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- 24.04.2003
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Realistische, fatale Romantik.
Wer hat schon die Kraft zu sagen, dass es wehtut?
Denn es war wunderschön. In jener Nacht, als der Himmel sein eigenes, naturgewaltiges Feuerwerk zelebrierte, und in der zwei Menschen sich zufällig auf der Hauptstraße einer Stadt begegneten, die nur aus Staub besteht.
Sie begannen, miteinander zu sprechen, und genau hier beginnt diese Geschichte.
"Musst du auch zum Bahnhof?"
Der Junge findet keine Worte ohne Kitsch, die das Mädchen zu beschreiben vermögen, und so lässt er sich ganz einfach überwältigen.
"Ja", sagt er. Mehr Buchstaben kann er nicht zusammensetzen. Es fehlt ihm an Atem (und ohne Konzentration geht das sowieso nicht).
"Es wird gleich heftig regnen. Kann ich unter deinen Schirm?"
Was wie eine Frage klingt, ist in Wahrheit die Ankündigung eines Entschlusses, den das Mädchen sogleich zur Tat werden lässt; und da sind sie beide nun beisammen, von einem Regenschirm überspannt, über dessen Stoff vereinzelte Tropfen zur Seite rutschen, und schweigen sich an, während der Junge seinen Gang etwas verlangsamt. Damit sie mit ihm Schritt halten kann, redet er sich ein. Tatsächlich wünscht er sich die Ewigkeit vor seinen Füßen, aber da es die hier und jetzt nicht geben kann, geht er einfach etwas langsamer.
Als in der Nähe ein Blitz einschlägt, da bricht es los zur Erde herunter, das Spektakel oben am Himmel, das die Sterne verdeckt, doch jetzt rauschend, ohne Licht, und jetzt ist es sie, die schneller wird, und er wird den Teufel tun, sich nicht anzupassen.
Sie führt den Jungen, und es ist ein bisschen so, als wäre es immer so gewesen, dass er darauf gewartet hat, von jemandem die Richtung gezeigt zu bekommen, obwohl er doch genau weiß, wo der Bahnhof liegt.
Das Gewitter soll stärker werden, wünscht er sich.
Unentwegt soll es blitzen, damit ich ihre Augen sehen kann.
Doch einzig der Regen nimmt zu. Überflutet den ganzen Staub, und löst die Stadt zu Schlamm auf.
"In einer Viertelstunde fährt mein Zug", ruft sie durch das Unwetter, und der Junge braucht nicht zu sagen, wann seiner fährt, denn hier fahren nicht viele Züge, und ganz sicher nimmt er den selben. In dieser Stadt halten die wenigen Waggons überhaupt nur, um den Bahnhof nicht um seine Existenz zu betrügen, als hätten sie eine gute Seele. Mitleid, mit dem fast vergessenen Außenposten jenseits der Welt.
Sein Herz ist unsicher, ob es seinen Schlag einstellen, oder ihn beschleunigen soll, und da er immer noch mit der Situation hadert, bleibt erstmal alles gleich. Gedanken finden nicht immer direkt dorthin, wo sie Schaden anrichten können.
Während er so neben ihr herläuft (jetzt muss er sich selbst bemühen, Schritt zu halten), gibt es plötzlich einen besonders lauten Donner, doch nirgends um die beiden herum wird die Nacht erhellt.
Es muss Amor gewesen sein, und er hat mich mitten ins Gehör getroffen. Kann er so schlecht zielen, oder stehe ich immer bloß ungünstig im Weg herum?
Und da lächelt sie ihn an, und jetzt erhellt auch endlich ein Blitz das Bild, und er fragt sich, ob der Pfeil in Wirklichkeit das Mädchen zum Ziel hatte.
Ich Trottel verliebe mich doch auch so problemlos genug.
"Du lässt mich nass werden", sagt sie, und alles, wozu er in der Lage ist, ist dämlich zurück zu grinsen, den Schirm viel zu weit zur Seite haltend.
"Entschuldige."
"Du Trottel." - Sie lacht die Worte, meint sie scherzhaft. Er weiß das, aber sie weiß nicht, wie weh sie ihm trotzdem damit tut.
Von jetzt an verkrampft sich sein Arm. Den Schirm bloß gerade halten, lass sie nicht wieder nass werden; und drei Laternen erhellen den einzigen Bahnsteig, der näher rückt.
Dann trennen sich ihre Wege. Sie muss eine Karte am Automaten ziehen. Er hat bereits eine.
