgehen sollte, wusste Alicia nicht; Amareth hatte sie nicht entdeckt. Sollte sie auf Eebly warten oder sich selbst etwas überlegen?
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen.
Plötzlich spürte sie, wie ihr von hinten der Arm umgedreht wurde. Dann wurde sie herumgestoßen und landete mit dem Rücken in den Büschen, woraufhin ihr Gesicht von Dornen zerkratzt wurde. Jemand zerrte sie unsanft aus dem Busch auf den Waldboden und sie blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, nicht viel älter als Amareth. Seine unbändigen blonden Locken quollen unter dem Helm hervor, der ihm ein sehr militärisches Aussehen verlieh.
„Na, wen haben wir denn da?“, fragte er schadenfroh. „Was macht so ein hübsches kleines Ding hinter einem dornigen Busch versteckt?“ Er packte Alicia an den Schultern und zog sie auf die Beine. Dann drehte er ihr die Arme auf den Rücken und stieß sie Richtung Dorfeingang.
„Zu dumm, dass ich nur gewöhnlicher Fußsoldat bin und nicht Richter oder Anführer. Sonst könntet Ihr etwas erleben, das schwöre ich Euch.“
Alicia sagte nichts. Sie war zu sehr damit beschäftigt, unter seinem harten Griff nicht aufzustöhnen.
„Seht mal, wen ich in den Büschen gefunden habe!“, rief der Soldat, als sie das Dorf betraten. „Die Spitzel werden auch immer jünger.“
Alicia versuchte, ihre Arme freizubekommen. „Ich bin kein Spitzel!“, rief sie verzweifelt. „Ich bin nur auf der Durchreise!“
Überall ließen Menschen ihre Arbeit liegen und kamen näher, als der Soldat Alicia in die Mitte der Senke zerrte. Offensichtlich war hier lange nichts Aufregendes mehr passiert.
„Geh Olfen und Ajsha holen!“, fuhr der Soldat einen Jungen an, kaum so alt wie Alicia. Der beeilte sich, davon zu kommen.
Wenig später kam er zurück, gefolgt von einem der älteren Männer in einem langen blauen Umhang und einer jungen Frau. Die Frau war höchstens achtzehn Jahre alt und für Alicias Begriffe wunderschön. Sie ging barfuß und trug einen langen dunklen Rock, der zu ihrem dunklen Haar und den edlen Gesichtszügen passte. Ihre Wangenknochen waren hoch und geschwungen, genauso wie ihre vollen Lippen. Ihre Gang war anmutig und leichtfüßig, es sah aus wie ein Tanz. Ohne Zweifel war dies die schönste Frau, die Alicia in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte.
Doch schien der Mann der Wortführer zu sein. Er baute sich vor Alicia auf und sah genau so auf sie nieder, wie es einst der Wachmann vor Aréijas Stadttoren getan hatte. Erst nachdem er sie von oben bis unten gemustert hatte, richtete er das Wort an sie.
„Was hattet Ihr im Gebüsch vor dem Dorf zu suchen?“ Seine Stimme ließ all die Menschen verstummen, obgleich er nicht besonders laut sprach. „Wer hat Euch geschickt? Wer bezahlt Euch? Was wollt Ihr von uns? Wisst Ihr nicht, dass der Wald für Zivilisten verboten ist? Es herrscht Krieg! Für wen sollt Ihr uns auskundschaften? Zu welcher Seite des Waldes seid Ihr hereingekommen? Antwortet mir, damit ich den schuldigen Wachmann bestrafen kann!“
„Ich wurde von niemandem geschickt“, brachte Alicia mühsam hervor, weil ihr der übereifrige Soldat aus Angst, sie könne fliehen, fast die Luft abdrückte.
„Ich bin nur auf der Durchreise, ich war mir nicht bewusst, dass es verboten ist, den Wald zu betreten. Ich wusste nichts von dem Dorf, und da dachte ich, ich bin lieber vorsichtig. Es hätten ja Räuber sein können, die hier ihr Lager haben, und denen will man nicht geradewegs in die Arme laufen.“
Sie war selbst überrascht, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen kam. Der Mann vor ihr glaubte ihr jedoch nicht, das war in seinen Augen deutlich zu lesen. Da trat die Frau an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte kurz und die Frau wandte sich an Alicia.
„Wenn Ihr, wie Ihr sagt, nur zufällig hier seid, dann könnte Ihr uns doch sicher Euren Namen verraten. Wenn Ihr nichts zu verbergen habt, ist es auch nicht zu Eurem Schaden, wenn wir ihn wissen. Also sagt uns, wer Ihr seid!“
„Das würde mich auch interessieren.“ Die frostige Stimme kam von hinter ihnen, vom Eingang des Dorfes. Alicia fuhr herum und blickte in die schwärzesten Augen, die sie je gesehen hatte.
Kapitel 10: Ruphus
Auch ohne den restlichen Körper zu sehen, wusste Alicia, wer das war. Nie würde sie diese Augen vergessen.
„Amareth!“, keuchte sie. Eebly hatte recht gehabt, er sah verdammt gut aus. Er trug das schwarze Haar zum Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten, was ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Auch er hatte einen Umhang an wie der Mann, den sie Olfen nannten, nur war seiner tiefschwarz. Er lehnte am Zugang zu der Senke an einem Baum, so als hätte er schon immer dort hingehört und wäre nicht gerade erst erschienen.
„Sieh an.“ Er stieß sich von dem Baum ab und sah dabei genauso aus wie Kaye.
„Besuch. Da fühle ich mich aber geehrt.“ Seine Stimme wurde immer leiser, bedrohlicher. So hatte Alicia bisher nur Hunter sprechen hören, kurz bevor er sie als Geisel genommen hatte, damit Amareth keine Mätzchen machte.
Er gab dem blonden Soldaten ein Zeichen und der ließ Alicia los. Dann trat Ruphus auf sie zu, denn der Mann, der vor ihr stand, war nicht Amareth. Mit keinem noch so kleinen Teil seines Herzens.
„Ich hatte schon gedacht, hier verirrte sich niemals jemand her. Anscheinend habe ich mich getäuscht. Und für wen arbeiten wir nun? Für die verschollene Königin oder für König Farì?“
„Die Königin ist tot“, brachte Alicia tonlos hervor.
„Also für Farì? Das ist nicht Euer Ernst. Der wäre niemals so dumm, jemanden zu bezahlen, der sich erwischen lässt.“
Er stand nun direkt vor ihr und blickte auf sie hinab wie ein Tiger auf seine Beute, kurz bevor er sie mit einem Prankenhieb tötet.
„Ich arbeite für niemanden.“ Alicia rang um ihre Fassung. „Ich bin nur zufällig hier. Es tut mir leid, dass ich unbefugter Weise den Wald betreten habe, doch wusste ich nichts von dem Verbot.“
Ihre Worte schienen Ruphus zu amüsieren. Ein breites und reichlich unheilschwangeres Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.
„Oh, Ihr wusstet nichts von dem Verbot. Na, dann. Wie schade – für Euch, denn ich sehe mich außerstande, Euch laufen zu lassen, wo Ihr unser hübsches Versteck doch schon mal entdeckt habt.“
„Ihr wollt mich hier festhalten?“, fragte Alicia entsetzt.
Ruphus‘ Lächeln wurde noch breiter.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das kommt auf ganz meine Stimmung an. Und natürlich darauf, wie Ihr Euch verhaltet. Es könnte schon passieren, dass ich Euer Verhalten als unangemessen verstehe, was die Folge haben könnte, dass ich Euch über den Surién schicken lasse. Und nun bringt sie weg!“
Alicia war wie gelähmt, als sie von dem blonden Soldaten abgeführt wurde. Sie erinnerte sich an den Ausdruck. Der Spiegelmacher hatte ihn ihr erklärt, als der Wachmann namens Venzo ihn im Bezug auf die Königin gebraucht hatte. Sie spürte kaum, wie der Soldat sie in eine kleine Hütte am Rande der Senke schleifte und sie dort an einen Stützbalken fesselte. Ihr ging eines nicht aus dem Sinn: Amareths so vertrautes Gesicht, völlig ohne das bekannte Mienenspiel, nur voller Grausamkeit und Berechnung. Früher hatte man jede Gefühlsregung aus seinem Gesicht ablesen können, jetzt war sein Gesicht eine einzige steinerne Maske. Zu was für einem Scheusal hatte Kaye ihn nur gemacht?
Natürlich machte sich keiner die Mühe, in irgendeiner Weise an Alicia zu denken. Nach einem halben Tag war sie sicher, man würde sie hier verhungern und verdursten lassen. Man – oder Ruphus.
Die ganze Suche war von Anfang an sinnlos gewesen. Sie hätte sich nicht dazu hinreißen lassen sollen. Das Sprichwort stimmte: Liebe macht blind.
Sie hatte Amareth geliebt, nicht diesen neuen, jüngeren Kaye. Alles, was sie im Moment wollte, war nur zurück in ihre eigene Welt zu kommen, weg von allem, was die Erinnerung an jenen Abend in der Höhle wecken könnte.
Vergiss ihn nicht, hatte Amareth gesagt. Nun war er derjenige, der ihn vergessen hatte.
Alicia beschloss, Kaye zu hassen. So sehr, wie ihn noch nie jemand gehasst hatte, nicht mal Amareth. Und sie hoffte, dass sie telepathische Fähigkeiten besaß, den es brachte nicht viel, jemanden zu hassen, wenn der nichts davon wusste.
Irgendwann, als es draußen bereits dämmerte, kam der blonde Soldat zurück. Er brachte ein hölzernes Tablett mit, auf dem sowohl etwas Brot lag als auch ein Krug Wasser stand, stellte es auf dem aus gestampften Lehm bestehenden Boden ab und band Alicia los.
„Ihr dürft Euch in der Hütte frei bewegen“, erklärte er. „Ich werde die Tür verriegeln. Sobald Ihr jedoch versucht, zu fliehen, etwa durchs Fenster, werdet Ihr mit Konsequenzen zu rechnen haben.“ Er konnte sich ein anzügliches Grinsen nicht verkneifen. „Ich wusste von Anfang an, dass Ihr kein Spion seid, Ihr seid höchstens Farìs Geliebte.“
Damit erhob er sich und verließ, noch immer feixend, die Hütte. Der Riegel ächzte und stöhnte, als er vorgeschoben wurde.
Alicia richtete sich auf, rieb sich die schmerzenden Handgelenke und machte sich mit Heißhunger über das Brot her.
Da fiel ihr das Pferd ein. Der Graue stand noch immer ahnungslos am Waldrand und wartete auf sie. Nachdem sie auch den letzten Krümel verputzt hatte, erhob sie sich und ging, einen Moment unsicher schwankend, zur Tür, um auf sich aufmerksam zu machen.
Sie schlug mit der flachen Hand gegen das Holz, und wenig später hörte sie erneut den Riegel. Der blonde Lockenkopf streckte den Kopf zur Tür herein.
„Was ist denn schon wieder?“, fragte er ungeduldig. „Ihr seid hier in keiner Herberge!“
„Da ist nur mein Pferd... Ich habe es am südwestlichen Waldrand angebunden, als zu Pferde kein Fortkommen mehr war. Vielleicht sollte man es nicht verhungern lassen.“
„Vielleicht nicht“, knurrte der Soldat. „Vielleicht aber schon, nur um Euch eine Lektion zu erteilen.“ Und er schlug die Tür wieder zu.
Alicia kauerte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und starrte vor sich hin. Sie war nicht sicher, ob sie das Pferd holen würden. Doch bald übermannte sie der Schlaf und sie rollte sich auf dem Boden zusammen wie eine Katze.
Sie hatte nicht das Gefühl, lange geschlafen zu haben, dennoch schien die Sonne zum Fenster der Hütte hinein, als von polternden Tritten an die Tür geweckt wurde.
„Aufstehen!“ Es war die Stimme des blonden Soldaten. Offensichtlich war er zu ihrem persönlichen Bewacher erklärt worden. Wenig später flog die Tür auf und Alicia blinzelte ins helle Sonnenlicht. Der Soldat trat in die Hütte und packte sie am Oberarm, um sie auf die Beine zu ziehen.
„Schon gut, ich kann alleine gehen!“, fauchte sie ihn an.
„Wir wollen doch aber nicht, dass Ihr weggeht, oder? Tut mir leid, ich darf Euch nicht loslassen. Befehl von Ruphus.“
Beinahe wäre Alicia ein sarkastisches „Na, dann!“ herausgerutscht. Sie war immer schlecht gelaunt, wenn man sie weckte, und wenn Ruphus Anordnungen gab, die ihre Flucht vereitelten, erst recht. Doch natürlich konnte sie ihm keine Schuld geben, und sie empfand auch nicht so. Noch immer galt ihr hauptsächlicher Zorn Kaye.
Ein wenig desorientiert taumelte sie ins strahlende Sonnenlicht. Um sie herum war schon wieder reges Treiben. Diesmal war Alicia in der Lage, die Personenzahl, die in dem geheimen Dorf lebte und arbeitete, abzuschätzen. Es mussten über dreißig Mann (und deutlich weniger Frauen) sein, die rund um sie mit ganz alltäglichen Arbeiten beschäftigt waren. Jetzt bemerkte Alicia auch einige Pferde, die zwischen den Bäumen am Rand der Lichtung oder vor dem guten Dutzend Hütten angebunden waren, darunter Amareths geflügelten Rappen. Lancelot sah zu ihr herüber – und erkannte sie. Er spitzte die Ohren und wieherte leise.
