Was ist neu

Reden wir Tacheles, Mutter

Beitritt
14.06.2009
Beiträge
4

Reden wir Tacheles, Mutter

Sie hatte es nicht anders gewollt.
“Ich glaube, wir müssen uns mal aussprechen”, hatte sie in der ihr eigenen energischen Art und Weise geäußert, die keinen Widerspruch akzeptieren würde.
“Wozu soll das gut sein?” gab ich dennoch zurück.
Ein ähnliches Theater hatten wir vier Jahre zuvor mit meiner Schwester abgezogen. Sie war uns immer fremder geworden seit sie verheiratet war, da hielt meine Mutter es für angebracht, dass wir die Dinge, mit denen wir nicht zurecht kamen, “mal auf den Punkt” brachten.
Natürlich war die Absicht grundsätzlich nicht verkehrt. Aber ich äußerte damals trotzdem meine Bedenken hinsichtlich der möglichen Reaktionen meiner Schwester.
Prompt ging diese Unterredung voll daneben. Meine Schwester hörte eine kleine Weile schweigend zu, protestierte verzweifelt gegen unsere Sichtweise der Situation und ihrer Person und stand dann empört auf, um uns für immer zu verlassen.
Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir, ihrer ältesten Tochter, hatte in über vierzig Jahren hin und wieder mal Krisen, aber aufgrund meiner Toleranz ihrer Eigenarten und meines Verständnisses für ihre Verhaltensweisen waren wir relativ gut klargekommen.
Was sie nicht wusste, dass ich seit vielen Jahre eine ziemlich große Abneigung gegen sie hatte, die ich kaum noch im Zaum halten konnte. Wie das in solchen Angelegenheiten aus meiner Erfahrung heraus so ist, kommt die Wahrheit doch immer ans Tageslicht. Früher oder später ergeben sich Situationen, da will das Schicksal, dass die verborgensten Dinge des Lebens, einer Persönlichkeit oder einer Beziehung zu oberst gekehrt werden. So eine Art Showdown im Spiel des Lebens oder der Beziehung.
Das hat im Idealfall den Effekt einer Bereinigung, einer Neuorientierung und eines Neuanfangs, wenn die Parteien das wollen.
“Also, was ist nun?” fragte meine Mutter erneut und schien am anderen Ende der Leitung fingertrommelnd auf meine Antwort zu warten.
“Schön, meinetwegen”, sagte ich widerwillig.
Das Unbehagen war schon jetzt so stark, dass ich gar nicht an die bevorstehende Krisensitzung denken mochte.
Wir vereinbarten einen Termin in der darauffolgenden Woche. Mittwochnachmittag wollten wir uns zum Kaffee zusammensetzen. Nur sie und ich.
Der Tag kam schneller als erwartet, und ich hätte ihn gern noch hinausgeschoben. So wie ich eine Konfrontation in den vergangenen Jahren immer erfolgreich vermieden hatte, indem ich still vor mich hingrollte und litt, bis ich die Sache für mich so abgewiegelt hatte, dass es wieder erträglich war.
Es ist schon komisch, wenn man sich mit der eigenen Mutter zu solch einer Aussprache trifft. Die Begrüßung war gar nicht herzlich, sondern eher angespannt und mühsam freundlich. Ich fühlte mich wie eine eines Schwerverbrechens Beschuldigte, die ihrem entscheidenden letzten Prozesstag entgegensieht.
Wir saßen uns gegenüber am Küchentisch, jede an einem Ende des Tisches, rührten in unseren Kaffeetassen, und es schien als warte jede auf die andere, dass sie das Gespräch beginne.
Ich würde es nicht tun, das war mir schon klar, als ich mein Haus verließ. Auf dem Weg hierhin erschien mir die Unterredung immer absurder und gefährlicher. Schließlich entwickeln die meisten Gespräche eine unkontrollierbare Eigendynamik.
“Also, wir sollten reden”, begann meine Mutter.
“Ja.”
Sie schaute mich mit ihren dunklen Augen an, und ich konnte in diesem Blick nichts lesen. Keine Aggression, keine Freundlichkeit, keine Wärme, nur ein unbeschreibliches Nichts.
