Regen
„Fuck! Fuck! God’s sake!“ schreie ich, während ich die beiden ‚s’ von ‚god’s’ und ‚sake’ so verbinde und betone, dass daraus ein einziges hartes, fetzendes ‚s’ entsteht. Ich kicke gegen eine Tonne und sie kippt zur Seite. Müll verteilt sich auf der Straße und zwei Dosen kullern in trauter Zweisamkeit ein Stück die Straße hinunter, bis sie schließlich im verdreckten Rinnstein liegen bleiben.
„Recht so!“ sagt mein Freund und betrachtet die Papierfetzen, Plastikbecher und Bierflaschen, über die ich wütend und zitternd hinwegsteige. Er hat die Hände tief in den Taschen vergraben und seine Baseball – Mütze weit in das Gesicht gezogen, doch unter dem Schild sehe, spüre ich geradezu, wie mich seine grünen Augen nachdenklich und auch etwas besorgt mustern.
„Verstehe ich.“ Ein Feuerzeug klickt und eine Zigarette beginnt zu klimmen. Er reicht sie mir mit lang gestrecktem Finger und ich ziehe gierig und stark und spüre, wie der warme, giftige Rauch in meine Lungen strömt und doch, oder vielleicht gerade deswegen beruhige ich mich. Zitternd lehne ich mich an die Plexiglaswand der S - Bahn – Haltestelle, der Endstation auf dieser Linie und blicke auf meine Füße.
Es ist tiefdunkle Nacht, und diesmal, im Unterschied zu den anderen Nächten der letzten Wochen, zeigen sich keine Sterne am Himmel. Auch der Mond ist nicht zu sehen, und es ist noch nicht einmal sehr lange her, dass sie prüfend die Luft einsog und behauptete, es würde bald Regen geben. Ich musste damals lächeln und legte meinen Arm um sie und sie kuschelte sich tiefer und seufzte, als ich ihr sanft über die Haare strich.
Es hatte nicht geregnet, jedenfalls noch nicht und irgendwie, nach diesem Abend, nach dieser Nacht, fühle ich mich an den Film „Magnolia“ erinnert und ich blicke nach oben, so als könnte ich schon die ersten Frösche und Kröten herunterfallen sehen.
„Kennst du „Magnolia““?
Er zieht an seiner Zigarette und antwortet dann, unendlich langsam.
„Nein. Was soll das sein?“
„Es ist ein Film. Ein ziemlich guter Film sogar.“ Ich warte auf eine Antwort, doch sie bleibt aus.
„Die Situation, weißt du, die Situation ist dieselbe.“ Er schweigt und steht abwartend da, die Mütze immer noch sehr tief in das Gesicht gezogen. Ich richte mich auf und schaue in die Plexiglasscheibe und durch das schwache Licht einer nahen Straßenlaterne sehe ich mein Spiegelbild, das von seinem wabernden Schatten überlagert wird.
„Hattest du nicht auch schon mal das Gefühl, dass sich alles häuft? Dass alles auf einen einzigen Punkt, nämlich Zeitpunkt, hinausläuft. Dass sich all die Dinge, auf die du schon Ewigkeiten lang hinarbeitest, sich plötzlich ergeben?“
Immer noch schweigt er und hustend werfe die Zigarette in das Gebüsch.
„Es ist wie ein Knoten, den man sich selbst zusammen bindet, und den man dann nicht mehr aufbekommt und dann durchschneiden muss.“
„Das erinnert mich an was.“ Seine Stimme war leise und vielleicht etwas zu kontrolliert. „Hat glaub ich was mit Alexander dem Großen und Delphi zu tun.“ Verzweifelt wringt er seine Hände, die Zigarette als qualmendes Häufchen Asche schräg im Mundwinkel.
„Du erwartest es nicht und trotzdem passiert es. Meistens löst sich der Knoten völlig lautlos, doch manchmal…“ und hier drehe ich mich um und versuche in sein Gesicht zu blicken, „…gibt es einen riesigen Knall und alles explodiert und fällt in sich zusammen.“
Er hat sich nicht gerührt, nur seine Zigarette glimmt und erhellt schwach die Züge seines eingefallenen, schmalen Gesichts. Es macht mich wütend, dieses Gesicht.
„In Magnolia beginnt es, als sich der Knoten löst, Frösche und Kröten zu regnen. Sie fallen einfach vom Himmel, platzen auf und verwandeln die Straßen und Gehwege in glitschige, schleimige Rutschbahnen. Und all die Charaktere, die sich in diesem Film begegnen, werden mehr oder weniger durch diesen Regen beeinflusst. Aber das Lustige an der ganzen Sache ist, dass es diesen Menschen dann danach, irgendwie, besser zu gehen scheint.“
„Ich kenne, ihn, Magnolia. Den Film. Hab ihn doch schon einmal gesehen.“
Er gibt sich einen Ruck und kommt auf mich zu. Hilflos nimmt er mich in die Arme und gibt mir eine kurze, männliche Umarmung. Ich lasse es zu, denn mein Widerstand war schon zu dem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden, als ich vor Wut kochend aus dem Club herausgestolpert kam und ihm das Auge blau schlug, das ich jetzt, als er mir so nahe ist, deutlich verquollen unter dem Schirm der Baseball – Kappe erkennen kann.
„Entschuldigung. Ich kann nichts dafür.“
Er tritt einen Schritt zurück und verzieht das Gesicht, als erwarte er einen weiteren Angriff. Ich muss lächeln.
„Ist in Ordnung. War sowieso allerhöchste Zeit, dass so etwas passiert.“ Und ich gehe auf ihn zu, und klopfe ihm auf die Schultern. „Und wenigstens bist du es, dem das passiert. Hatte in letzter Zeit sowieso schon viel zu viele Probleme. Da ist so ein Regen wohl notwendig, zur Abkühlung.“
Er gibt mir die Hand und sein Händedruck ist stark und freundschaftlich.
„Sehen wir uns morgen?“
„Klar. Muss noch Mediävistik abschreiben und ‚Hobbes’ hab ich auch noch nicht durch.“
„Ich auch nicht. Können uns ja zusammen in die Cafeteria setzen oder draußen eine rauchen.“
Er geht und auch ich gehe nach Hause. Meine Wut ist vollkommen verflogen und auch nicht dem flauen Gefühl gewichen, das man, nachdem sich das Adrenalin im Körper verlaufen hat, ansonsten tief im Magen spürt. Ich fühle mich wohl und als ich dann im Bett liege und das leise Prasseln des Regens hören kann, der gegen mein Fenster klopft, bin ich weder überrascht noch traurig, sondern ganz einfach zufrieden.