Und da, ein paar Meter weiter hinten, stand der Graue. Gott sei Dank, sie wollten ihn nicht verhungern lassen!
„Das ist also Euer Pferd.“
Warum gelang es Ruphus regelmäßig, sie zu erschrecken? Sie atmete tief durch und drehte sich um.
Da stand er, so vertraut und doch so fremd. War ihr seine Ähnlichkeit zu Kaye wirklich nie aufgefallen, oder lag es nur an dem harten Gesichtsausdruck?
„Ja, das ist es. Ich danke Euch, dass ihr es nicht verhungern lasst.“ Der bissige Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
„Ihr habt doch nicht etwa schlecht geschlafen? Den Wohlstand eines eigenen Hauses haben die wenigsten Menschen in unserem Dorf.“
Alicia antwortete nicht.
„Ach, übrigens, wie seid Ihr eigentlich an unserer Wache vorbeigekommen?“
Alicia erstarrte. „Welche Wache?“, fragte sie vorsichtig.
„Das ist nur eine Äußerung meines Verfolgungswahns. Ich beschäftige arbeitslose Minoren, also kleine Menschen, aber ich habe noch nicht herausgefunden, ob sie zu leichtgläubig sind für diese Arbeit. Vermutlich würden sie Euch fragen, ob ihr ein Eindringling seid und Euch auch noch glauben, wenn ihr das leugnen würdet. Ich hingegen bezeichne als Eindringling grundsätzlich jeden, der diesen Wald ohne Einladung meinerseits betritt. Und soweit ich mich entsinnen kann, fallt auch Ihr unter diesen Begriff.“
Alicia wollte zu einer weiteren Erklärung ansetzen, doch Ruphus winkte ab. „Ich weiß, ich weiß, Ihr seid nur auf der Durchreise. Dennoch müssen wir uns überlegen, was wir mit Euch anstellen, wo Ihr doch nun das Dorf kennt...“
Unversehens stand die junge Frau neben ihm. Ajsha.
„Lasst das doch, Ruphus!“, fuhr sie ihn ärgerlich an. „Lasst sie einfach in Ruhe. Ihr werdet ihr nichts tun, solange ich hier bin.“
Ruphus grinste. „Hört, hört, hier kommt die Rächerin der Enterbten. Nur aufgrund Eures guten Verhältnisses zu eurem letzten Anführer glaubt Ihr, Ihr könntet Euch alles erlauben.“
Alicia bemerkte, dass Ajsha ein Lächeln unterdrückte. „Hohlkopf!“
Alicia hätte nicht geglaubt, dass irgendjemand so mit Ruphus sprechen durfte.
„Ich kann mir alles erlauben, und wenn Ihr nicht Eure ewigen Anspielungen auf unseren letzten Anführer unterlasst, werde ich noch unangenehmer, als ich es jetzt schon bin.“
„Das halte ich aus“, sagte Ruphus, und Alicia fiel ein Ausdruck in seinen Augen auf, der sie äußerst nachdenklich stimmte. „Nun wieder zu Euch.“ Er wandte sich ihr zu.
„Es ist mir leider verboten, Euch zu drohen, doch glaube ich, dass meine Botschaft auch so ankommt.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, wie Alicia es von Hunter kannte.
„Ihr könnt Euch im Dorf frei bewegen. Ich gebe Euch einen Soldaten mit, der dafür sorgt, dass Ihr nicht die Welt außerhalb des Dorfes kennenlernt. Wir verstehen uns.“
Er betrachtete das Gespräch offensichtlich als beendet und wollte sich abwenden, als sein Blick Alicias kreuzte.
Einen Moment, wenn auch nur für den Bruchteil einer Viertelsekunde, veränderte sich sein Ausdruck völlig. Dann war er jedoch sofort wieder der Alte. Der Neue.
„Grüne Augen. Wahrlich etwas Besonderes in unserer Gegend.“
Er machte eine gleichgültige Handbewegung, als wollte er einen flüchtigen Gedanken verjagen, und eilte ohne ein weiteres Wort und mit wehendem Umhang von dannen.
Ajsha sah ihm einen Moment nach, dann wandte sie sich an Alicia. „In der Tat sind grüne Augen bei uns ungewöhnlich. Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal welche gesehen habe.“ Für einen Augenblick musterte sie Alicia nicht gerade freundlich. „Weshalb seid Ihr wirklich hier? In diesen Wald kommt man nicht auf der Durchreise, das könnt Ihr vielleicht manchem leichtgläubigen Fußsoldaten erzählen, aber nicht mir.“ Sie ignorierte den beleidigten Ausdruck des blonden Soldaten. „Was sucht Ihr also hier? Für einen Spion seid Ihr zu jung und außerdem zu dumm, wenn Ihr Euch ausgerechnet von ihm fangen lasst.“ Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Soldaten hin.
Alicia wusste nicht, was sie sagen sollte. „Ich...äh...“
„Also gut, wenn Ihr keine Zuhörer wollt, gehen wir in meine Hütte.“ Sie warf dem Soldaten einen unwirschen Blick zu. „Du hast schon recht gehört. Warte gefälligst vor der Tür.“
Damit legte sie Alicia die Hand auf die Schulter und bugsierte sie zu einer der Hütten, die um die Senke gruppiert waren. Innen angekommen, schlug sie Alicias Bewacher die Tür vor der Nase zu.
„Hier hört uns niemand. Setzt Euch.“ Sie wies auf einen Stuhl, den einzigen, wie Alicia bemerkte. Ajsha selbst setzte sich auf die Bettkante. „Also?“
Alicia schloss für einen Moment die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und holte tief Luft. „Seit wann kennt Ihr Ruphus?“, fragte sie.
Ajsha zuckte die Achseln. „Seit er hier ist. Warum wollt Ihr das wissen?“
„Hattet Ihr vorher schon einmal von ihm gehört?“
„Nein, habe ich nicht. Es ist nämlich so, dass unser alter Anführer erst vor wenigen Wochen gestorben ist. Um einen neuen Führer zu bestimmen, mussten wir die Bestätigung von Cant einholen, der zu diesem Zeitpunkt gerade die Macht übernommen hatte. Jeder von uns erwartete, dass es Olfen würde, doch als wir nach einer Woche endlich Nachricht von den Rebellenführern erhielten, brachte Lord Kaye Ruphus hierher. Er sagte, wir bräuchten endlich einen ordentlichen Anführer. Genau das waren seine Worte. Aber was soll das alles? Wehe Euch, wenn es nicht zur Wahrheit beiträgt!“
„Doch, das tut es.“ Da nahm Alicia all ihren Mut zusammen, bereitete sich darauf vor, für verrückt erklärt zu werden und erzählte die ganze Geschichte, wie sie sie kannte. Nur dass sie aus einer anderen Welt stammte, verschwieg sie Ajsha. Sie behauptete, von Kayes Handlangern verwechselt worden zu sein. Auch als sie von Königin Amariah berichtete, hielt sie sich zurück: Sie wusste noch immer nicht, inwiefern sie der jungen Frau vertrauen konnte. Sie erzählte von ihrem Auftrag im Land der Zwerge, von ihrer Spur, die Hunter so verbittert verfolgt hatte, von Kayes Eingreifen und ihrer Festnahme im Palast des adligen Zwerges. Schließlich schilderte sie ihre überstürzte Flucht in der Annahme, Amareth würde sterben müssen, von ihrer Rückkehr aus ihrem Versteck, wie sie sagte, und von der Erinnerungsdroge. Wie sie sich aufgemacht hatte, ihn zu suchen und die Manipulation durch Kaye rückgängig zu machen. Noch während sie erzählte, wurde ihr klar, dass Ajsha ihr niemals glauben würde. Selbst für diese Welt klang die Geschichte wie gut ausgedachte Lügen.
Als sie geendet hatte, sah Ajsha sie lange stumm an. „Es gibt tatsächlich einige Ungereimtheiten in den Ereignissen der vergangenen Wochen“, gab sie schließlich zögernd zu. „Aber sagt mir, wer soll Ruphus gewesen sein? Der Name, den Ihr genannt habt, sagt mir nichts. Es muss doch etwas besonderes an ihm gewesen sein, wenn Lord Kaye ihn so verbittert jagen ließ.“
„Er war in der Tat ein besonderer Feind für Kaye“, sagte Alicia leise. „Er war sein Sohn.“
„Was?!?“ Ajsha senkte hastig die Stimme. „Ihr wollt mir im Ernst weismachen, Ruphus sei der, den sie den Verräter nennen?“
„So nannten sie ihn, ja.“ Mit einem Mal überkam Alicia eine große Müdigkeit. „Jetzt ist das alles dank Kaye vorüber. Amareth – Ruphus – erkennt nicht einmal mich wieder, die ich die letzte von Cants Gegnern bin, die er gesehen hat.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist zwecklos. Ich werde versuchen, ihn zu überreden, dass er mich gehen lässt, und niemals mehr zurückkehren. Ich danke Euch, dass Ihr mir zugehört habt, und ich verdenke es Euch nicht, wenn Ihr mir nicht glaubt.“
Sie wollte aufstehen, doch Ajsha machte eine Geste, die sie dazu veranlasste, sitzen zu bleiben.
„Ich glaube Euch“, erklärte Ajsha. „Und zwar aus dem einfachen Grund, dass ich es Euch nicht zutraue, eine so lückenlose Geschichte zu erfinden, die auch das mysteriöse Verschwinden des Verräters begründet. Das war nicht als Beleidigung gedacht. Und ich werde versuchen, Euch zu helfen, soweit mir das möglich sein sollte.“
Alicia unterhielt sich noch lange mit der jungen Frau. Sie trugen alles Wissen zusammen, dass sie über die Erinnerungsmanipulation hatten, und versuchten eine Möglichkeit zu ersehen, sie rückgängig zu machen.
Als der Nachmittag kam, schlug Ajsha ihr vor, sich zu duzen. („Ihr habt mir Euer größtes Geheimnis verraten, warum nicht ein bisschen Vertraulichkeit? Außerdem möchte ich Ruphus ärgern.“ Sicher würde er sich ärgern, wenn er herausfand, wie gut sich Ajsha mit seiner Gefangenen verstand.)
Sie fanden den blonden Soldaten im Schatten der Hütte lehnen; er sah aus, als schliefe er. Doch war er sofort wach, als die Tür quietsche.
„Na, genug Geheimnisse ausgetauscht?“, fragte er verschnupft. „Wisst Ihr, dass ich einen halben Tag hier draußen herumstand? Ruphus bringt mich um, wenn er das erfährt!“
„Wäre wirklich schade, nicht wahr?“
Alle drei fuhren herum. Ruphus war schlimmer als jeder Geist.
„Hört gefälligst auf, Euch so anzuschleichen!“, brauste Ajsha auf. „Das kann einen gründlich in den Wahnsinn treiben!“
„Das tut mir leid“, sagte Ruphus ohne einen Anflug von Reue. „Aber was macht Ihr denn so Vertrauliches in der Hütte, dass ihr meinem ausdrücklichen Befehl zuwiderhandelt, nach welchem du –“, der blonde Soldat zog den Kopf ein, „– die Gefangene nicht aus den Augen lassen solltest!“
„Das war meine Schuld!“, warf Ajsha ein. „Es tut mir leid.“ Sie sagte das mit derselben Reglosigkeit, mit der er es soeben getan hatte.
„Ihr werdet auch immer unverschämter. Man hätte Euch besser erziehen sollen!“
Ajsha deutete spöttisch ein Verbeugung an. „Es wird nicht mehr vorkommen, Majestät!“
„Das will ich meinen!“ Ruphus drehte sich um und entfernte sich.
„Er sieht wirklich aus wie Kaye!“, flüsterte Ajsha Alicia zu.
Ruphus fuhr herum. „Wie war das?“
Im selben Augenblick ließ ein Brüllen sie alle zusammenfahren. Es kam vom Eingang des Dorfes und war so laut und herrisch, dass einige Vögel aus den umliegenden Bäumen erschrocken aufflatterten.
Alicia wusste, was das war. Einmal in ihrem Leben hatte sie einen solchen Laut schon gehört, mit fünf Jahren, während eines Zoobesuches mit ihren Brüdern.
Was da gebrüllt hatte, war ein Löwe.
Am Eingang des Dorfes hatten sich alle Menschen des Dorfes versammelt. Sie schienen auf etwas zu starren, was tiefer war als sie. Auf dem Boden.
Ruphus machte auf dem Absatz kehrt und drängte sich durch den Menschenauflauf.
„Was ist hier los?“, hörten sie ihn donnern.
„Los, komm!“ Ajsha fasste Alicia am Arm und zog sie ebenfalls zum Dorfeingang. Dort schoben sie sich bis zur vordersten Reihe und sahen, was Auslöser für die Unruhe war.
Auf dem Boden, zu Füßen der Menschen, gefangen in einem stabilen Netz, lag der größte Löwe, den Alicia je gesehen hatte. Seine Mähne schien aus Flammenzungen zu bestehen, eine einzige seiner mächtigen Tatzen war so groß wie ein Teller. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze betrug seine Länge bestimmt mehr als zwei Meter. Doch das große Tier blutete aus mehreren Wunden.