“Ich merke schon seit einiger Zeit”, sagte sie und unterbrach sich selbst durch einen Schluck aus der Kaffeetasse. “Nein, besser: seit wir im Ausland leben, bist du auf Abstand bedacht.”
Peitschenhiebe hätten nicht treffender sein können!
Meine Eltern waren vor Jahresfrist nach Spanien gezogen. Nur während der heißen Sommermonate wohnten sie hier in ihrer alten Heimat in einem kleinen Appartement, das nur für diesen Zweck angemietet war. Sie zogen für diese Zeit das milde Sommerklima Deutschlands vor, weil der andalusische Hochsommer ihnen doch zu unerträglich war.
“Warum sagst du nichts?” fragte sie und hatte jene schneidende Schärfe in ihrer Stimme, die ich hasste.
“Im Grunde genommen bist du diejenige, die mir etwas sagen will, oder verstehe ich das falsch?” wich ich aus.
“Eine Aussprache ist immer beiderseits.”
“Stimmt, aber sie war dein Wunsch. Also bitte, sag mir, was nicht richtig ist, und wir diskutieren es aus.”
Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können, und das hätte geschallt in dieser Küche, so still war es in diesem Moment. Die Luft war energiegeladen wie nie.
“Du bist komisch geworden in den vergangenen Monaten”, stellte Mutter sachlich fest.
In ihren braunen Augen schimmerte leichte Furcht. In meinem Hals wuchs ein Kloß zu unerträglichem Ausmaß heran, der mich am Sprechen hinderte.
“Na?” fragte sie.
Ich musste mich sehr heftig räuspern, um überhaupt noch einen Ton herauszubringen. Ein Gefühl, als würde ich ohne Augenbinde mit dem Rücken zur Wand einem Erschießungskommando gegenüber stehen!
“Ich verstehe nicht”, gab ich vor und wusste genau, was sie meinte.
“Ich habe das Gefühl, du willst mit uns nichts mehr zu tun haben!” stellte Mutter fest.
Volltreffer!, dachte ich. Aber durfte man mit seinen Eltern so mir nichts dir nichts einfach nichts mehr am Hute haben? Wohl eher nicht, flüsterte mir meine gute Erziehung zu.
“So kann man das nicht sagen, Mutti”, sagte ich gedehnt und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten und Argumenten, um mich zu rechtfertigen.
“So kommen wir nicht weiter!” entschied sie und setzte ihre Kaffeetasse heftig auf den Unterteller.
“Sag mir, wie sich das äußert.”
Sehr diplomatisch, lobte ich mich im Stillen.
“Du erzählst mir nichts mehr. Ich erfahre alles irgendwie später über drei Ecken. Du weichst aus, wenn ich über deinen Bruder sprechen will. Und in Unterhaltungen über deine Schwester bist du reserviert und gefühllos. Deine Kinder melden sich überhaupt nicht mehr, zumindest dein Ältester! Das ist doch wohl komisch, oder wie würdest du das bezeichnen?”
Wow! Sie hatte in wenigen Sätzen die Fakten auf den Tisch geschmissen und mehrfach das Schwarze getroffen. Die vier Kandidaten des Erschießungskommandos hatten ganze Arbeit geleistet und sich einen Ehrenplatz in der Scharfschützengarde verdient.
Der Kloß machte sich wieder breiter und hinderte mich am Sprechen. Am liebsten hätte ich jetzt losgeheult, aber für so was hatte Mutti ja kein Verständnis. Sie würde ihre Mundwinkel nach unten ziehen, schmallippig mit scharfem Blick mein Verhalten verurteilen. Also schluckte ich heftig und sagte:”Ja. Weil ich den Eindruck habe, dass ich dich gar nicht wirklich interessiere. Ich bin nicht das Kindermädchen meines Bruders, ich kann meine Schwester in ihrer Entscheidung verstehen und akzeptieren und ich finde, dass du dich nur selbst und das ganz bewusst mit der Situation quälst. Mein Ältester meldet sich nicht bei dir, weil er als Gast nicht erwünscht ist und in einem Appartement wohnen soll, weil “ihr macht das nicht noch mal mit” - was auch immer das gewesen sein soll. Also was wundert dich meine Reserviertheit?”
Donnerwetter! Es war gesagt, nicht begründet, aber ausgesprochen!
