Realität
Realität
Ein Donnern erschüttert das Haus. Mit einem Mal ist es dunkel.
Raphael, der bis eben noch mit seiner jüngeren Schwester Michelle eines dieser Brettspiele gespielt hat, die er eigentlich nicht leiden kann, findet sich unter Trümmern begraben und eingequetscht wieder. Es fällt ihm schwer, zu atmen, und langsam aber sicher verschwimmen die Gedanken in seinem Kopf. Er hat diesen Geschmack im Mund, den er aus unzähligen Filmen beschrieben kennt. Ein metallischer Geschmack, Blut.
Raphael beschließt, einen klaren Kopf zu bewahren und jetzt nur nicht ohnmächtig zu werden.
Dann prüft er, ob er verletzt ist.
Wie geh ich vor, denkt er, am besten von oben nach unten.
„Mein Kopf?“, fragt er nun laut, nur um eine Stimme in der Dunkelheit zu hören und sich zu beruhigen. Trotzdem erschrickt er, weil seine Stimme unheimlich von dem schwarzen Nichts um ihn herum zurückgeworfen wird.
„Nun, mein Kopf ist noch da. Meine Arme? Auch noch da. Meine Beine?“ Eine Pause entsteht. So sehr Raphael sich auch bemüht, seine Beine zu bewegen, es gelingt ihm nicht. Es ist, als würden seine Beine nicht einmal existieren. Panik macht sich in dem Jungen breit. Was ist mit seinen Beinen geschehen? Langsam und ängstlich tastet er sich an seinem Körper entlang. Er hat Angst vor dem, was seine Hände finden könnten, da, wo er seine Beine vermutet.
Als er an der Hüfte angelangt ist, spürt er seine Oberschenkel. Nun, die Beine sind noch da, aber warum spürt er sie nicht? Er tastet mit seinen Fingern weiter hinab. Und plötzlich zieht er seine Finger zurück. Nein, das kann nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein. Was er da eben gespürt hat, dass würde bedeuten… Ihm wird schlecht. Soll er noch einmal sicher gehen? Nun gut, bei seiner jetzigen Verfassung konnten ihm seine Hände auch einen üblen Streich gespielt haben, lieber auf Nummer sicher gehen. Noch einmal tastet er sich an seinen Oberschenkeln hinab. Und da berührt er wieder das Holz, und dieses Mal ist er sich ganz sicher, dass seine Hände ihm keinen Streich spielen. Mitten durch seine Beine geht ein Stück Holz. Zitternd tastet er nun links und rechts des Holzstückes… es scheint kein Ende zu nehmen. Tränen steigen in Raphaels Augen auf.
Einer der Dachbalken ist auf seine Beine gestürzt. Aber wie kann das nur sein? Was ist mit dem Haus geschehen? Was ist mit seiner Schwester und seinen Eltern? Die Angst und die Panik wüten nun wie ein wildes Tier in Raphaels Kopf und er beginnt zu weinen und zu schreien. Er schreit um Hilfe, er schreit, so laut er kann, aber keiner kommt, um ihn zu retten. Und letztendlich übermannt ihn die Angst und lässt ihn in einen gnädigen Schlaf fallen.
Schlagzeile: Erdrutsch forderte ein Opfer. Als am späten Abend eine Lawine aus Schlamm und Felsen auf ein Familienhaus niederging und es unter sich begrub, wurde der Familienvater getötet. Die 10-jährige Michelle Hauser wurde wie durch ein Wunder nur leicht verletzt, ihr 15-jähriger Bruder liegt noch auf der Intensivstation. Die Mutter überstand das Unglück unverletzt, da sie zum Unglückszeitpunkt außer Haus war.
Raphael öffnet die Augen. Seine Beine schmerzen, aber die Ärzte sagen, dass wäre das beste, was sie tun könnten. Das hieße, dass sie heilen würden.
Das Zimmer, in dem er seit etwa einem Monat aufwacht, ist wie für ein Krankenhaus typisch weiß. Die Krankenschwester wird jeden Moment kommen, um ihn abzuholen. Wenn er Glück hat, sind seine Schwester und seine Mutter auch dabei, wenn er seine täglichen Übungen zum Gehen macht. Denn wenn sie ihn anfeuern, wenn er versucht, die 20 Meter alleine zu gehen, dann schafft er es dieses Mal sicher.
Das sein Vater gestorben ist an jenem Abend hat ihn geschockt, aber er ist zu sehr damit beschäftigt zu verstehen, was mit ihm selbst geschehen ist, und dass er überlebt hat.
Raphael betritt den Saal, der vollgestellt ist mit Geräten, die den Patienten helfen sollen, wieder normal gehen zu können. Aber heute will er keine dieser Dinger gebrauchen, heute will er die 20 Meter, von der einen Seite des Saals bis zur anderen Seite, ganz ohne Hilfe schaffen.
Ein Junge grüßt ihn. Es ist Ben, er trägt eine Schiene um sein linkes Bein. Er hat die 20 Meter schon geschafft.
Seine Schwester kommt auf ihn zu. Freudig strahlend sagt sie: „Heute schaffst du es ganz bestimmt, Raphael.“ Er nickt.
Und dann geht er los. Er lässt die beiden Krücken fallen. Er hört, wie seine Mutter ihn anfeuert, und auch Ben und seinen anderen Freunde aus dem Krankenhaus, die das gleiche Schicksal wie er teilen, sie rufen ihm zu, dass er es schaffen wird.
Raphael merkt, dass er heute einen guten Tag hat. Und ehe er sich versieht ist er an der anderen Seite angekommen. Seine Beine schmerzen zwar, aber Raphael ist sich so sicher, dass er sogar noch ein Stück zurückgehen kann, bevor er die Krankenschwester bittet, ihm die Krücken zurück zu geben.
Dann steht er da. Alle klatschen. Seine Mutter drückt ihn an sich und verspricht ihm ein Eis, seine Schwester lächelt und die anderen Kinder im Saal rufen seinen Namen, bis er wie ein fröhliches Lied klingt.
Und Raphael lacht laut und freut sich.
Die Mutter und ihre Tochter kamen nun schon seit einem Jahr hier her. Wie jedes Mal saßen sie nur da und schauten den Jungen, der keine Beine mehr hatte, an, wie er schlief.
Die Ärzte sagten, dass er wohl nie mehr aus diesem Koma aufwachen würde. Seit man den Jungen aus den Trümmern des von einer Schlammlawine verschütteten Hauses geborgen hatte, war er nicht mehr aufgewacht.
Die Tochter starrte ihren Bruder traurig an, wie ruhig er in mitten dieser Geräte zur Lebenserhaltung schlief. Doch plötzlich begann der Junge ohne Beine zu lachen. Ohne Grund, er lachte und strahlte obwohl er noch tief im Koma lag.
Michelle machte einen Satz zurück, so sehr hatte sie sich erschrocken.
„Wacht er jetzt wieder auf?“, fragte sie ihre Mutter mit leiser Stimme.
„Nein, mein Schatz!“, sagte die Mutter ruhig aber den Tränen nah. „Raphael träumt nur.“