Mitgebracht hatten ihn die Jäger, die am Morgen losgezogen waren, um frisches Fleisch zu erbeuten. Einer von ihnen erklärte Ruphus die Sachlage.
„Wir haben den Kerl verletzt im Wald gefunden, wo er in der Nähe unserer Kaninchenfallen herumlungerte. Dass er so nicht überlebt hätte, war uns klar, deshalb dachten wir, er wäre doch ein ganz guter Zeitvertreib hier im Dorf, wenn wir...“
Als er Ruphus‘ Gesichtsausdruck sah, verstummte er jedoch. Ein anderer Jäger ergriff das Wort.
„Ähm... Wir haben uns gedacht, vielleicht könnte man ihn abrichten oder so...“
Ruphus verzog verächtlich die Lippen. „Ihr Narren!“, stieß er hervor. „Ich glaubte schon, ich sei größenwahnsinnig, doch euer Größenwahn grenzt an Anmaßung! Wie könnt ihr glauben, ein solches Tier könne man abrichten?“
Die meisten der Jäger senkten beschämt den Kopf, doch einer wollte sich noch nicht geschlagen geben. „Auch wenn wir ihn nur einsperren, wäre er eine gute Trophäe! Seht nur, wie groß er ist.“
Der Mann stieß dem armen Löwen seine Lanze in die Seite, um ihn zum Aufstehen zu bewegen.
„Aufhören!“
Alicia und Ajsha hatten das Wort gleichzeitig hervorgestoßen. Der Löwe knurrte leise.
„Ihr seid Narren!“ Ruphus schüttelte den Kopf. „Ihr werdet Euch um das Tier kümmern, bis es gesund ist. Dann lassen wir es laufen. Und ich warne euch nur ein einziges Mal: Sollte irgendjemand von euch Feiglingen seine Pflicht vernachlässigen, wird er so behandelt, wie ihr im Moment diesen Löwen behandelt! Und glaubt mir, das ist keine leere Drohung! Bringt ihn in eine leerstehende Hütte, und als Abendessen wird ihm euer aller Anteil eurer eigenen Beute dienen.“
Ruphus wandte sich zum Gehen. Langsam kehrten auch die anderen zu ihren Arbeiten zurück, während die Jäger den Löwen ziemlich kleinlaut zu einer der leerstehenden Hütten brachten.
„Es gibt ihn also doch noch“, murmelte Alicia so leise, dass es nur Ajsha hörte. „Den Amareth, den Kaye vernichten wollte.“
Noch am selben Abend stattete Alicia dem Löwen einen Besuch ab. Man hatte ihn in eine unbewohnte Hütte am Rand des Dorfes gebracht, von dem Netz befreit und dort angekettet. Er erinnerte Alicia an sie selbst, wie er da lag, die Schnauze zwischen den Pfoten. An ihn heran traute sich keiner der Jäger, nur vor der Hütte hielt einer Wache, und der legte sein Schwert nicht aus der Hand. Der blonde Soldat verwickelte ihn in ein Gespräch, da auch er offensichtlich keine große Lust hatte, sich mit der riesigen Raubkatze in einem Raum aufzuhalten.
Alicia hingegen fand das Tier faszinierend. Sie hockte sich in sicherer Entfernung außer Reichweite der Kette auf den Boden und beobachtete den Löwen. Irgendwann schien er ihren Blick zu spüren, den er hob den Kopf und ließ ein leises Knurren vernehmen.
„Na, haben sie dir wehgetan?“, fragte Alicia flüsternd. „Mir geht’s genau wie dir. Auch mich haben sie verletzt im Wald aufgelesen und lassen mich jetzt nicht mehr weg. Aber ich war nur am Herzen verletzt, nicht so offene Wunden wie deine, sondern versteckte. Unsichtbare. Wehgetan haben die genauso, das kannst du mir glauben.“
Jetzt drehe ich völlig durch, dachte sie bei sich. Ich unterhalte mich mit einem Löwen und klage ihm mein Leid. Vielleicht macht mich dieses Land verrückt.
Der Löwe blinzelte träge und begann, seine Wunden zu lecken. Sie waren inzwischen verkrustet, doch er sah immer noch ziemlich mitgenommen aus.
„Habt ihr schön Freundschaft geschlossen?“, spottete der Soldat, der seinen Lockenkopf zur Tür hereinstreckte. „Ich an Eurer Stelle würde mich mehr an die Zweibeiner in diesem Dorf halten. Die können Euch nämlich eher rausbringen als so ein Monstrum.“
Der Löwe brummelte, als habe er jedes Wort verstanden.
Alicia schnaubte verächtlich.
„Glaubt mir, keiner der Zweibeiner in diesem Dorf wird mich laufenlassen. Dafür habt ihr doch alle viel zu viel Angst vor eurem Anführer.“
„Hm...“, machte der Blondschopf, betont zögerlich, während er sich geheimnistuerisch umsah. „Es gäbe da natürlich Mittel und Wege...“
Der Löwe knurrte grollend.
„Vergesst es“, unterbrach Alicia ihn. „Erstens mache ich da nicht mit, und zweitens seid Ihr gar nicht in der Lage, mich hier herauszubringen, wozu also der Aufwand? Es wäre nur verschwendete Zeit.“
Der blonde Soldat kniff die Augen zusammen. „Darüber sprechen wir noch einmal, wenn Ruphus das Todesurteil über Euch verhängt hat. Und jetzt kommt endlich weg von diesem Mistvieh!“
Von da an besuchte Alicia den Löwen täglich. Sie sprach mit ihm und erzählte ihm ihre ganze Geschichte. Von ihm fühlte sie sich verstanden, da sie ein Schicksal teilten, auch wenn die große Raubkatze nur dalag und sie anblinzelte.
Ihr Bewacher wartete stets außerhalb der Hütte; er wagte sich nicht zu nahe an den Löwen heran. Das tat keiner außer Alicia. Nur die Jäger schickten einmal am Tag jemanden vorbei, der dem Löwen etwas zu fressen brachte, das er ihm allerdings aus sicherer Entfernung zuwarf. Ein einziges Mal war Ajsha mitgekommen zu einem von Alicias Besuchen, doch bei diesem einen Mal blieb es. Der Löwe geriet fast in Vergessenheit, er gehörte zum Tagesablauf der Jäger, doch keiner kümmerte sich mehr um ihn als nötig.
Vier Tage lang wohnte er schon in der leerstehenden Hütte am Dorfrand, als Alicia Eebly wiedertraf. Sie traf ihn bei dem Löwen, wo er friedlich auf der Fensterbank saß und dem Tier beim Schlafen zusah.
Kaum hatte er Alicia erblickt, stieß er einen leisen Schrei aus und flatterte eine Handbreit in die Luft.
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht erwischen lassen, Mensch!“
Danke für die freundliche Begrüßung.
„Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich mich auch nicht fangen lassen. Nur ist es für jemanden deiner Größe vermutlich einfacher, sich im Gebüsch zu verstecken als für mich. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“
„Hast du ja gar nicht“, maulte Eebly leise. „Da macht man sich so eine Mühe, die Besucher zum Dorf zu führen, riskiert dabei Kopf und Arbeitsplatz, und alles, was die Menschen wieder hinkriegen, ist sich fangen lassen. Hast du ihnen denn nicht gesagt, dass du kein Eindringling bist, oder bist du gleich an Ruphus geraten? Und wie gedenkst du, hier wieder wegzukommen? Ich kann dir nicht aus der Patsche helfen.“ Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Stolz. „Ich bin nämlich befördert worden!“, platzte es aus ihm heraus. „Ich arbeite für den Chef persönlich!“
„Für Ruphus?“, fragte Alicia überflüssigerweise.
„Genau für den.“ Eebly senkte geheimnistuerisch die Stimme. „Ich muss nämlich den Löwen bewachen!“
Der Löwe hob verschlafen den Kopf.
„Ich muss gucken, wann er so stark ist, dass er die lächerliche Kette zerreißen kann.“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Ich sage Ruphus natürlich nicht, dass er das schon die ganze Zeit über gekonnt hätte, wenn er gewollt hätte. Ich muss aber warten, bis man es ihm ansieht, so lautet mein Befehl.“
Alicia runzelte die Stirn. „Woher weißt du es dann, wenn man es ihm noch nicht ansieht?“
„Er hat es mir gesagt“, erklärte Eebly. „Außerdem hat er gesagt, dass er dich mag.“
Der Löwe knurrte leise. „Das kann ich ihr auch selbst sagen!“, fauchte er.
Alicia hätte sich vor Schreck beinahe auf den Hosenboden gesetzt.
„Was denn?“, fragte der Löwe. „Noch nie einen Löwen sprechen gehört?“
Alicia überwand den ersten Schrecken.
„Ehrlich gesagt... nein. Ich bin überhaupt noch nicht vielen Löwen begegnet.“
Der Löwe rollte sich auf den Rücken und streckte die Pfoten in die Luft.
„Normalerweise sind wir auch sehr scheu“, erklärte er. „Wir zeigen uns nicht gerne der Öffentlichkeit. Ich hätte mich ja auch versteckt gehalten, wenn ich nicht in diese verdammte Menschenfalle geraten wäre.“
Er grummelte leise. „Ach, Kleines, sei doch so gut, mich juckt es fürchterlich hinter dem linken Ohr. Könntest du mich da bitte kratzen?“
Alicia sah sich um, ob er Eebly gemeint hatte, doch der kleine Kerl hatte sich aus dem Staub gemacht.
„Ähm... Ich soll dich hinter dem Ohr kratzen?“, fragte sie zögernd.
„Traust du dich nicht? Ich beiß dir schon nicht die Hand ab, ich bin gerade satt.“
Vorsichtig ließ sich Alicia neben dem Löwen auf den Boden nieder und streckte die Hand aus. Das Fell der Raubkatze war nicht weich wie bei einer herkömmlichen Hauskatze, sondern rau und staubverkrustet.
„Noch ein bisschen weiter unten“, brummte der Löwe. „So ist es gut. Vielen Dank. Du hast also ein ähnliches Schicksal wie ich?“
„Na ja, ich denke schon...“, murmelte Alicia verwirrt. Hatte sie dem Löwen nur die Ohren vollgejammert?
„Und du bist verletzt an der Seele?“, fragte der Löwe weiter.
„Das hört sich ziemlich kitschig an, oder?“
„Ich stehe auf Kitsch.“ Der Löwe lachte leise. Das klang, als ob man ein Fass voller Murmeln schüttelte. „Klingt niedlich“, fand er.
„Fühlt sich aber ganz anders an.“ Alicia seufzte.
Im selben Moment fiel ein Schatten auf den Kopf des Löwen. Ohne hinzusehen wusste Alicia, wer das war. Der Löwe rollte sich zurück auf den Bauch und fauchte.
„Anscheinend habt Ihr ihn bald gezähmt“, ließ sich Ruphus spöttisch vernehmen.
„Ein solches Tier kann man nicht zähmen“, erklärte Alicia, ohne sich umzudrehen. „Man kann nur Freundschaft mit ihm schließen.“
„Wie poetisch.“ Ruphus betrat die Hütte, und für einen kurzen Moment wurde es ganz dunkel. Er kam jedoch auch nicht näher an den Löwen heran, sondern lehnte sich an die hölzerne Wand und betrachtete Alicia.
Sie spürte seinen Blick im Nacken und drehte sich um.
„Ihr habt die Fähigkeit, Menschen mit Eurer bloßen Anwesenheit nervös zu machen“, sagte sie gereizt.
„Das freut mich“, meinte Ruphus spöttisch. „Es kommt meinem Beruf zugute, Gegner einzuschüchtern.“
„Was wollt Ihr?“ Alicia wusste, dass sie entnervt klang. Doch sie konnte es nicht ändern, er machte sie wirklich nervös. Das lag vermutlich daran, dass sie sein Gesicht so gut kannte, doch der Mensch, der inzwischen zu dem Gesicht gehörte, war ihr fremder als der Vorgesetzte ihres Vaters.
„Was ich hier will?“, fragte Ruphus zurück, scheinbar erstaunt.
„Ich will nach einer Gefangenen und einem Löwen sehen, die sich anscheinend extrem gut verstehen, wie mir mein Bote berichtete. Und tatsächlich, bald frisst der Löwe der Gefangenen aus der Hand.“
Der Löwe knurrte grollend.
„Seltsam, manchmal habe ich das Gefühl, er versteht jedes Wort.“ Alicia vermochte den Unterton in Ruphus‘ Stimme nicht zu deuten. „Habt ihr euch nett unterhalten?“
„Ziemlich einseitiges Gespräch“, gab Alicia zurück. „Ich glaube nicht, dass Ihr nur hier seid, weil Euch jemand gesagt hat, dass der Löwe sich von mir berühren lässt.“
„Nein. Ich bin wegen etwas anderem hier.“
Ruphus machte eine Kunstpause, dann legte er plötzlich den Kopf schief. „Ich frage mich, was ich verpasst habe!“
„Inwiefern?“, fragte Alicia unsicher. Hatte sie etwas Verbotenes getan?