Fragezeichen im Gesicht meiner Mutter.
“Natürlich interessierst du mich!” entrüstete sie sich.
“Das hätte ich an deiner Stelle jetzt auch gesagt”, konterte ich. “Ich höre deine Worte, aber ich empfinde es nicht so.”
“Und dein Bruder braucht jemanden wie dich. Du kennst seine Probleme seit dem Unfall.”
“Ich bin nicht sein Kindermädchen!” sagte ich. “Immer ist deine zweite Frage, ob ich was von ihm gehört habe, ob er bei mir ist oder ob er mal wieder gegen deinen Willen zu seiner verheirateten Freundin gefahren ist. Er ist erwachsen und kann tun und lassen was er will. Seine Konzentrationsprobleme scheint er gut im Griff zu haben, solange er sich frei fühlt.”
“Das ist ihm doch alles nicht bewusst! Ich mache mir lediglich Sorgen.”
Ich lachte, aber nicht von Herzen.
“Du fragst mich nach ihm und ihn nach mir! Weißt du, wie ich das nenne? Kontrollsucht!”
“Du tust mir unrecht!” schimpfte sie beleidigt. “Wie sollte ich über eine Entfernung von zweieinhalbtausend Kilometern hinweg Kontrolle ausüben wollen. Das ist ja lachhaft!”
“Du schaffst das!” sagte ich “Du tust es doch! Telefonisch! Das macht dir keiner so schnell nach!”
“Das ist lächerlich!”
“Ich glaube, es macht dich beinah krank, dass du nicht mehr hier bis und deinen Sohnemann betüddern kannst. Den hast du doch immer als Augenstern in Watte gepackt.”
Mutter schnappte nach Luft.
“Was soll denn das jetzt heißen?!”
“Genau was ich sagte! Der hatte jede Narrenfreiheit, weil „es ein Junge war“. Wie oft hast du für den die Kohlen aus dem Feuer geholt?”
“Ich habe geholfen, wenn es notwendig war! Das ist alles.”
“Nein, für uns hast du das nicht getan”, warf ich ihr vor.
“Ihr wart doch ganz anders. Mit euch hatte ich keine Probleme! - Na ja, mit deiner Schwester damals, eine Zeitlang war sie schwierig. Aber das ging ja auch glimpflich aus.”
Sie litt wie früher schon unter partieller Amnesie, wenn es darum ging, einmal ihre Fehler aufzudecken. Gar nicht mal, um ihr einen Strick draus zu drehen, ihr Vorwürfe zu machen, nein, einfach, um die Dinge mal zur Sprache zu bringen. Fehler machten wir doch schließlich alle.
Aber Mutter war stets die Ausnahme - auf jeden Fall.
“Stimmt, wir haben andere Probleme gehabt. Die meisten hast du nicht sehen wollen und das eine, an dem du nicht vorbei gekommen bist, wolltest du einfach nicht wahrhaben.”
Im gleichen Augenblick hätte ich mir die Zunge aus dem Hals reißen können, dass ich das gesagt hatte! Verflixt und zugenäht! Sicher würde sie jetzt bohrende Fragen stellen!
“Sag mir mal bitte, was das gewesen sein soll?” forderte sie.
Na, bitte! Amnesie vom Feinsten! Und ihre Frage bohrte nicht, aber ihr Blick aus jetzt beinahe schwarz wirkenden Augen. Autsch!
Ich druckste herum. Zum einen war es peinlich, darüber zu reden, zum andern lag die Sache so unendlich viele Jahre zurück und außerdem würde sie wieder alles verharmlosen, ja abstreiten. So schwieg ich und bockte.
Endlos lange Sekunden verstrichen, und meine Mutter blickte mich noch immer wartend an. Bevor ich etwas sagen konnte, dämmerte es ihr.
“Das glaube ich jetzt nicht!” sagte sie. “Das Thema ist doch schon ewig abgehakt. Für eure Träume konnte euer Bruder nun wirklich nichts.”
Ich schüttelte den Kopf.
“Es ist wirklich nicht zu fassen, Mutti!” sagte ich mit leicht spöttischem Unterton. “Du nimmst ihn immer wieder in Schutz! Vielleicht hätten wir damals warten sollen, bis er sich an einer von uns vergeht? Mhm, wie hätte dir das gefallen? Aber vermutlich hättest du auch das entschuldigt, uns vorgeworfen, ihm Unrecht zu tun, der Ärmste schlafwandelt ja nur und überhaupt bilden wir uns das alles nur ein!”
