Regen
Er saß am Fenster. War gerade wieder aus seinen Gedanken erwacht. Er nahm einen Schluck Kaffee aus dem Becher. Der war schon kalt. Ekeliger, kalter Kaffee. Er spuckte ihn zurück und verzog das Gesicht. Anscheinend hatte er länger nachgedacht. Vorhin war der Kaffee noch heiß. Alles wird mit der Zeit kälter. Nicht nur der Kaffee, dachte er. Vorhin war er noch heiß.
Er mußte kurz lächeln.
Dann blickte er wieder nach draußen. Es regnete. Im Fensterglas spiegelte sich sein Gesicht. Er schaute in traurige Augen. Und konnte nichts tun.
Noch zehn Minuten.
Die Zeit verlief zähflüssig, aber viel zu schnell für ihn. Er wollte nicht gehen. Er wollte wirklich nicht, aber er stand auf. Wie in Trance sammelte er Schuhe, Mantel und die anderen Utensilien zusammen.
Er trat aus der Wohnung, schloß die Tür ab. Drehte sich um, ging langsam die Treppen hinunter. Hinaus auf die Straße.
Im Vorbeigehen las er Phrasen ohne Bedeutung. Nummernschilder von Autos. Werbeplakate, Graffiti.
>NO MORE PAIN<
Die Hauswand war mal weiß, dachte er. Nichts hat Bestand. Irgendwer kommt immer und macht alles kaputt.
Er lächelte leise über seinen eigenen Pessimismus.
Schwere, dicke Tropfe zerplatzen auf dem Asphalt und strömten in Bächen die Straßen und Gehwege hinab.
Seine Haare waren völlig durchnäßt. Regen lief über sein Gesicht, Wangen und Hals, hinab in den weichen Stoff seines Mantels. Aber es war nicht mehr weit.
Er bog in die Seitenstraße ab, ging schweren Schrittes an den Häusern vorbei. Gleich kam der verdorrte Baum, darunter die Bank. Der rote Volvo vor dem häßlichen Haus. Wenigstens das hat sich nicht verändert, dachte er und lief weiter.
Der Mantel hatte sich mit Regenwasser vollgesogen und zog schwer an seinen Schultern.
Er kannte jedes Haus, jeden Baum und jedes Auto in dieser Straße. Auch an andere Dinge konnte er sich noch immer gut erinnern. Früher war er diesen Weg oft gegangen. Fast jeden Tag. Manchmal sogar zweimal. Aber ob es damals geregnet hatte, wußte er nicht mehr.
Nun regnete es und das war gut so.
Vor dem Eingang eines großen Reihenhauses blieb er stehen. Den Klingelknopf fand er blind. Der zweite von oben. Von oben links.
Er zögerte. Ein dicker Klos befand sich in seinem Hals, als er schließlich auf den Knopf drückte. Er wartete nur kurz, dann ertönte das vertraute Summen und der Türgriff ließ sich drehen.
Er trat ein.
Das Treppenhaus hatte einen neuen Anstrich bekommen. Das merkte er sofort. Früher war es leicht bräunlich, jetzt hatte es einen bläulichen Schimmer. Alles wirkte heller, aber gleichzeitig kalt und fremd.
Zweiundzwanzig Stufen waren es bis zur Wohnung. Er schritt sie langsam hoch. Der Klos in seinem Hals wurde größer. Mit jeder Stufe wuchs er ein Stückchen weiter. Er wollte umkehren. Er wollte es wirklich, aber er ging weiter.
Jetzt stand er vor der Tür. Ein zaghaftes Klopfen.
Ihre Stimme.
„Hallo!" rief sie fröhlich durch die Tür. „Bist du es?!...Wo habe ich nur den Schlüssel versteckt!"
Das war zu viel. Tränen rannen seine Wangen hinab, vermischten sich mit den Regentropfen, die aus dem Haar sein Gesicht herunterperlten.
„Gefunden!" Sie lachte. „Warte, ich schließe dir auf!"
Ein kurzes Klicken und die Tür war offen. Sie lehnte grinsend im Türrahmen und gebot ihm mit einer theatralischen Geste die Wohnung zu betreten.
„Hallo", flüsterte er kaum hörbar. „Danke für die Einladung."
Sie hatte eine neue Frisur. Kürzer und brauner. Sie sah damit sehr gut aus.
„Lange nicht gesehen, was? ...Komm, ich nehme dir den Mantel ab." Sie machte einen Schritt auf ihn zu und schaute für einen Moment kritisch in sein Gesicht.
„Was ist los mit dir?! Geht es dir nicht gut?!"
„Doch, doch ... alles bestens. Mir geht es sehr gut. Danke der Nachfrage..." Er zwang sich zu einem breiten Grinsen.
Sie hatte auch ein neues Parfum. Es roch süßlich, nach Vanille und Zimt. Es paßte gut zu ihr.
Mißtrauisch blickte sie ihn an. „Du siehst irgendwie traurig aus.", befand sie.
„Ach, das ist nur der Regen!" wehrte er ab. „Ich bin klitschnaß..."
„Ich hol dir ein Handtuch!" fiel sie ihm ins Wort und lief ins Badezimmer.
Er sah in den kleinen Flur. Alles hatte sich verändert. Er fühlte sich wie ein verstaubtes Relikt. Jemand, der hier nicht mehr hineinpaßte.
Er hatte sich nicht verändert. Er würde sich nie ändern. Er liebte sie noch immer.
Aus der Küche vernahm er bekannte Stimmen. Das waren ihre Freunde.
Und ihr neuer Freund.
Menschen, die auch er einmal gekannt hatte, Menschen, mit denen er einmal lachen konnte.
Bei den Gedanken an die Vergangenheit krampfte sich sein Magen zusammen.
Er konnte es nicht. Er konnte nicht hierbleiben. Er gehörte nicht mehr dazu.
Langsam drehte er sich um und ging die Stufen hinunter. Er war schon fast unten angekommen als sie seinen Namen rief.
„Ich hab was vergessen!" rief er zurück.
„Na dann, bis später! Viel Spaß im Regen!" war ihre fröhliche Antwort.