„Insofern, dass sich anscheinend auf einmal alle prächtig verstehen. Aus welchem anderen Grund solltet Ihr Euch mit Ajsha duzen?“
Da schien er zu verstehen. „Oder wolltet Ihr – oder sie – mich nur ärgern?“
„Es war ihre Idee“, murmelte Alicia. Sie wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte.
Ruphus nickte. „Das dachte ich mir. Nun, es überrascht mich nur, wie weit sie wirklich geht. Wie Euch vielleicht aufgefallen sein könnte, habe nicht einmal ich sie bisher dazu gebracht. Aber ehrlich gesagt ist es mir gleichgültig, da Ihr sowieso bald nicht mehr hier weilen werdet.“
Alicia richtete sich auf. „Wieso?“
„Habt Ihr denn gar keinen Respekt vor Machthabern?“, entgegnete Ruphus. „So leuchtet mir natürlich ein, dass Ihr als politischer Flüchtling von Lord Kaye gesucht werdet!“
Alicia verkniff sich ihre entsetzte Frage und sagte stattdessen bissig: „Wenn Euer Ehren nun die Gnade hätten, mich unwissende Zivilistin über die Vorgänge in der großen weiten Welt aufzuklären?“
„Schon besser. Nun, vielleicht ist es Euch nicht verborgen geblieben, dass Ihr angeblich Gefangene im Turm von Aréija wart, bis es Euch gelang zu fliehen und Ihr leider direkt in die nächste Gefangenschaft gestolpert seid. Freilich ist es gleichgültig, denn ich habe nicht vor, Euch auszuliefern. Rein aus Interesse, verzeiht mir die Frage, aber was war denn Euer Vergehen, welches anscheinend groß genug ist, dass sich Kaye persönlich darum kümmert?“
Alicia hob trotzig den Kopf. „Man wirft mir vor, für die Königin gearbeitet zu haben, und glaubte, ich könne einen Aufenthaltsort derselben nennen.“
„Und, habt Ihr?“
„Glaubt Ihr im Ernst, das würde ich Euch unter die Nase reiben?“
„Also habt Ihr. Auch das ist mir gleichgültig, um ehrlich zu sein sogar recht. Versucht bitte nicht, mich zu verstehen. Ihr werdet eingeweiht, wenn ich es für richtig halte, oder gar nicht. Ich werde Euch ein wenig Gesellschaft dalassen, damit Ihr Euch bei Eurem einseitigen Gespräch mit dem Löwen nicht so sehr langweilt.“
Er verließ die Hütte, und kurz darauf flatterte Eebly zur Tür herein. Der kleine Kerl ließ sich wieder auf der Fensterbank nieder und grinste verlegen. „Hätte ich ihm das nicht sagen sollen?“, fragte er. „Ich hab‘ ihm ja nicht gesagt, dass der Löwe mit Euch spricht.“
„Ist egal.“ Alicia lehnte sich mit dem Rücken an die Hüttenwand. Der Löwe hob den Kopf und stupste sie mit der Schnauze an.
„Kleines, ich glaube, dass es doch einen Weg für König Farì gibt“, meinte er scheinbar zusammenhangslos. Alicia starrte ihn an.
„Und welcher soll das sein?“, fragte sie. „Und wie soll er davon erfahren?“
„Der Weg ist einfach: Über das Gebirge. Das wie ist nicht ganz so leicht. Es sei denn...“
Gleichzeitig wandten Alicia und der Löwe den Kopf um zu Eebly, der auf der Fensterbank hockte und mit den Beinen baumelte.
Vor Schreck vergaß er zu baumeln und fiel beinahe von der Fensterbank. „Das kann unmöglich euer Ernst sein!“, protestierte er lautstark. „Ich habe gerade eine ordentliche Arbeit, die gebe ich doch nicht so einfach auf! Außerdem kann ich doch nicht bis zur Hauptstadt des Zweiten Landes fliegen, meine Flügel sind zu klein!“
Der Löwe erhob sich zu seiner vollen Größe und schnurrte wie eine Katze. „Das ist aber ganz schade. Ich bin auf einmal so hungrig...“
Eebly flatterte vorsichtshalber einen halben Meter in die Luft. „Das ist Erpressung! Da mache ich nicht mit!“
Der Löwe knurrte.
„Ich meine, welchen Vorteil hätte ich davon?“
Der Löwe knurrte vernehmlich.
Eebly sah sich mitleidheischend um. „Und wie erkläre ich das Ruphus?“
„Gar nicht, du Trottel.“ Der Löwe legte sich wieder hin. „Wir können ihm ja sagen, dass du keine Lust mehr hattest, für ihn den Diener zu spielen.“
Eebly sah noch unglücklicher aus. „Ich bin ein schlechter Arbeitnehmer“, sagte er und ließ die Flügel hängen, was zur Folge hatte, dass er abstürzte und auf der Fensterbank aufschlug. „Wenn das meine Mutter wüsste...“
Ob er den Auftrag oder seinen Absturz meinte, erklärte er nicht mehr, denn im selben Moment wurde außerhalb der Hütte nach ihm gerufen; es klang ziemlich ärgerlich.
Eebly seufzte. „Ich mach’s.“ Damit flatterte er zur Tür hinaus.
Kapitel 11: Vergeltung
Bereits vier Tage nach Eeblys Abflug griffen sie an. Im Morgengrauen umstellten sie das Dorf mit knapp hundert Mann, der Rest des fast zweihundertmal so großen Heeres wartete in ihrem Lager im Wald. Es dauerte keine eineinhalb Stunden, bis Farìs Heer die Besatzung des Dorfes in ihrer Gewalt hatte. Es gab keine Toten. Alle, sogar die wenigen Frauen, wurden zu Kriegsgefangenen erklärt und ins feindliche Lager gebracht.
Dann zog das Heer weiter, um bis nach Aréija vorzudringen.
Der Feldzug für die rechtmäßige Königin des Siebten Landes hatte begonnen.
Kapitel 12: Krieg
Es war wieder Eebly, der ihnen die Nachricht brachte: Das Dorf war niedergebrannt. Alle gefangengenommen. Als Alicia die Neuigkeit hörte, war sie sich nicht mehr sicher, ob ihre Entscheidung klug gewesen war, Eebly loszuschicken, doch der versicherte ihr, dass ihm das Heer schon entgegengekommen war. Farì war von selbst auf das Gebirge gekommen. Ziemlich geärgert habe er sich, als er Ruphus nicht im Dorf fand, und angeordnet, den Wald zu durchsuchen. Eebly sagte weiter, er könne nicht mit zur Tiefebene kommen, da er jetzt, wie er erklärte, für Farì im Widerstand arbeite. Seine Mutter wäre stolz auf ihn. Das sagte er allerdings so leise, dass Ruphus es nicht hörte, denn der wäre bestimmt nicht stolz.
Sie waren unterwegs, um den Löwen auszusetzen. Er wollte nicht wieder in den Wald, hatte er gesagt, sondern in die Ebene Tulgra. Obwohl es Ruphus eigentlich verboten war, seinen Posten im Dorf zu verlassen, hatte er es sich nicht nehmen lassen, den Löwen persönlich dorthin zu bringen. Auch dass der Löwe mit Alicia, und ausschließlich mit ihr, sprach, hatte ihn nicht überrascht. Er habe sich so etwas schon gedacht, erklärte er herablassend, worauf ihm der Löwe einen nicht sehr freundlichen Blick zuwarf. Das war der einzige Grund, warum Ruphus außer dem blonden Soldaten auch noch Alicia mitgenommen hatte. Es sollte ja keiner zu Schaden kommen.
Nun war es ihrer aller Glück geworden.
„Wir gehen nach Aréija“, bestimmte Ruphus, kaum dass er die Nachricht von Farìs Vormarsch in Richtung Hauptstadt vernommen hatte. „Wir müssen unserem König zur Seite stehen.“
Sicher. Er diente jetzt Kaye. Trotzdem zeriss es Alicia das Herz, als sie daran dachte, dass er weniger als zwei Wochen zuvor mit dem gleichen glühenden Eifer gegen Cant gekämpft hatte.
Der Löwe erklärte sich bereit, mit ihnen zu gehen, denn er wollte Alicia auf keinen Fall allein in die Gefahr laufen lassen, wie er sich ausdrückte. Sie war immer noch „sein Kleines“, und er musste sie beschützen. Ruphus trug zu dem Beschluss des Löwen nur die übliche spöttische Miene zur Schau, doch dass ein Löwe im Krieg vielleicht nicht ganz unnütz sein konnte, musste sogar er zugeben. Der lockenköpfige Soldat sagte nichts, er hielt sich noch immer so fern wie möglich von der Raubkatze. Falls sie mal Hunger bekam.
Also lenkten sie die Pferde nach Westen, Richtung Aréija. Die Pferde hatten sich erst nach gutem Zureden mit dem Löwen abgefunden, und auch nur dann, wenn er mehr als drei Schritte von ihnen entfernt blieb. Dem Löwen machte das nichts aus, er war es gewohnt, Angst und Schrecken zu verbreiten. Manchmal hatte Alicia sogar das Gefühl, es machte ihm Spaß.
Am späten Nachmittag erblickten sie in der Ferne Aréija. Die Stadt lag friedlich zwischen den grünen Hügeln, unberührt von dem, was kam. Das Heer war langsamer als sie, obwohl sie Umwege gemacht hatten. Lange konnte es allerdings nicht mehr dauern, bis Farì vor dem Stadttor stehen würde.
Der Löwe machte halt und hob witternd die Nase in die Luft.
„Sie sind da“, sagte er leise zu Alicia. „Sie halten sich versteckt. Bei Dunkelheit werden sie angreifen.“
„Bist du sicher?“
Der Löwe nickte. „Wir sollten sie warnen.“ Er machte eine Bewegung mit dem Kopf zu Ruphus und dem Soldaten hin. „Sonst rennen sie in ihr sicheres Ende. Farì wird sie nicht verschonen, und sein Heer ist stark.“
Nun war es an Alicia zu nicken. Laut sagte sie: „Der Löwe sagt, das Heer von König Farì halte sich hier irgendwo versteckt. Er meint, wir sollten nicht in die Stadt gehen.“
Ruphus wandte sich kaum um. „Das ist meine eigene Sache. Was Ihr und der Löwe macht, ist mir egal. Ihr seid frei.“
„Ihr wollt also einfach so vor Farìs Schwert laufen? Ist Euch Euer eigenes Leben gar nichts wert?“
„Es ist nicht mal sicher, ob sie wirklich da sind“, erklärte Ruphus ungerührt.
„Ihr vertraut also der Nase des Löwen nicht? Ihr wollt in Euer Verderben laufen, aus reiner Königstreue? Glaubt Ihr denn, dass Euer Schwert irgendetwas ändert am Schicksal Cants?“ Alicia spürte, wie sie sich in Rage redete. Nicht einmal sich selbst wollte er retten! „Ihr seid auch nur einer von vielen! Ihr mögt ein noch so guter Kämpfer sein und noch so viele von Farìs Kriegern töten, wenn das ganze Heer eine unvorbereitete Stadt angreift, hat sie keine Chance, ein oder zwei Kämpfer mehr oder weniger!“
Ruphus wendete Lancelot auf der Hinterhand und blitzte Alicia aus seinen schwarzen Augen an. „Ihr wagt es, so mit mir zu reden?“
Er schien noch mehr sagen zu wollen, doch Alicia unterbrach ihn.
„Ich hätte noch eine Frage: Wo wart Ihr, bevor Ihr zur Grenze abkommandiert wurdet?“
Jetzt wurde er richtig wütend. „Erstens geht Euch das nicht das Geringste an und zweitens tut es absolut nichts zur Sache! Was interessiert es Euch, ob ich sterbe oder nicht?“
Alicias Augen füllten sich mit Tränen, so wütend war sie. „Es hat mich einst interessiert, aber Ihr habt recht. Warum sollte es das jetzt noch tun? Ihr seid nicht mehr der, der Ihr wart, und werdet es nie mehr sein. Verzeiht, dass ich überhaupt im Dorf aufgekreuzt bin, es war ein Fehler. Ihr seid es nicht wert. Lebt wohl.“
Sie wendete den Wallach, auf dem sie ritt, und trieb ihn zum Galopp. Es war ihr egal, in welche Richtung er lief, nur fort von Ruphus.
Erst als die beiden anderen Reiter außer Sichtweite waren, parierte Alicia den Wallach durch. Alicia schwang sich aus dem Sattel, noch ehe er stand; die Beine gaben ihr nach und sie ließ sich fallen, wo sie war. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.
Der Löwe kam ihr nachgelaufen, er legte sich lautlos neben sie hin und stupste sie mit der Schnauze an.
„Ist doch nicht so schlimm“, murmelte er.
Alicia hob den Kopf und wischte sich die Tränen ab.
„Und er kann nicht mal was dafür“, schluchzte sie.
Der Löwe schüttelte den Kopf. „Es ist egal. Er ist nur ein Mensch. Bestimmt gibt es in deiner Welt auch nette.“
Trotz ihres Kummers musste Alicia lächeln. „Willst du mich verkuppeln?“
Erfreut, sie zum Lachen gebracht zu haben, grinste auch der Löwe. „Ich bin bloß Realist. Er ist nicht die Welt, und um jemanden wie dich müssten sich doch alle männlichen Wesen deiner Welt reißen.“
„Du bist nett.“ Alicia seufzte abgrundtief. „Aber ich will nicht alle männlichen Wesen meiner Welt.“
Sie stand auf , straffte sich und klopfte sich den Staub von den Kleidern. „Nun gut. Ich reite jetzt zur Höhle der Königin und sage ihr, dass Farì da ist, dann werde ich wohl zurück in meine Welt gehen. Ich möchte keine Schlacht sehen.“
Der Löwe schüttelte die Mähne. „Das ist auch kein Anblick, den man im Leben gesehen haben muss. Je seltener, desto besser.“
Der Meinung war Alicia auch.