“Jetzt gehst du aber entschieden zu weit!” empörte sie sich.
“Nein, ich gehe noch weiter: du hast uns verraten! Du hast uns als Lügnerinnen hingestellt! Hast du eine Ahnung, wie weh das tut, wenn die eigene Mutter in so einer brisanten und peinlichen Angelegenheit nicht zu einem steht?”
Mutter schüttelte den Kopf, nein, das verstand sie nicht.
“Das ist schon so lange her”, wollte sie die Sache herunterspielen. “Ich weiß nicht mehr, wie das damals war.”
“Auch das hätte ich jetzt an deiner Stelle gesagt. Aber auch wenn die Sache noch so weit zurück liegt, läuft sie mir heute noch nach. In jeder Frage, die du nach deinem Sohn stellt, in jeder Bitte an mich, dass ich mich um ihn kümmern soll, kocht die Angelegenheit wieder hoch, und ich muss meine innere Abwehr überwinden. Ich muss mir einreden, meinen Bruder gern zu haben, weil er mein Bruder ist. Eigentlich erstaunlich, dass es tatsächlich funktioniert!
Aber das ist der Grund, warum es mich nervt, wenn du bei mir anrufst, dich beklagst, dass ich mich nicht melde und in der nächsten Frage sofort wissen willst, was mit deinem Sohnemann los ist.”
“Jetzt gehst du wirklich zu weit!” protestierte meine Mutter, griff zur Zigarettenschachtel und zündete sich wütend einen Glimmstängel an. Außerdem beklage ich mich nicht, ich stelle lediglich fest, dass es so ist. Und rede dir nicht so einen Blödsinn ein, dass du dich überwinden musst, dich um deinen Bruder zu kümmern. So ein Unfug! Ihr seid schließlich Geschwister!”
Darüber konnte ich momentan nur innerlich lachen.
Eine Weile schwiegen wir beide, und ich hoffte, Mutter würde die Unsinnigkeit dieser Unterredung erkennen und wir könnten das Gespräch einfach beenden, da es meiner Meinung nach doch zu nichts führen würde.
“Also lassen wir doch die alten Geschichten mal ruhen”, lenkte sie versöhnlicher ein. “Ist doch viel zu lange her!”
“Mag sein. Aber die Verletzungen sind nicht verheilt, Mutti, und wir können uns noch so sehr bemühen, durch irgendwelche Kleinigkeiten kommen sie immer wieder ans Tageslicht.”
“Verletzungen?!” sagte meine Mutter geringschätzig. “Wir machen doch alle Fehler.”
“Sicher. Aber wir sollten dazu stehen. Du versuchst dagegen immer nur, die Dinge so zu drehen, dass du im guten Licht dastehst. Aber ein einfaches: ich habe einen Fehler gemacht, es tut mir leid und ich entschuldige mich, das scheint für dich nicht zu existieren.”
“Und was ist mit deiner Schwester? Die macht doch das Gleiche!”
“Meine Schwester...” sagte ich und dachte nach.
Ich konnte sie gut verstehen. Vor allem beneidete ich sie insgeheim um ihre aufrichtige Entscheidung, mit uns allen zu brechen und ihr eigenes Leben zu führen. Sie machte nicht einfach weiter und verdrängte, was ihr Probleme bereitete. Sie hatte einen Schlussstrich gezogen und sich damit der ständigen Konfrontation ein für alle mal entzogen.
“Manchmal beneide ich sie”, gestand ich.
“Was?” fragte meine Mutter entgeistert. “Sie tritt uns alle mit Füßen und du... beneidest sie?”
“Ja. Sie hat einen Strich unter unsere so genannte Familie gezogen, dem ganzen Schlammassel den Rücken gekehrt und sich ihr Leben mit Mann und Kind eingerichtet. - Sie ist ehrlich und scheint ohne uns glücklich zu sein.”
“Ehrlich”, äffte meine Mutter mich nach. “Rücksichtslos. Herzlos. Das trifft es wohl eher!”
“Ich will das nicht verurteilen. Es ist jedermanns freier Wille, sein Leben zu gestalten wie und mit wem er möchte. Ich habe ihr in meinem Brief vor drei Jahren die Wahl gelassen, und sie hat sich offensichtlich gegen mich entschieden. Das muss ich akzeptieren. Du solltest das auch.”
“Wir sind aber eine Familie”, beharrte sie energisch. “Wenn meine Mutter das erlebt hätte...! Die hätte auf den Tisch gehauen...”