Die letzte Bank, am Ende des Bahnsteigs, hier, am Ende der Welt, wo die Waggons aus Mitleid stehen bleiben, und wo der Junge seinen Atem anhält, als er die Schritte auf der Treppe hört, die von ihr kommen, denn das Geräusch der Schuhe hat er sich gleich im ersten Moment eingeprägt, als er unter dem Schirm nicht mehr alleine gewesen ist.
"So weit hinten", trägt sie ihre Frage zu ihm, und sein Blick klebt auf den eigenen Schuhen, die aber auch keinen Ratschlag geben können.
Also nickt er. Das kann der Junge gut. Denn zu nicken bedeutet, sich nicht in gestammelten Phrasen zu verlieren, von denen keine stimmen würde, selbst wenn sie nicht gestammelt wären; und ein Nicken ist gut, weil man nicht viel dabei falsch machen kann.
Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie neben ihm steht, sich dann aber setzt. So nah, dass er ihre Beine an seinen spürt, und der Junge fragt sich, ob sie das auch machen würde, wäre er heute Nacht ohne Regenschirm unterwegs gewesen.
"Du bist komisch", stellt sie fest, und der Junge ist froh, wieder einmal nicken zu können.
Dann ist sie da, in seinem Sichtfeld, über den Schuhen, auf die er unentwegt blickt: Die Hand, die ihn nachträglich begrüßen möchte.
Und die Hand zu beschreiben ist ein phenomenaler Kitsch; Worte, die in Groschenromanen verheitzt werden, damit sie in der Realität keine Bedeutung mehr haben. Nur ein Wort, nicht ganz so ausgeleiert wie all die anderen; dieses Wort fällt ihm ein: Feingliedrig ... und noch ein zweites: Weich.
Kann man eine solche Hand ergreifen, ohne sie zu zerbrechen?
Wichtiger noch: Ohne den Geist, der seinen Ausdruck in ihr findet, zu zerschmettern?
Kann der Junge überhaupt eine Hand ergreifen, ohne an dem zu scheitern, was ihm fehlt? Und kaputt machen, das kann er gut, glaubt er wenigstens, obwohl er noch nie eine Sache kaputt gemacht hat.
Er nimmt die Hand in seine, und ein drittes Wort kommt hinzu: Warm.
"Kyra", lässt sie ihn wissen.
Und gelockte, schwarze Haare, die sich wie dressierte Schlangen an das Gesicht schmiegen, um ihm einen Rahmen zu geben, springen gleichzeitig auch auf den Jungen über, um seine Kehle eng zu schnüren.
"Du fährst auch weg von hier?"
Das Mädchen - Kyra - zuckt mit den Schultern.
"Es gibt kein weg von hier. Vor zwei Tagen ängstigte mich der Staub. Jetzt aber wird er weggespült, und ich lasse mich ebenso wegspülen. Warum bist du so schüchtern?"
Solche Fragen lassen sich nicht mit Kopfschütteln; nicht mit einem Nicken beantworten.
Aber solche Fragen lassen sich genausowenig mit Worten beantworten. Man kann nur von ihnen ablenken, wie man von der eigenen Identität ablenkt, wenn sie einem peinlich inmitten einer Welt ist, die zur Bühne des kosmischen Theaters geworden ist, vor dessen Darstellern der Junge flüchtet, und hierhin verirrt sich keiner. Es sei denn, er will damit nichts zu tun haben.
"Ich weiß nicht", sagt er ... und dann: "Wie heißt du?"
Das Mädchen lacht. - "Kyra. Immer noch."
Ihre Hand droht durchscheinend zu werden.
"Bastian", sagt er. - "Schon immer", und endlich kann er sich zu einem Lächeln ringen.
Als der Zug hier hält; inmitten des Schlammes, da steht Kyra auf.
Ihre Hand ist stark, doch Bastians Finger zerbrechen unter der schwerelosen Last, von der er keine Ahnung hat.
"Du kommst nicht mit?"
Gerne würde er nicken, doch so schüttelt er seinen Kopf; und die Türen des Waggons schließen sich, und zurück bleibt der Blick, aus dem mehr hätte werden können.
Wer hat schon die Kraft zu sagen, dass es wehtut?
Dann war das naturgewaltige Spektakel zuende, und die Menschen, die sich zufällig getroffen hatten, gingen ihre Wege.
Es war das flüchtige Lächeln eines Menschen, dem man zufällig auf der Straße begegnet, und von dem man denkt (weil das Lächeln eben von beiden Seiten herrührt), der könnte es sein!
Doch in Wahrheit spricht niemand mit flüchtigen Schatten, und sie verblassen schneller als Sekunden.
Und hier endet diese Geschichte.