Sie erreichten den Fuß des Gebirge, als es dämmerte.
„Gebirge“, murrte der Löwe leise, während sie den Aufstieg begannen, „sind etwas völlig Sinnloses. Ich weiß wirklich nicht, wer sich den Unfug wieder ausgedacht hat. In diesem lebt nicht einmal etwas, das man fressen könnte. Reine Platzverschwendung also. Würde man stattdessen Savanne hinbauen, könnten da viele Löwen wohnen und es wäre viel schöner.“
„Jetzt übertreibst du aber!“, keuchte Alicia. Den Wallach hatte sie lieber unten gelassen. „So ist es doch auch ganz hübsch.“
Der Pfad wurde steiler.
„Aber nicht so idyllisch wie mit Löwen“, beharrte der Löwe. Er war kein bisschen außer Atem. „Löwen machen alles etwas wohnlicher. Sie verbreiten so ein gemütliches Klima.“
Alicia hatte keine Lust und außerdem keinen Atem, noch länger zu diskutieren. Der Löwe überholte sie mit einem übermütigen Satz.
„Sag mal, wie finden es eigentlich deine Freunde, wenn du einfach einen Löwen mit dir herumschleppst?“
„Müssen wir uns wohl überraschen lassen.“ Alicia presste die Hand an die Rippen und lehnte sich an die Felswand. „Ich kann nicht mehr!“
Der Löwe machte kehrt und strich an ihren Beinen entlang wie eine Hauskatze.
„Ihr Menschen seid wirklich zu nichts gut. Nicht einmal Berge könnt ihr besteigen“, sagte er von oben herab. „Aber für die Könige der Welt haltet ihr euch trotzdem.“
„Ich renne ja auch nicht jeden Tag auf der Suche nach Nahrung herum, kein Wunder, dass ich nicht deine Ausdauer habe.“
Der Löwe schmunzelte, was sehr lustig aussah. „In den letzten Tagen war ich auch nicht jagen. Da lag ich gemütlich in einer Gefängnishütte und habe Fett angesetzt. Guck doch, wie dick ich bin!“
„Wahnsinnig.“
Sie setzten den Aufstieg fort. Irgendwann drehte Alicia sich um und ließ ihren Blick über das Land schweifen. Nach unten sah sie lieber nicht.
„Sieh doch!“, rief sie plötzlich. „Sie kommen!“
Tatsächlich, Farìs Heer näherte sich Aréija. Von hier oben nur eine Ansammlung Ameisen, die in strenger militärischer Ordnung auf die Stadt zustrebte. Es war inzwischen dunkel genug, dass man auf der Stadtmauer hunderte kleiner Feuer ausmachen konnte. Alicia nahm an, dass Ruphus bereits dortgewesen war.
Aréija war gewarnt.
Doch würde es den angreifenden Truppen standhalten?
Sie betraten die Plattform unter dem Überhang. Nichts hatte sich verändert, seit Alicia zum letzten Mal dagewesen war, natürlich nicht.
Der Löwe war kein Höhlentier, es behagte ihm gar nicht, in die Finsternis des Ganges zu laufen, obwohl ihm der geheime Mechanismus sehr gefallen hatte. Dennoch kam er mit, und sei es nur, damit „sein Kleines“ nicht allein durch die Schwärze tappen musste; da Alicia keine Fackel hatte, mussten sie sich mit den im Dunkeln sehenden Augen des Löwen abfinden.
„Solche Dunkelheit ist ungesund“, murmelte der Löwe, während er vorausging. „Sie macht die Augen kaputt.“
Er bot Alicia an, sich an seinem Schwanz festzuhalten, aber sie meinte, es reiche, wenn er ab und zu etwas sagte. Das tat er dann auch, und nicht nur ab und zu, sondern eigentlich ununterbrochen. Alicia hatte ihn noch nie so gesprächig erlebt. Das meiste, was er sagte, war Unsinn, er beklagte die schlechten Licht- beziehungsweise Dunkelheitsverhältnisse und sein armes Dasein als bald alicialoser Löwe. Alicia wusste, dass er sie aufheitern wollte, und spürte eine dumpfe Traurigkeit. Offenbar waren alle von ihr übernommenen Aufgaben in diesem Land zum Scheitern verurteilt.
Da sie sich mit der rechten Hand an der Wand entlangtastete, fühlte sie im Vorbeigehen die Tür zu Ra’anas Zimmer. Ein schmaler Lichtschein fiel auf den Gang; wie hatte sie das Zimmer bei ihrem ersten Besuch nur übersehen können? Aber da war noch der Fackelschein gewesen, der den Tunnel beleuchtet hatte.
Irgendwann blieb der Löwe stehen. „Hier ist eine Tür, da geht’s nicht mehr weiter. Ist es das?“
„Ja.“ Alicia tastete sich an ihm vorbei bis zum Eingang der Höhle und klopfte an.
Erst Stille, dann leise Schritte hinter der Tür. Wenig später schob die stumme Zofe der Königin die Tür einen Spalt breit auf und spähte nach draußen. Sie erkannte Alicia und machte die Tür ganz auf, da fiel ihr Blick auf den Löwen. Einen lautlosen Schrei ausstoßend wich sie zurück.
„Wer ist es denn?“ Die Königin trat aus dem Halbdunkel der Höhle. „Alicia, du bist es! Gott sei Dank, der Spiegelmacher hätte mir beinahe A’en mit seinem Messer auf den Hals gehetzt, als er erfuhr, dass...“
Sie brach ab und starrte fassungslos den Löwen an, der seinen breiten Kopf mit der stattlichen Mähne an Alicia vorbeischob, um einen Blick auf die Königin zu erhaschen. Bevor sie sich gefasst hatte, sagte Alicia: „Es tut mir leid, dass ich ihn so einfach mitbringe, aber er wollte nicht draußen warten.“
Amariah klappte den Mund zu und glättete ihr Kleid. „Oh. Gut. Na, dann soll er mal reinkommen. Ich wollte ja immer schon einen echten Löwen sehen, aber sag mal, wo hast du einen Löwen aufgegabelt???“
„Das ist eine längere Geschichte.“
„Du hast jetzt Zeit, sie zu erzählen.“
Die Königin ließ sie eintreten und wich dem Löwen sorgsam aus, der Alicia sogleich folgte.
Sie setzten sich gegenüber an den Tisch am Feuer; der Löwe ließ sich zu Alicias Füßen nieder.
„Jetzt erzähl, was ist passiert? Ich habe es schon bereut, dass ich dich habe gehen lassen.“
Alicia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Später. Erst der Grund, aus dem ich eigentlich hier bin. Unten vor Aréijas Toren steht König Farì mit einem zwanzigtausend Mann starken Heer und will die Stadt angreifen. Ich habe sie gesehen, sie müssten bald da sein.“
Amariahs Wangen röteten sich vor Aufregung. „Sie sind gekommen? Na endlich... aber wie sind sie an... Ruphus vorbeigekommen?“
„Das ist eine längere Geschichte. Ich denke, ich fange am besten vorne an.“ Alicia schloss erschöpft die Augen. Dann holte sie alle Ereignisse der letzten Tage noch einmal hervor und erzählte der Königin von Ruphus, Eebly und dem Löwen, während unterhalb des Gebirges das große Heer des König Farì die Hauptstadt des Siebten Landes angriff.
Amariah hatte sich alles schweigend angehört, keine Regung verriet, was sie dachte.
„Das heißt, es sieht nicht so aus, als ob es Aussichten auf ein Rückgängigmachen der Manipulation gäbe?“
Alicia schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Wir haben ihn verloren.“
Weinen konnte sie nicht, es waren keine Tränen mehr da.
„Und das Schlimmste ist, dass ich annehme, dass sein jetziger Charakter nicht ausschließlich von der seltsamen Droge kommt. Also, schon daher, aber er war so in dieser Rolle gefangen und es passte irgendwie auch zu ihm, so schlimm das klingt... dass ich glaube, Kaye hat nur hervorgeholt, was sowieso schon da war.“
Jetzt war es raus. Die Gedanken, die Alicia sich seit sie Ruphus kennengelernt hatte machte. Aber es stimmte, die Rolle, die Kaye Amareth als Ruphus zugedacht hatte, passte auf ihn. So furchtbar es war.
Amariah nickte fast unmerklich.
„Er ist der Sohn seines Vaters.“ Sie erhob sich. „Du siehst müde aus, und ich weiß nicht, wie lange der Kampf um Aréija dauern wird. Vielleicht solltest du versuchen etwas zu schlafen.“
Der Löwe begleitete sie in die kleine Schlafkammer und rollte sich vor dem Bett zusammen. Er hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen. Alicia kraulte ihm das Ohr.
„Sie ist nett.“ Der Löwe schnurrte behaglich. „Zu dumm, dass wir Löwen nicht wählen dürfen.“
Alicia nickte nur, was der Löwe vom Boden aus allerdings nicht sehen konnte.
„Du willst also warten, bis die Schlacht entschieden ist, und dann erst zurückgehen?“
Alicia blickte über die Bettkante, dass sie dem Löwen in die Augen sehen konnte.
„Morgen“, sagte sie. „Wenn es bis morgen keine Entscheidung gibt, dann gehe ich. Meine Anwesenheit ändert nicht viel an der Gesamtsituation, und ich kann meinen Vater nicht noch länger in Ungewissheit lassen.“
„Nein.“ Der Löwe ließ den Kopf auf die Pfoten sinken. „Versuch zu schlafen. Mache ich auch.“
Alicia lächelte, rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Die Kammer war nur von einer kleinen Fackel beleuchtet, deren Feuer gespenstische Schatten warf.
Während Alicia den Wechsel zwischen hell und dunkel an der Felsdecke beobachtete, wenn die Flamme im Luftzug tanzte, fielen ihr irgendwann die Augen zu.
Es sah abenteuerlich aus: Hinter Aréijas Stadtmauer ging die Sonne auf, sie hüllte das Gebirge in einen rosa- und orangefarbenen Mantel.
Der Löwe lag ganz vorne am Rand des Plateaus und starrte in die Ferne. Alicia stand wenige Schritte hinter ihm und betrachtete Aréija. Sie hatten noch keinerlei Kunde vom Ausgang des Kampfes erhalten, und der Stadt sah man nichts an, was auf einen Sieg Farìs hinweisen könnte. Alicia war zu weit entfernt, um einzelne Menschen ausmachen zu können, sie erkannte nur die Umrisse der Stadt. Zu gern wüsste Alicia, welche Fahne heute Morgen an der Spitze des Turmes gehisst worden war.
Der Löwe ließ eine Pfote in den Abgrund baumeln, als er plötzlich hochfuhr und knurrte.
„Da kommt jemand!“, fauchte er.
Obwohl ihr schon von der Vorstellung schlecht wurde, trat Alicia an den Abgrund. Der Löwe hatte recht: Auf dem schmalen Weg aufwärts näherte sich eine Gestalt. Doch kam sie kaum vorwärts und schlug einmal der Länge nach hin, so unsicher war sie auf den Beinen. Wer konnte das sein?
Alicia sah den Löwen an. „Sollen wir uns verstecken?“
Die Raubkatze kniff die Augen zusammen. „Du auf jeden Fall. Ich bin groß und stark, ich erwarte den Eindringling hier.“
Er sagte das so bestimmt, dass Alicia ihm nicht widersprach.
„Aber ich bleibe in der Nähe“, entschied sie. Sie konnte sowieso nirgends hin, der Absatz unter dem Überhang hatte keine Verbindung zum übrigen Gebirge. Also duckte Alicia sich hinter die Felsen im hinteren Teil der Höhle.
Die Gestalt auf dem Pfad hatte mehr als zwei Drittel des Aufstiegs geschafft, als sie zusammenbrach. Sie blieb einfach liegen, wo sie war, und rührte sich nicht mehr. Der Löwe spähte angestrengt in die Tiefe.
„Ich sehe so schlecht“, knurrte er leise.
Alicia wagte sich aus ihrem Versteck hervor und blickte ebenfalls hinunter. Die Sonne war inzwischen über Aréija hinausgewandert, kitzelte mit den ersten warmen Strahlen die hohen Berge und beleuchtete den steilen Weg.
Alicia schrie. Sofort presste sie die Hand auf den Mund und wandte das Gesicht ab, doch sie hatte genug gesehen.
Die Gestalt auf dem Pfad war der blonde Soldat, und er hatte eine entsetzlich große, blutende Wunde am Kopf.
Endlich begriff auch der Löwe. Er warf Alicia keinen Blick zu, sondern fauchte bloß: „Geh die Königin holen!“, da war er auch schon auf dem Weg nach unten.