“... und genau so wenig Erfolg gehabt in der heutigen Zeit!” vollendete ich ihren Satz, bevor sie sich wieder lang und breit über ihre Heldenmutter auslassen konnte. “Die Zeiten sind anders und Familie hat heute einen anderen Stellenwert. Wir haben schon oft darüber gesprochen, Mutti. Blut mag ja dicker sein als Wasser, aber wenn Familie ausschließlich aus faulen Kompromissen erhalten bleibt um des lieben Friedens Willen, dann danke ich bestens!”
“Es gibt durchaus glückliche Familien, da funktioniert das!”
“Ich weiß! Da fliegen dann manchmal beiderseits so richtig die Fetzen! Da gibt es Reibung in der Konfrontation der Gemüter! Und anschließend gibt es eine warme Versöhnung! Das Gewitter hat die Luft geklärt, man hat sich ausgesprochen, Aggressionen abgebaut und wenn es richtig gut gelaufen ist, kann man in der klaren Luft mit ruhigem Gemüt in Ruhe über die Kontroversen sprechen. Ist eigentlich ganz einfach!”
“Was heißt das denn jetzt?”
Ich fühlte mich mittlerweile einigermaßen gut in dem Gespräch. Meine Argumente wurden gehört und Mutti verlangte Erläuterung, das war mir wichtig, wenn wir schon an diesem Tisch saßen.
“Bei uns gab und gibt es so etwas nicht, Mutti. Wir durften, solange wir leben, nicht aufbegehren, nicht trotzen und am besten gar nicht erst anderer Meinung sein. Immer Friede, Freude und Eierkuchen! Eine schöne, harmonische Familie! Super-Familie!
Aber im Sumpf verdrängter Konflikte gärt es unaufhörlich. Im schlimmsten Fall bricht sich das ganze Bahn. Oft genug unkontrolliert, und dann kommt es zur Katastrophe. Was glaubst du, woher die Amokläufer kommen?”
“Ach, du spinnst ja!” schnaubte Mutti verächtlich. “Genau wie Amokläufer wohl einfach nicht alle Tassen im Schrank haben.”
Ich zuckte die Achseln. Das wurde ja nun auch zu psychologisch.
“Ich will nur sagen, dass wir nicht fähig sind, eine Auseinandersetzung zu leben. Bestes Beispiel ist meine Schwester. Sie steht mit dem Rücken an der Wand, an die wir sie genagelt hatten und sieht die einzige Chance, dem Druck zu entkommen, in der Flucht von uns und der Situation. Nichts wie weg! Erinnere dich, wie sie diesen Raum hier verlassen hat. Wie ein Reh, das durch das bloße Knacken eines Astes aufgeschreckt die Flucht ergreift.”
Mutter drehte unaufhörlich die Zigarettenpackung um.
“Wir sind vom Thema abgekommen”, stellte sie fest und starrte auf die Tischplatte.
“Ja, aber das liegt daran, dass an der Lage von heute der gesamte Lauf unserer Geschichte beteiligt ist. Bevor der Karren im Morast festgefahren ist, hat er meistens doch eine gewisse Wegstrecke zurückgelegt.”
“Und wieso will dein Sohn uns nicht besuchen? Der lässt ja nicht mal von sich hören, wenn er Geburtstag hat. Soll ich dir jetzt das Geld schicken, das ich ihm schenken will? Ich hab nicht mal seine Adresse, seit er bei dir ausgezogen ist.”
Mutter war sauer.
Auch so eine Sache! Ich hatte meine beiden jüngeren Kinder im Frühjahr nach Spanien geschickt. Mein Sohn brachte die Geschichte mit, dass die Großeltern beim nächsten anstehenden Besuch meines Ältesten, diesem ein Appartement mieten wollten. “...weil, das machen wir nicht noch mal mit”, sollen sie gesagt haben.
Tagelang war ich sauer und überlegte, ob ich mit meiner Mutter darüber sprechen sollte. Aber ich glaubte genau zu wissen, wie sie reagieren würde. Erste Möglichkeit, sie würde meinen Zweitältesten als Dummkopf hinstellen, der etwas nur falsch interpretiere, zweite Möglichkeit: sie würde überhaupt abstreiten, darüber gesprochen zu haben. In der Ahnung, welche Diskussionen ein Gespräch darüber zur Folge haben würde, ließ ich die Sage auf sich beruhen.
