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Regen
Regen
Die Dunkelheit hinter der Scheibe lies nichts erkennen. Nur die am Fenster klebenden Regentropfen waren zu sehen, beleuchtet von dem kalten Licht im Wagen.
Sie schienen ein Eigenleben zu haben. Neben den kleinen Perlen fing ein größerer Tropfen an sich nach unten zu hangeln. Er hielt sich an den kleinen fest und schloss sie in sich ein, bis er immer größer und schwerer wurde, bis er schließlich mit beschleunigter Geschwindigkeit nach unten tropfte und von der Bildfläche verschwand.
Immer wieder blieb die Bahn stehen, um -wenn überhaupt- ein oder zwei Menschen in den Regen zu entlassen. Die Schwärze schien sie zu verschlucken, sobald sie aus der Tür traten.
Er wendete sich lieber wieder den Regentropfen zu. Sie waren so sehr mit dem Hinunterklettern und Rutschen beschäftigt, dass sie nichts von der Kälte innerhalb des Wagens mitzubekommen schienen. Er strich langsam mit seinen Fingern über das Glas, versuchte den Regentropfen zu folgen, sie in seine Richtung zu zwingen. Er mochte seinen Blick nicht wieder auf die leeren, grauen Sitze wenden, auf die gelbblassen, kalten Stangen. Sie waren ihm zuwider, bedeutungslos und leer. Der ganze Raum war voll von dieser Leere, die ihn zu erdrücken schien. Das kalte Licht, der kalte Boden, der Fahrscheinautomat - wie aus eine anderen, fremden Welt. Ekel vor dieser nackten Ignoranz ihm, als Mensch gegenüber, stieg in ihm auf.
Er stellte sich vor, wie er sich langsam in ein Ungeheuer verwandeln würde. Seine Muskeln würden wachsen, das Gesicht würde sich zu einer hässlichen Fratze verzerren, die Haare wild vom Kopf abstehen. Sein Hemd würde dem Druck der Muskelmassen nicht standhalten können und aufreißen. Die letzten Fahrgäste würden mit angsterfüllten Augen zu ihm hinaufschauen. Er würde sich erheben und mit seine wuchtigen Faust in die Glasscheibe schlagen, die mit einem Ohrenbetäubenden klirren in alle Richtungen zerbersten würde. Er würde wie wild um sich schlagen, die Sitze, die grauen nichtssagenden Sitze auseinandernehmen und bis ans Ende der Bahn schmeißen, damit dieser die Leere durchschneiden konnte.
Und dann würde er brüllen. Er würde so laut brüllen, dass es die ganze Welt hören würde. Ein heiserer, hasserfüllter Schrei. Ein Schrei geboren in der tiefsten Trauer, schrill wie die Angst vor dem Nichts. Er würde schreien, so lange, bis nichts mehr von ihm übrig blieb, als ein leises Echo seiner Selbst.
* * *
Das Ehepaar drängte sich an dem jungen Mann vorbei in die Bahn. Lachend stützte der Mann seine Frau, die kichernd auf einen der vielen freien Plätze deutete. Der Mann trocknete sich die Augen und wollte gerade tief einatmen, als seine Frau ihn plötzlich in ironischer Verzweiflung ansah und sagte: "Schau mal, es hat reingeregnet!". Sie zeigte auf die Tropfen, die an der Innenseite der Scheibe nach unten tropften.