Alicia wandte sich ab und stolperte in das Dunkel des Ganges hinein, sie rannte durch die Finsternis und stieß sich mehrmals den Kopf an den vorstehenden Felsen, doch sie spürte keinen Schmerz. Sie hatte nur das Bild vor Augen, das Bild des Soldaten, der reglos und blutend am Boden lag. Wie tot.
Nun wusste Alicia, warum sie diesen Krieg hasste. Und überhaupt jeden Krieg auf der Welt, dieser und ihrer. Es gab keinen gerechten Krieg, und es würde ihn niemals geben.
Dieser hatte einen ehrbaren Grund, er war gerechtfertigt, doch niemals, niemals würde er richtig sein.
Alicia stolperte und fing sich, rannte weiter, sie schürfte sich die Hand an der Felswand auf und die bloßen Beine an den Steinen.
Noch nie war ihr der Tunnel so unermeßlich lang vorgekommen, er wollte kein Ende nehmen.
Da stieß sie mit beiden Händen zugleich an die Tür der Höhle der Königin.
Der blonde Soldat war noch immer bewusstlos, als Ra’ana und die Königin ihn auf das Bett in Alicias Zimmer betteten. Seine gesamte Kleidung war blutverklebt, die Wunde an seinem Kopf verkrustet, sein Haar dunkelrot, fast schwarz eingefärbt. Der Löwe saß aufmerksam auf dem Steinboden vor dem Bett, während Alicia, Ra’ana und Amariah sich in die große Höhle zurückzogen, um zu beraten.
„Ich halte das nicht länger aus!“, schimpfte die Königin leise. „Ich müsste für mein Volk kämpfen, statt hier tatenlos herumzusitzen!“
„Auf wessen Seite?“, fragte Ra’ana taktlos. „Immerhin kämpft König Farì für Euch.“
Amariah starrte ihn ausdruckslos an.
„Die Menschen, die in diesem Moment in Aréija sterben, gehören zu meinem Volk. Glaubt nicht, dass Farì nicht seinen eigenen Vorteil sucht.“
Alicia sagte nichts. Es war nicht möglich, dass der Kampf um die Stadt länger als eine Nacht gedauert hatte, Farìs Heer war zu überlegen. Die Ungewissheit brachte nicht nur die Königin beinahe um den Verstand. Wie viele Menschen mochten in der vergangenen Nacht ihr Leben auf den Straßen von Aréija für ihr Vaterland gelassen haben?
„Aber woher wusste der Kerl von dem Pfad und der Höhle?“ Die Königin sah Alicia scharf an.
„Ich habe niemandem etwas erzählt!“, protestierte diese. „Vielleicht hat ihn nur jemand geschickt.“
Amariah glaubte ihr nicht, das wusste Alicia. „Und wer? Er kämpfte doch für Cant.“
Im selben Moment schob der Löwe die Tür mit der Schnauze auf. „Ich glaube, er wird wach“, erklärte er mit seiner tiefen Stimme.
Tatsächlich, der Lockenkopf regte sich. Doch als er die Augen öffnete, war sein Blick glasig und verschwommen; er nahm seine Umgebung nicht wahr. Alicia musste erneut um ihre Fassung ringen. Die stumme Zofe der Königin hatte zwar die grauenvolle Wunde am Kopf des Soldaten ausgewaschen und so gut wie möglich verarztet, allerdings wussten sie nicht, wie lange er schon so verletzt draußen herumgeirrt war.
Sein Kopf schlug zur Seite und für einen Moment klärte sich sein Blick. Mühevoll richtete er die blauen Augen auf Königin Amariah.
„Ich wusste, dass Ihr noch lebt“, brachte er kaum hörbar hervor. „Vermutlich werdet Ihr... bald wieder Euren... rechtmäßigen Thron... einnehmen können... König Farì ist in den Turm... eingedrungen... die Stadt hat sich ergeben... aber Cant... er lebt noch...“
Seine Stimme versagte, sein Blick richtete sich ins Leere. Unter größter Anstrengung wandte er den Kopf und sah Alicia an. „Ruphus...“
Alicia spürte wie sich die Furcht wie eine schwarze Klaue in ihr Herz krallte. Ihre Stimme zitterte. „Was ist mit ihm?“
Der Lockenkopf hustete und spuckte Blut. „Er ist... unten...“
Zum letzten Mal fiel sein Kopf zur Seite, sein Körper erschlaffte. Von Grauen geschüttelt wich Alicia zurück, Tränen rannen ihr über das Gesicht; es war das erste Mal in ihrem jungen Leben, dass sie einen Menschen sterben sah. Nicht, dass der Soldat sie jemals gut behandelt hätte, doch wer bestimmte eigentlich die Grenze zwischen Gut und Böse?
Alicia wandte sich ab und stürzte aus dem Raum.
„Nein. Ich werde dich nicht noch mehr in Gefahr bringen.“ Amariahs sonst so warmen Gesichtszüge verhärteten sich wie zur Bestärkung ihres Beschlusses. „Ich habe den Fehler gemacht, dich auf die Suche nach Ruphus zu schicken, ich werde nicht den Fehler machen, dich auch noch in deinen Tod laufen zu lassen.“
„Entschuldigt.“ Ra’ana bekam langsam wieder Farbe ins Gesicht. Auch ihm schien der Tod des Soldaten nicht gut bekommen zu haben. „Aber Ihr begebt Euch genauso in Gefahr wie Alicia. Wenn nicht sogar noch mehr. Euch wird man ohne Umstände töten, sollte König Farì nicht bereits die Gewalt über den Turm besitzen.“
Amariahs Blick war vernichtend.
„Ihr könnt das unmöglichen billigen!“, rief sie empört aus.
Ra’ana machte sich klein. „Ich meinte nur, dass Ihr so nicht argumentieren könnt“, murmelte er kleinlaut.
„Ich muss einfach wissen, was da unten vorgeht!“, mischte sich nun auch Alicia wieder ein. „Ich kann jetzt nicht in meine Welt zurückkehren!“
Die Königin warf ihr einen strengen Blick zu. „Hör zu, Alicia, es ist nicht gut für dich, wenn du dein Leben hierher verlagerst. Du hast deine Familie, deine Freunde dort drüben. Was glaubst du, was du deinem Vater angetan hast, als du – freiwillig – nochmals den Spiegel durchquertest. Ich bitte dich hiermit, kehr zu ihm zurück! Er wartet auf dich.“
Sie konnte nicht. Eine nie gekannte innere Zerrissenheit machte sich in ihr breit. Amariah hatte recht, so konnte es nicht weitergehen. Kein Mensch konnte auf Dauer ein Doppelleben führen.
Sie sah der Königin in die Augen.
„Nie hat mir ein Mensch mehr bedeutet als Amareth“, sagte sie leise. „Ich muss wissen, ob er lebt oder was mit ihm geschehen ist.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte so viel geweint in der letzten Zeit. „Bitte“, fügte sie noch hinzu.
„Alicia, versteh mich doch.“ Die Königin ließ hilflos die Schultern hängen. „Ich bin selbst Mutter, und ich glaube, dass ich nachempfinden kann, wie es ist, ein Kind zu verlieren.“
„Wenn sich herausstellt, dass sich die Stadt wieder oder noch in Cants Gewalt befindet, stürze ich mich in den nächsten Spiegel, versprochen!“, versuchte Alicia es noch einmal.
Der Löwe legte ihr den Kopf in den Schoß und schnurrte leise. „Ich bin doch da“, meinte er. „Ich passe schon auf sie auf.“ Alicia kraulte ihn hinter den Ohren.
Amariah blickte Ra’ana anklagend an. „Sagt etwas!“
Doch der Rabe zuckte nur machtlos mit den Schultern. „Vielleicht ist sie alt genug, um selbst zu entscheiden, was sie will“, ergriff er abermals Partei für Alicia.
„Du bist verrückt und todesmutig, und ich sollte wirklich nicht auf dich hereinfallen!“, schimpfte die Königin. Da wusste Alicia, dass sie gewonnen hatte.
„Danke“, murmelte sie.
Königin Amariah schnaubte nur. „Dann brechen wir aber sofort auf“, bestimmte sie, wieder ganz Herrin der Situation.
Alicia nickte stumm und streichelte dem Löwen über die feuchte Nase, während sie aufstand. Ra’ana rückte seine Brille zurecht und hob den Kopf.
„Gehen wir“, meinte auch er.
Ihrer Zofe befahl Amariah, in der Höhle zu bleiben. Dass sie besorgt war, konnte man nur an dem unruhigen Ausdruck ihrer blauen Augen erkennen; sie war vollkommen beherrscht.
Inzwischen war es Tag geworden, die Sonne schien erbarmungslos wie immer auf die beunruhigend stille Stadt hinab, die in der Hitze flimmerte. Der Fels entlang des Pfades war glühend heiß. Die rosafarbene Zunge des Löwen hing ihm seitlich aus dem Maul, er wirkte zum ersten Mal erschöpft.
Sie näherten sich der Stadt vorsichtig abseits des Weges. Der Löwe blieb alle paar Schritte stehen und hielt die Nase in den Wind, doch er konnte kein Lebewesen, Mensch oder Tier, riechen. Die Landschaft lag da wie ausgestorben.
Das Tor war unbewacht. Auch hier vernahm man kein Geräusch, die Totenstille lastete schwerer auf Alicias Trommelfell als jeglicher Lärm.
Keiner der drei wagte sich als erster an die Stadtmauer heran. Schließlich fasste sich die Königin ein Herz und machte einige Schritte vorwärts. Alicia folgte ihr in gebührendem Abstand, der Löwe dicht auf ihren Fersen, doch der Rabenmann blieb stehen, wo er war.
„Was ist denn?“, zischte Amariah ungeduldig.
Ra’ana blickte sich unsicher um.
„Es ist still.“ In seinen durch die Brille vergrößerten Augen spiegelte sich Furcht. „Fast zu still. Wenn das eine Falle ist...“
„Wollt Ihr in ewiger Unwissenheit untätig in einer Höhle herumsitzen oder etwas für Euer Vaterland tun?“, fragte Amariah unwirsch.
Ra’ana zog den Kopf zwischen die Schultern und schwieg, aber er folgte ihnen voller Argwohn zum offenstehenden Tor.
Die Hauptstraße lag verlassen und staubig da, die Sonne röstete den Staub. Kein Lüftchen regte sich, das die gnadenlose Hitze erträglich gemacht hätte.
Keiner traute sich, es auszusprechen, doch alle dachten es: Wo waren all die Menschen, die Einwohner Aréijas?
Die weißen Häuser entlang der Ngumban Road waren verriegelt, die Fensterläden geschlossen. Ohne ein Wort zu verlieren schlug die Königin den Weg zum Turm ein. Sie nahm eine Abkürzung durch die schlechten Viertel der Stadt, Alicia bemerkte auch hier kein Zeichen von Leben. Nur ein dreibeiniger Hund verschwand humpelnd in einer Gasse. Die Stille war so vollkommen, dass man ein Blatt der großen Eichen, die hin und wieder ein wenig Schatten spendeten, hätte fallen hören. Irgendwann meinte Alicia, hinter einem Spalt in den Fensterläden eines Hauses ein blasses Gesicht ausmachen zu können, doch es war so schnell verschwunden, dass es genauso gut Einbildung sein konnte.
Sie näherten sich dem Turm. Im ersten Moment fuhr Alicia zusammen: Auf dem Geländer des Balkons über dem Portal saß ein Vogel, ein Wanderfalke, der sie mit stechenden Augen musterte.
„Der gehört Kaye“, murmelte Amariah tonlos.
„Was machen wir jetzt?“ Ra’ana drängte sich an Alicia vorbei an die Seite der Königin. „Wir können ja wohl nicht einfach reinspazieren und gucken, ob Farì da ist!“
„Wisst Ihr vielleicht etwas besseres?“
Im selben Moment erhob sich der Falke mit einem lauten Schrei, sein graues Gefieder glänzte auf im Licht der Sonne. Er schwang sich hinauf, schraubte sich um den Turm herum nach oben, wo er mit einem erneuten Schrei zur Landung ansetzte.
„Das Vieh ist mir unheimlich“, grummelte Ra’ana. „Es gibt einem das Gefühl, beobachtet zu werden.“
Der Löwe knurrte tief und grollend.
„Und wenn es so wäre?“
Die schneidende Stimme kam von oben. Auf dem Erker über dem Eingang des Turmes stand Lord Kaye, einen Schritt hinter ihm Ruphus. Diesmal fiel Alicia die atemberaubende Ähnlichkeit zwischen den beiden auf, die dadurch noch hervorgehoben wurde, dass beide ein Schwert in der rechten Hand hielten.
„Sieh an.“ Kayes Lächeln stand der Helligkeit der Sonne an nichts nach. Den Löwen beachtete er überhaupt nicht. „Erst mache ich so einen Aufstand – hübsches Wortspiel, nicht wahr? – um zwei von euch zu fangen, und dann kommt ihr von allein her. Nett, Euch wiederzusehen, Alicia, Ihr habt Euch nicht verändert. Doch sagt mir: Warum seid Ihr zurückgekommen? Versucht nicht, mir weiszumachen, Ihr wärt so töricht...“ Er brach ab, sein Blick wanderte zu Ruphus, der mit wie immer ausdruckslosem Gesicht hinter ihm stand, dann schien er zu verstehen. „Ihr seid noch törichter, als ich dachte.“ Er schüttelte den Kopf, entsetzt über so viel Dummheit.