Als mein Ältester über einen Urlaub bei den Großeltern sprach, sah ich mich gezwungen, die Geschichte zu erzählen. Natürlich unter dem Vorbehalt, dass ich unsicher sei, wie es wirklich gelaufen war.
Zwei Gelegenheiten, mit meiner Mutter in einem Telefonat darüber zu sprechen, hatte ich ausgelassen, aus Angst vor einem Streit. Und nun konnte ich offensichtlich nicht ausweichen.
“Also?” fragte sie. “Was ist?”
Ich holte tief Luft. Wenn wir schon mal dabei waren, alle Karten auf den Tisch zu legen - bitte, dann eben alle!
“Schön, Mutter, reden wir Tacheles!”
Sie schoss in ihrem Stuhl hoch, bis sie kerzengerade saß und schaute mich erwartungsvoll an.
“Hast du mit meinem Zweitältesten darüber gesprochen, dass sein Bruder in einem Appartement einquartiert wird, wenn er euch besuchen will? Weil ihr das - was auch immer das ist - nicht noch mal mitmachen wollt?”
Schweigen.
Mutter schien verunsichert.
“Na?”
“Ach, da hat dein Sohn etwas missverstanden... “
”Ich hab’s gewusst!” sagte ich und schlug mit der Faust leicht auf den Tisch. “Oder hast du vielleicht gar nichts gesagt?”
Mutter errötete unter ihrem fahlen Teint.
“Weißt du, Mutter”, begann ich. “Es ist schon katastrophal für mich! Ich stecke so sehr in dir oder du in mir, fast wie eine zweite Haut, dass ich genau weiß, wie du denkst, warum du sagst und tust, was du tust und wieso du die Dinge siehst, wie du sie sehen willst. Es ist entsetzlich! Wenn du traurig schaust, fühle ich mich schuldig! Wenn du sauer schaust, fühle ich mich schuldig! Und vieles in unserer Beziehung nehme ich einfach hin, weil ich so genau weiß, warum du so und nicht anders handeln kannst. Und weil es sowieso keinen Zweck hat, mit dir zu diskutieren. Du siehst nur dich selbst und immer in der Opferrolle. Die Welt draußen ist böse. Das Böse in deiner Familie hältst du für die da draußen immer hübsch unter einem Deckel aus deinem Phantasiegebilde von Harmonie...
Und ich kann dich so gut verstehen. Aber die Last, die es mir bereitet, erdrückt mich oft. Und dann will ich nur noch weg von hier, weg von dir und am liebsten weg von mir! Raus aus meiner Haut!”
“Und wozu bist du dann noch hier? Mach es doch wie deine Schwester!”
“Das kann ich nicht. Das will ich auch nicht. Ich suche immer noch nach einem Weg für uns, für mich, damit wir klarkommen. Denn eines ist sicher: wir können hingehen wo wir wollen, wir werden uns nicht von uns selbst entfernen.”
Meiner Mutter schossen die Tränen in die Augen. Ich stand auf und ging um den Tisch herum. Meine Arme legte ich um ihre Schultern und ließ sie weinen. Doch ich fühlte ihre Abwehr, ihre Blockade, sich einfach mal gehen zu lassen. So fing sie sich schnell wieder, raffte sich auf, putzte die Nase, trocknete die Tränen.
“Und was jetzt?”
“Vielleicht brauchen wir noch viele solcher Gespräche?” sagte ich nachdenklich.
“Darauf kann ich gut verzichten!” grollte sie.
“Mit sich selbst konfrontiert zu werden ist immer schmerzhaft. Es braucht Mut, aber es lohnt sich!”
“Das bezweifle ich.”
“Lassen wir es gut sein für heute, bitte, wir kommen nicht weiter, wenn wir alles auf einmal bewältigen wollen. Aber vielleicht verstehst du mich ein wenig besser, jetzt wo ich dir so viel gesagt habe, was ich all die Zeit zu verdrängen suchte. Ich möchte, dass wir uns gut verstehen, denn ich habe dich gern, Mutti. Daran wird sich nichts ändern, fürchte ich.”
Ein unsicheres Lächeln huschte über ihr Gesicht.
“Ist das so schrecklich?”
“Nein, aber nicht einfach.”
Wir umarmten einander. Es war eines von noch vielen Gesprächen, das wir führten, um uns besser kennen zu lernen, obwohl wir schon über vierzig Jahre miteinander bekannt waren.