„Kaye“, mischte sich nun Amariah ein. Sie wirkte angespannt, aber ließ sich nichts anmerken. „Schön, dass du uns alle wiedererkennst, doch wir sind nicht hier, um über die Dummheit gewisser Leute zu sprechen, sondern weil ich wissen will, was du meinem Volk angetan hast!“
Kaye wandte sich an die Königin, sein Gesichtsausdruck verriet nichts als Verachtung.
„Dein Volk ist es schon mehrere Wochen nicht mehr. Aber gut, ich werde euch verraten, was ich Cants Volk angetan habe, bevor ich euch drei töte.“
Er stützte sich betont gelangweilt auf sein Schwert und betrachtete den Himmel, ehe er fortfuhr: „Das Volk dieses Landes ist ein feiges Volk. Es ergab sich, als König Farì, diese Witzfigur, vor den Toren stand. Eingeschlossen haben sie sich in ihren Häusern, weil Farì es so wollte, angeblich zu ihrer eigenen Sicherheit.“
Er machte eine Pause und ließ den Blick über die Stadt schweifen.
„Wo ist er jetzt?“, fragte die Königin. Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen.
„Farì? Er liefert sich Scharmützel mit meinen Leuten, irgendwo außerhalb der Stadt. Das beschäftigt ihn eine Weile.“
„Und Cant? Wo steckt der, der sich König nennt?“ So geringschätzig hatte Alicia noch niemals jemanden sprechen hören.
Kayes Stimme klang nicht minder verächtlich. „Der König dieses Landes ist heute morgen vor Aufregung die Treppe hinuntergefallen. Er kuriert sich aus. Ich fürchte, er hat sich den kleinen Zeh verstaucht. Doch glaube mir, Amariah, es ist nicht Cant, der dieses Land regiert.“
Es war das erste Mal, dass er seine Macht über Cant offen aussprach.
„Schön, nun habe ich deine Fragen beantwortet, jetzt erwarte ich einige Antworten: Wie bist du entkommen? Wie konntest du einem meiner Mörder entgehen? Wo warst du die ganze Zeit über? Und woher wusstest du, wann die Zeit kam, aus deinem Versteck zu kriechen?“
„Es war dieser Soldat, habe ich recht?“ Ruphus war einen Schritt vorgetreten, er stand nun an Kayes Seite. „Man hätte ihn gleich umbringen müssen. Weiß Gott, wie er Euren Schlupfwinkel gefunden hat, so aufgeschlitzt, wie er war.“
„Auch noch etwas, was du zu verschulden hast?“ Amariah sprach noch immer zu Kaye.
„Sicher.“ Gelangweilt wiegte Kaye das Schwert in den Händen. „Er hatte vor, zum Verräter werden. So etwas muss man als Herrscher unterbinden.“
Alicia nahm all ihren Mut zusammen. „Andere Verräter lasst Ihr allerdings am Leben.“
„Sicher“, meinte er erneut. „Mildernde Umstände, versteht Ihr? Man muss es sich schon verdienen, durch meine Klinge zu sterben.“
„Wir fühlen uns geehrt!“, spottete Amariah, als sich plötzlich der Falke von der Spitze des Turmes abstieß und im Sturzflug herabsegelte, auf Kayes Schulter landete und unwillig mit dem Kopf ruckte.
„Was ist denn?“, fragte Kaye ihn leise. Zum ersten Mal lag so etwas wie Zärtlichkeit in seiner Stimme. "„Stimmt etwas nicht?“
Auch der Löwe hob witternd den Kopf, dann stieß er ein leises, grollendes Lachen aus.
„Was ist los?“ Alicia sah hinab auf die Raubkatze. Der Löwe wippte jedoch nur mit dem Schwanz und lächelte sein Löwenlächeln.
Der Falke stieß einen beunruhigten Schrei aus und flatterte mit den Flügeln.
Da öffnete sich die Tür hinter Kaye und Ruphus und nicht nur zu Alicias Erstaunen betrat Ajsha den Balkon. Sie trug einen Dolch im Gürtel.
Kaye verneigte sich leicht in ihre Richtung, während sie sich lächelnd an die in ihrem Rücken geschlossene Tür lehnte.
„Herr“, sagte sie höflich zu Kaye. „Es ist uns gelungen, König Farì zu überrumpeln. Er befindet sich in der Hand Eures Heerführers.“
Der Löwe an Alicias Seite lächelte aus unerfindlichen Gründen immer noch. Ja, er schien sich hervorragend zu amüsieren, obwohl er sich bemühte, seine ernste Miene zu bewahren.
„Tatsächlich?“ Kaye sah hinab auf Alicia und die Königin. „Nun, dann kann ich euch alle auch sofort töten.“
Ohne dass er einen sichtlichen Befehl gegeben hätte, traten fünf seiner Wachen wie aus dem Nichts hinter die Königin, Ra’ana, Alicia und den Löwen. Von Panik ergriffen sah Alicia zu dem Löwen hin, doch der tat etwas, was er noch nie getan hatte: Er legte sich hin, rollte sich auf den Rücken und bot dem Bewaffneten, der mit erhobenem Schwert hinter ihm stand, den Bauch dar. Eine Geste der Unterwerfung. An Ruphus‘ Gesicht konnte Alicia ablesen, dass er genauso überrascht war wie sie.
„Stimmt es, dass er zu Euch spricht?“, fragte Kaye mit sichtlichem Interesse.
Alicia erwiderte gereizt seinen Blick. „Ja. Und nur zu mir.“
Kaye lächelte amüsiert. „Schön. Ich komme jetzt runter.“
Er verschwand im Inneren des Turmes, gefolgt von Ruphus. Ajsha zögerte eine Sekunde, dann betrat auch sie den Turm.
Alicia bemerkte, wie die Königin hinter ihrem Rücken einen Blick mit Ra’ana tauschte. Sie wusste, was Amariah dachte: Erneut hatte sie sie, Alicia, in Lebensgefahr gebracht.
Da öffnete sich auch schon ein Flügel des Portals und Kaye spazierte heraus. Hinter ihm stieß Ruphus die Tür mit dem Fuß zu. Ajsha war nicht bei ihnen. Die Wachen hinter Alicia, der Königin und Ra‘ana hatten ihre Schwerter gezückt und erwarteten anscheinend den Befehl, zuzuschlagen.
Alicia atmete tief ein. Fast hatte sie sich daran gewöhnt, um ihr Leben zu bangen.
„Warte!“ Die Königin warf Alicia einen Seitenblick zu. „Ich bitte dich, Kaye, lass meine Begleiter frei; ich bin es, die du willst, also lass sie gehen!“
„Wie großmütig!“ Kaye stellte sich dicht vor Amariah, genau wie Ruphus es getan hatte, als er Alicia in seinem Dorf erwischt hatte. „Aber ich fürchte, zu einem so selbstlosen Schritt könnte ich mich nicht durchringen. Ich hätte ja überhaupt keinen Vorteil davon. Nein, freilassen werde ich sie nicht, aber du darfst dabei zusehen, wie ich sie umbringen lasse. Ich bin sicher, inzwischen verkraftest du ein wenig Blut.“
Die Königin gab keine Antwort. Nur seinem Blick hielt sie stand.
Irgendwann wandte er sich ab und begann vor den dreien auf und ab zu gehen wie ein General vor seiner Armee. Vor Alicia hielt er inne.
„Hier fangen wir an.“ Kaye winkte Ruphus zu sich und deutete auf Alicia. „Das ist deine Aufgabe. Wenn du willst, kannst du ihren Kopf behalten.“
Alicia hielt die Luft an, als Ruphus vortrat und sie musterte. Einzig ein ganz kleines unruhiges Zucken um seine Mundwinkel verriet sein Anspannung. Dann wanderte der Blick seiner schwarzen Augen zu der schweren eisernen Waffe in seiner Hand, er umfasste sie fester – und erhob sie.
„Einen Moment noch!“, rief da eine helle Stimme. Ajsha stand in der Tür zum Turm; sie lächelte. „Hier ist jemand, der Euch sprechen möchte, Lord Kaye.“
Unwillig wandte sich Kaye um. Ajsha trat zur Seite und gab den Blick frei auf den ungebetenen Besucher.
Alicia hatte König Farì noch nie gesehen, doch dass das kein anderer sein konnte, war ihr klar. Er war hochgewachsen, schlank, mit kurzem schwarzem Haar und einem kleinen Oberlippenbärtchen. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen trat er in die Sonne; das Schwert in seiner Hand blitzte in einem metallischen Blau auf.
„Lord Kaye. Ich hoffe, ich störe nicht.“
Seine Stimme schallte weit über die Stadt, obwohl er nicht laut sprach. Zugleich traten aus den in den Platz mündenden Gassen seine Soldaten. Alicia hatte zwar gewusst, dass zweitausend viel war, aber jetzt schien es erschreckend viel.
Sie an Kayes Stelle hätte sich vor Angst ein Loch im Boden gewünscht, damit sie verschwinden konnte, doch er reagierte überraschend gelassen, trat zur Seite und gab damit den Blick auf die Königin frei.
„Nein, Farì, Ihr stört kein bisschen. Ihr kommt gerade richtig, um einigen Hinrichtungen beizuwohnen.“
„Oh, nicht doch. Ihr könnt einer Hinrichtung zusehen.“
Aus dem Turm trat ein Bewaffneter unter dem Wappen König Farìs, der Cant mit dem Schwert vor sich herstieß. Der selbsternannte König trug einen prunkvollen Morgenrock und sah ziemlich unausgeschlafen aus. Beinahe hätte Alicia über ihn gelacht.
Die beiden Herrscher standen sich gegenüber und maßen sich mit den Blicken, als auf einmal aus der Masse der Soldaten ein Ruf ertönte.
„Macht Platz für die Gesandten des Zwergenvolkes!“
Es gab ein Gedränge, dann hatte sich eine Gasse gebildet, durch die sich vier Träger mit einer breiten Sänfte bewegten. Vor dem Turm, seitlich zwischen Kaye und Farì stellten sie die Sänfte ab und schoben die Vorhänge zur Seite.
In der Sänfte saßen, in derselben Reihenfolge wie bei ihrem ersten Treffen mit Alicia, die Zwerge des Ältestenrates aufgereiht.
Der zweite Zwerg erfasste die Situation mit einem Blick, doch ehe er etwas sagen konnte, rief der Dritte: „Rückt den Verräter heraus, der das Verlöschen unseres Ewigen Feuers zu verschulden hat!“
Er erntete verständnislose Blicke. Da meldete sich der zweite Zwerg zu Wort.
„Wir sind gekommen, um jenen zu verdammen, auf dessen falsche Worte unser Ewiges Feuer verloschen ist. Unser Ewiges Feuer nämlich ist ewig, und nun, da es erloschen ist, tat es einen Ruck in der Zeit, etwa so.“
Der Zwerg gab ein Geräusch von sich, als habe man einen Frosch mit einem rostigen Wecker gepaart.
„Diesen Verräter zu holen sind wir nun gekommen. Er nennt sich Hunter, oder eigentlich Nummer 12.“
Der erste Zwerg richtete sich zu seiner vollen Größe von etwas mehr als einem Meter auf.
„Wenn Ihr ihn nicht herausrückt, Lord Kaye, dann wird es Krieg geben zwischen den Zwergen und den Menschen!“
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: Zum ersten richtete sich der Löwe mit einem gewaltigen Brüllen auf, das alle Anwesenden zusammenzucken ließ, und zum zweiten bahnte sich noch jemand einen Weg durch die Soldaten Farìs, den Alicia kannte. A’en.
„Nummer 3! Wo treibt ihr alle euch herum?“, fuhr Kaye ihn gereizt an. A’en näherte sich ihnen, ohne von den Soldaten aufgehalten zu werden.
„Wir kämpften gegen die Streitmacht König Farìs“, erklärte er ungerührt. „Hinter der Stadt, wie Ihr befohlen hattet.“
Jetzt hatte Kaye wirklich Mühe, sich zu beherrschen.
„Wie kann das sein, wenn sich die Streitmacht des Königs mitsamt ihrem Anführer hier befindet?“
„Nun, wir kämpften gegen sie. Nicht gegen diese hier, natürlich, sondern gegen eine einzelne Abteilung, doch sagte uns niemand, wir sollten die Hauptstreitmacht auch verfolgen, wenn sie sich zurückzögen.“
A’en blieb einige Meter entfernt stehen.
In einem neuen Anfall von Fassungslosigkeit über die Dummheit seiner Untergebenen schüttelte Kaye den Kopf.
„Und was suchst du dann hier? Ich erinnere mich, den Oberbefehl meines Heeres auf Nummer 12 übertragen zu haben!“
„Der Verräter!“, kreischte einer der Zwerge, Alicia konnte nicht erkennen, welcher. „Gebt ihn heraus!“
Kaye warf ihm einen eisigen Blick zu.
„Wir haben im Moment wahrlich wichtigere Angelegenheiten als die Rachegelüste eines fünfhundert Jahre alten Zwerges kümmern.“
„Sechshundertundelf Jahre, wenn ich bitten darf!“, berichtigte der zweite Zwerg würdevoll.
Kaye beachtete ihn nicht.
„Wie auch immer... Farì, es ist mir gleichgültig, wenn Ihr ihn“ – er weis mit dem Kinn auf Cant – „umbringt. Aber Euch wird es nicht egal sein, wenn ich die ehemalige Königin töten lasse. Meine einzige Forderung ist, dass Ihr Euch mit Eurem Heer in Euer Land zurückzieht und nie mehr hier auftaucht. Andernfalls ist die Zeit meiner Regentschaft in diesem Land beendet, doch Ihr habt dann keine Königin mehr, die dieses Land regiert.
Auch ließ ich mir sagen, dass Ihr ein persönliches Interesse an ihr als Mensch aufweist. Ihr habt die Wahl.“
Der König des Zweiten Landes zeigte kein Anzeichen von Schwäche, doch Alicia spürte, dass Kaye einen wunden Punkt getroffen hatte.
Sie fühlte eine Erkenntnis in sich wachsen: Farì würde nicht das Leben der Königin auf’s Spiel setzten.
Im selben Moment, als Farì seinem Untergebenen ein Zeichen gab, Cant loszulassen und sich zurückzuziehen, fiel Kaye um. Ohne einen Laut schlug er auf dem Boden auf, der Aufprall schleuderte ihm die Waffe aus der Hand.
Eine Sekunde lang herrschte Stille.
Dann riss sich A’en aus seiner Starre und war mit wenigen Schritten bei dem Liegenden. Einer der Soldaten in den vorderen Reihen wollte ihn aufhalten, doch Farì gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt.
A’en kniete neben Kaye nieder. Nach kurzem richtete er sich auf und hielt einen winzigen Pfeil in die Höhe, kaum größer als ein Streichholz.
Alicia sprach als Erste: „Ist er... tot?“
Der vierte Zwerg räusperte sich vernehmlich. In der Hand hielt er ein kleines Blasrohr.
„Nein, Miss, nur betäubt. Kein Mensch darf sich anmaßen, einen Zwerg zu beleidigen!“
Da trat Königin Amariah vor und verneigte sich vor ihm.
„Wir sind Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich bitte Euch, erweist mir die Ehre, mit Euren Gefährten als Gäste in meinem Turm zu verweilen.“
Der Zwerg neigte zustimmend den Kopf.
„Ich bin sicher, Eure Herrschaft beginnt in diesem Moment erst richtig. Verzeiht, dass wir Eurem Bittsteller nicht sofort Hilfe zugesagt haben, denn inzwischen wissen wir, dass nicht er die Schuld trägt am Erlöschen des Ewigen Feuers.“
Sein Blick wanderte zu Ruphus, der sich nicht gerührt hatte. Wie vor den Kopf gestoßen starrte er auf seinen bewusstlosen Vater.
„Ich fürchte, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich möchte, dass man alle Rebellen, die noch vor der Stadt kämpfen, festnimmt und zu mir führt. Ach, und jemand sollte frisches Fleisch für einen Löwen besorgen, der nach der ganzen Aufregung sicher hungrig ist.“
Während um sie herum alles in geschäftigem Treiben versank, versuchte Alicia im Geiste zu zählen, wie viele Faktoren des Glücks mit hineingespielt hatten, um den Ausgang dieser Ereignisse zu gewährleisten.
Kapitel 13: Abschied
Zum ersten Mal seit langem lag Alicia in einem richtigen Bett. Doch schlafen konnte sie nicht. Immer wieder kamen die Erlebnisse der vergangenen drei Stunden hoch, es waren zu viele Bilder in ihrem Kopf, als dass sie zur Ruhe hätte kommen können. Zu viel war geschehen.
Der Löwe war die Sensation überhaupt geworden: Jeder einzelne von Farìs Soldaten wollte ihn einmal berührt haben.
Amariah hatte zuerst den Turm von allen Spuren Cants befreit und ihren rechtmäßigen Thron eingenommen. Dann hatten sie endlose Bedankungsszenen mit Beschlag belegt, sodass Alicia sich mit Ajsha zurückziehen konnte und in Ruhe über alles sprechen konnte. Ajsha war mit den anderen aus Ruphus‘ Dorf gefangen genommen worden und mit Farìs Heer gereist. Vor der Stadt war es ihr gelungen, Farì zu überzeugen, sie als Waffe gegen Kaye einzusetzen. Doch sie hatte sich erst dazu entschlossen, wirklich das zu tun, was sie Farì versprochen hatte, als sie gesehen hatte, dass auch sich Alicia in Kayes Gewalt befand.
Während Alicia Ajshas Geschichte hörte und ihrerseits berichtete, was ihr widerfahren war, wurden auf Königin Amariahs Geheiß Boten in das ganze Land geschickt, die die Kunde des Sieges über die Rebellen verbreiteten. Wenig später kreuzte auch der Spiegelmacher auf, der, kaum außer Hörweite Farìs und der Zwerge, seiner Königin eine Standpauke hielt, die sich gewaschen hatte. Was um aller Götter willen sie sich dabei gedacht habe, erstens Alicia allein losziehen zu lassen, um Ruphus zu suchen, und sie zweitens mit in die Stadt zu bringen, wo doch Krieg war. Er ließ sich erst beruhigen, als er sich davon überzeugt hatte, dass Alicia keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte, und als König Farì ihm einen unwirschen Blick zuwarf.
Alicia sah nicht dabei zu, wie diejenigen von Kayes Gefolgsleuten, die noch vor der Stadt gekämpft hatten, gestellt und verhaftet wurden. Nicht einmal Hunter wollte sie in Ketten sehen. Es bereitete ihr keine Genugtuung.
Stattdessen zog sie sich früh in das Zimmer zurück, das ihr die Königin für die Nacht zugewiesen hatte. Nun lag sie unter dem mandelgrünen Himmel ihres Bettes und beobachtete die dunkler werdende Landschaft durch eines der hohen Fenster.
Morgen würde sie zurückgehen. Ein wenig seltsam kam es ihr schon vor, einfach einen Spiegel zu durchqueren und ihr altes Leben aufzunehmen, als hätte es niemals einen Kaye oder einen Ruphus gegeben.
Ruphus war nicht eingekerkert worden, aber sein Zimmer befand sich im oberen Drittel des Turmes und war gut bewacht. Gegen Abend war A’en hinaufgegangen und hatte mit Ruphus ein langes Gespräch hinter geschlossener Tür geführt. Nicht einmal die Königin wusste, was sie gesprochen hatten, und Nummer 3 gab keine Auskunft, doch dass es mit Kaye und den Rebellen zu tun hatte, dessen war sich Alicia sicher.
Mit dem Gedanken an Ruphus schlief sie schließlich ein.
Alicia erwachte so früh wie seit Wochen nicht mehr. Die Landschaft vor ihrem Fenster war in ein graues Dämmerlicht getaucht, nichts rührte sich in der Stadt zu Füßen des Turmes. So früh waren noch nicht einmal die Bauern auf den umliegenden Feldern erwacht; die Hähne würden erst in einer Stunde krähen.
Alicia zog sich an. Schlafen konnte sie ohnehin nicht mehr, also beschloss sie, hinauszugehen und eine Weile mit sich allein zu sein. Doch gerade als sie das Zimmer verlassen wollte, bemerkte sie etwas blassgelbes unter dem Türspalt. Es war ein zusammengefaltetes Stück Papier, nicht besonders groß, aber dicht beschrieben:
Alicia,
ich weiß nicht, inwiefern Ihr Bescheid wisst über die Ereignisse der letzten Wochen, ich weiß nicht, wer Ihr seid und woher Ihr kommt und ich weiß nicht, was Euch verbindet mit diesem Land, das meine Heimat war, doch ich halte es für meine Pflicht, mich jemandem anzuvertrauen, ehe ich fortgehe.
Gestern Abend kam A’en zu mir und erzählte mir eine recht merkwürdige Geschichte:
Er sagte, ich sei Kayes Sohn, der Mann, den sie Verräter nannten und der urplötzlich verschwand. Angeblich arbeitete dieser Verräter gegen Cant, so dass man ihn ausschalten musste. Doch statt ihn zu töten, soll auf rätselhafte Weise seine Erinnerung manipuliert worden sein, damit er zu dem Menschen wurde, der ich bin. Ob es die Wahrheit ist, kann ich nicht sagen, denn Kaye sagte mir, ich sei in einer Schlacht bewusstlos geschlagen worden, deshalb erinnerte ich mich an nichts. Die neue Variante würde dies selbstverständlich widerlegen.
Ich weiß nicht, wie weit man A‘ens Geschichte Glauben schenken kann oder darf, doch werde ich es herausfinden. Dazu gehe ich fort, hier könnte ich allemal nicht bleiben. Seht dies nicht als Flucht an, denn wenn ich fliehen wollte, würde ich mich nicht durch eine solche Dummheit verraten.
Es soll eine Suche sein danach, wer oder was ich war. Man wird mich in Aréija nicht vermissen.
Erwartet nicht, dass ich mich bei Euch entschuldige für das, was ich Euch angetan habe, Ihr wisst, dass ich es nicht kann. Ich erwarte auch nicht von Euch, dass Ihr mich oder mein Tun versteht.
Ich hoffe für Euch, Ihr vergesst mich bald, lebt ein friedliches Leben und geratet nicht mehr derartig oft in Gefangenschaft.
Ruphus
Alicia faltete das Blatt sorgsam in der Mitte und steckte es in die Tasche. Dann öffnete sie vorsichtig dir Tür, um niemanden aufzuwecken und schlich die Stufen des schlafenden Turmes hinunter. Die Wachen am Tor ließen sie durch, sie kannten sie inzwischen. Alicia lief durch die stillen Gassen der Stadt, ohne auf ihren Weg zu achten, begegnete keiner Menschenseele und nur einem streunenden Hund.
Erst als die Hähne krähten und die Menschen aus ihren Häusern kamen, kehrte Alicia zum Turm zurück.
Der Abschied verlief ziemlich knapp; der Spiegelmacher drückte Alicia ans Herz und legte ihr nahe, gut auf sich aufzupassen, die Königin umarmte sie ebenfalls und erklärte augenzwinkernd, die nächste Gelegenheit, bei der sie sich sähen, wäre vermutlich ihre Hochzeit mit A’en, die in wenigen Wochen stattfinden sollte, und Ajsha erzählte ihr als Verabschiedung von ihrem Plan, mit einer Flotte der Königin, die irgendwann einmal auslaufen sollte, auf die andere Seite des großen Meeres zu fahren. Der Löwe wich kaum von Alicias Seite und flüsterte ihr zu, wie öde das Savannenleben ohne sie werden würde.
Eebly tauchte auch noch auf, sein Abschied belief sich auf einen Händedruck seiner winzigen Hand.
Alicia wünschte allen viel Glück, alle wünschten Alicia viel Glück, dann betrat sie den Spiegel beim Haus des Spiegelmachers.
Sie blickte nicht zurück.
Schließlich wartete ihr Vater auf sie.
Epilog: Die Einladung
Die Benachrichtigung kam vier Wochen später per E-Mail, zusammen mit einer herzlichen Einladung der Königin. Darin bat sie Alicia, noch einmal nach Rawania zurückzukehren und für sie und A’en Trauzeugin zu werden. Außerdem berichtete Ra’ana voller Stolz, er habe es geschafft, durchzusetzen, dass er wenigstens noch einen weiteren Rechner zusammenbauen durfte. Das sei seine Bestimmung, verkündete er, ohne Kabel könne er nicht leben.
Die meisten der Rebellen hatte die Königin auf Bewährung begnadigt, Kaye und Cant selbstverständlich nicht. Einige weitere Erklärungen über die Verwirklichung des Aufstandes hatte man bei näherer Untersuchung des Verstecks der Aufständischen gefunden: Der zweite Mann, den Mr Stuart nach Rawania geschickt hatte, hatte den Aufstand erst möglich gemacht, indem er die elektronische Verständigung hinter Ra’anas Rücken in Gang setzte und überwachte. Er war sich nicht bewusst gewesen, dass man den Spiegel auch in die andere Richtung durchqueren konnte; sein Vorgänger war schließlich nicht zurückgekehrt. Also hatte er denselben Gedanken wie Ra’ana, nämlich dass es noch sechshundert Jahre dauern würde, bis das Land auf das technischen Niveau seiner Heimat kommen würde. Auch er hatte versucht, die Zeit zu überspringen, nur auf etwas andere Weise und indem er die falschen Leute kennen gelernt hatte.
Als Alicia las, dass der Löwe nun in der Ebene Tulgra hauste und ab und zu in Aréija vorbeischaute, wurde sie ein wenig wehmütig. Sie dachte an sein Löwenlächeln, wie lustig es aussah, wenn er schmunzelte und an seine Scherze, wenn er sie aufheitern wollte.
Andererseits wollte sie es ihrem Vater nicht noch einmal antun, sie auf der anderen Seite eines Gegenstandes aus solidem Glas zu wissen.
„Unsinn, natürlich gehst du!“, widersprach Matthew, der seine Mutter überredet hatte, ihn in Seattle Mathematik studieren zu lassen. Das Geschäft seines Vaters wollte er auf jeden Fall nicht übernehmen. „Jetzt weißt du ja, dass du wieder zurückkommst und nicht irgendwo unterwegs steckenbleibst. Warum solltest du dich dann unglücklich machen?“ Er lächelte. „Die einzige Frage ist, ob ich dich so lange entbehren kann!“