© 2001 angelika fleckenstein

 

Hi Angie!
Da niemand einen Kommentar zu deiner Geschichte schreibt versuch ich's jetzt einfach mal.
Zuerst einmal fand ich die Überschrift nicht unbedingt gut, weil mir der Ausdruck "Tacheles reden" nichts gesagt hat, was allerdings auch nur an mir liegen kann.
Der Anfang hat mir gut gefallen, dieses Aussprechen was am Ende nur ein Wettbewerb ist wer länger schweigen kann, und bei dem einer eigentlich nicht unbedingt für die Aussprache ist hast du finde ich ganz gut getroffen.
Was mich stört ist, dass viel der wörtlichen Rede sehr gestelzt und nicht wirklich realistisch wirkt.
V.a. mit dem Satz kann ich nichts anfangen:
"“Mit sich selbst konfrontiert zu werden ist immer schmerzhaft. Es braucht Mut, aber es lohnt sich!”" 1. fasst der Satz mehr oder weniger die Moral der Geschichte zusammen 2. Ist die Hauptperson ja am Anfang selber einer Konfrontation ausgewichen, woher kommt jetzt der Sinneswandel? 3. klingt es nicht so was jemand in einem Gespräch sagen könnte
Außerdem finde ich könnte man deine Geschichte an manchen Stellen kürzen. Was mich persönlich auch stört, ist dass kein Vorwurf gegen die Mutter wirklich ausformuliert wird, d.h. der Leser bekommt eigentlich keine Hintergrundsinformation. Ich glaube Rückblenden hätten den Leser informiert und das ganze lebendiger gestaltet.
Trotzdem hat habe ich deine Geschichte gern gelesen. Ich hoffe du kannst etwas mit meiner Kritik anfangen.
Sonnige Grüße
Cathy

 

Zu Ihrer Geschichte "Lass uns Tacheles reden, Mutter"

Guten Tag Frau Fleckenstein,

ich habe heute durch Zufall Ihre Geschichte gelesen, und muss sagen, dass sie mir sehr gefallen hat. Auch den Titel finde ich sehr passend zu Ihrer Geschichte, ganz einfach, weil die "Ich-Erzählerin" genau das mit ihrer Mutter tut.

Man merkt, dass Sie sich bei Ihrer sehr viel Mühe gegeben und sich darüber sehr viele Gedanken gemacht haben. Aber dennoch muss ich etwas an Ihrem Werk kritisieren: Das Ende war ein wnig zu kurz und zu abrubt. Ich hätte gerne noch ein wenig mehr über die Protagonisten in Ihrer Kurzgeschichte erfahren, um die Gedanken der Tochter besser verstehen zu können.

Sonst war die Geschichte alles in allem ein gelungenes Werk, das ich selbst hätte nicht besser schreiben können.

Mit freundlichen Grüßen,

Schtscherbakow

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom