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Reise

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24.08.2007
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Reise

Die Wörter treffen mich wie Schläge, setzen mich außer Stande, die E-Mail richtig zu lesen; ich erfasse nur grob ihre Aussage. Noch während ich seine Nummer wähle, weiß ich, er wird nicht abheben. Meine Hand legt das klingelnde Telefon beiseite, greift hastig nach Kleidungsstücken. Während ich sie überziehe, suche ich im Internet nach der nächsten Bahnverbindung, nehme das Telefon, lege auf, wähle neu, der örtliche Taxiunternehmer meldet sich. „In zwanzig Minuten fährt der Zug“, sage ich, „kann ich ihn noch erreichen?“ – „Ich fahre sofort los!“

Als ich aus dem Haus trete, biegt das Taxi um die Ecke. Wir fahren schnell durch den dunklen Wald. In der Stadt sind kaum noch Fahrzeuge unterwegs. Der Taxifahrer betrachtet mich besorgt, wünscht mir eine gute Reise.

Der Bahnhof ist menschenleer, der Zug steht bereit, die Schaffnerin ist freundlich und verkauft mir eine Fahrkarte. Noch fünfeinhalb Stunden bis München. Der Waggon ist unbesetzt, ich setze mich irgendwo hin.

In Frankfurt Flughafen steige ich um. Am Bahnsteig stehen Urlauber mit viel Gepäck, auf den Bänken sind noch Sitzplätze frei, aber ich fühle mich besser, wenn ich mich bewege. Rasch laufe ich am Bahnsteig auf und ab.

Endlich fährt der Intercity ein. Da ich keine Platzkarte habe, wandere ich durch die Großraumwagen. Sie sind voll besetzt. Die meisten Fahrgäste schlafen, liegen zwischen und auf Gepäckstücken, neben- und übereinander. Ich erreiche den Speisewagen. Er ist leer bis auf einen Mann, der auf einer Bank liegt und schläft, und einer jungen Frau auf einem Einzelplatz. Ich setze mich so, dass ich niemanden sehen kann.
Abrupt hält der Zug an. Vor den Fenstern ist alles schwarz. Nach geraumer Zeit kommt eine Durchsage, durch eine falsche Weichenstellung sei der Zug fehlgeleitet worden, müsse nun in anderer Richtung weiterfahren; die dadurch entstehende Verzögerung sei nicht zu beziffern.

Die junge Frau möchte nach Heidelberg, höre ich. Sie hat keine Fahrkarte und kein Kleingeld, nur einen 500-Euro-Schein. Der Schaffner kann nicht wechseln. So lange der Zug steht, vertreiben sich zwei Zugbegleiter mit der Suche nach einer Lösung für dieses Problem die Zeit.

Ich verfolge das Gespräch, wundere mich darüber, wie schnell man sich an eine Umgebung gewöhnen kann, und sei sie noch so unwirtlich. Es erinnert mich an einen Text, den er mir vor ein paar Tagen vorgelesen hat, als wir beieinander im Badeschaum lagen; eine wahre Begebenheit über einen Versuch mit Gefangenen.

Wir fahren wieder. Lichter gleiten vorbei. Einer der Schaffner sagt zu seinem Kollegen: „Darmstadt! Hast du gesehen, das war Darmstadt! Und jetzt ist es halb zwei.“ Ich frage, ob von der Verspätung noch etwas eingeholt werden könne, bis München. Der Schaffner schaut mich freundlich an, verneint lächelnd.

An jedem Bahnhof vergleiche ich die Uhrzeit mit dem Fahrplan. Gedanken, was ich wohl vorfinden werde, streifen mich, aber ich kann ihnen nicht nachgehen. Ich rechne mit allem, nichts berührt mich, ich will nur bei ihm sein.

Weiß und schlank steht die Mondsichel am Himmel, aus der Morgendämmerung tauchen schwarze Scherenschnitte von Giebeln und Türmen auf. Wir erreichen Augsburg mit nur noch sechsunddreißig Minuten Verspätung.

München-Pasing. Der Situation vollkommen unangemessen durchflutet mich wieder diese alles überwältigende Freude, ihn wiederzusehen. München Hauptbahnhof. Auf dem Weg zum Taxistand überlege ich kurz, ob mein Bargeld ausreiche für die weite Strecke.

Mit einer knappen Geste verweist mich der Taxifahrer an einen Kollegen. Dort will gerade eine junge Frau einsteigen. Sie schaut unsicher zu mir. „Nehmen Sie ruhig das Taxi“, sage ich, bleibe bei dem mit dem mürrischen Gesicht. Widerwillig öffnet er mir die Beifahrertür. „Könnten Sie mich nach H. fahren, bitte?“ frage ich. „Das ist außerhalb der Stadtgrenze“, sagt er.

Schließlich fährt er los. Ich betrachte ihn; er sieht genau so unwirsch aus wie das Bildnis eines bayerischen Fischers, das ich einmal gesehen habe. Trotzdem habe ich plötzlich ein Verlangen nach Wärme, danach, mich irgend einem anderen Menschen anzuvertrauen: „In dieser Nacht hat sich mein Liebling von mir zurückgezogen“, möchte ich sagen, „jetzt fahre ich zu ihm. Was, glauben Sie, wird er zu mir sagen?“ Sein Gesichtsausdruck ermutigt nicht zu Vertraulichkeiten. Ich versuche es erst einmal mit: „Sind Sie Münchner?“ – „Nein“.

Er fährt mich schweigend bis vors Haus. Ich danke ihm, und er nickt mir fast freundlich zu.
Die Gartentür ist nicht versperrt.

 
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Hallo Enigma!

Deine kurze Geschichte über die Not eines verlassenen, liebenden Menschen hat mir trotz ihrer Knappheit gut gefallen. Vor allem sprachlich fand ich einige Passagen gelungen. Stellenweise verlierst du dich mMn zu sehr in der technischen Beschreibung der Zugreise bzw. in der Komparserie. Da könntest du statt dessen den einen oder anderen Satz (mehr) zum Innenleben des Prot oder seiner Beziehung fallen lassen. Auch sein Geschlecht kommt nie zur Sprache. (Im Gegensatz zum Partner) Vielleicht wolltest du das aber auch so haben.

Ein paar Sachen zum Überdenken:

... der örtliche Taxiunternehmer meldet sich. „In zwanzig Minuten fährt der Zug“, sage ich, „kann ich ihn noch erreichen?“ – „Ich fahre sofort los!“
Unbedingt eine Zeilenschaltung bei diesem Dialogwechsel. Würde hier sogar eine knappe Dialogzuweisung schreiben.

Der Taxifahrer betrachtet mich fast besorgt, wünscht mir dann alles Gute und eine gute Reise.

"fast besorgt", würde ich überdenken. (Wie sieht das aus: fast besorgt?)
Alles Gute und eine gute Reise erscheint mir etwas zu viel des Guten zu sein.

Die Schmerzen hinter meinem Brustbein und im Magen bleiben erträglich, wenn ich mich bewege.
Hier fehlt mir der Bezug. Welche Schmerzen und warum? Sie tauchen weder vorher noch nachher auf, in deinem Text.

Weiß und schlank steht die Mondsichel am Himmel, aus der Morgendämmerung tauchen schwarze Scherenschnitte von Giebeln und Türmen auf.

Schöner Satz. :)

Auf dem Weg zum Taxistand überlege ich kurz, ob mein Bargeld ausreiche für die weite Strecke.
ausreichen wird

Mit einer knappen Geste verweist mich der Taxifahrer zu einem Kollegen. Dort will gerade eine junge Frau einsteigen. Sie schaut unsicher zu mir. „Nehmen Sie ruhig das Taxi“, sage ich, bleibe bei dem mit dem mürrischen Gesicht.
... an einen Kollegen.
Das mürrische Gesicht, wird vorher nicht erwähnt. Nur die knappe Geste.

„Könnten Sie mich nach H. fahren, bitte?“ frage ich.

... fahren, bitte?", frage ich. (Komma)

Ich versuche es erst einmal mit: „Sind Sie Münchner?“ – „Nein“.
-"Nein."
Würde auch hier eine Zeilenschaltung vorschlagen.


Gern gelesen,
Manuela :)

 

Liebe Manuela Korn,

ich danke dir ganz herzlich für die viele Mühe und Zeit, die du an meinen Text gewendet hast. Einiges habe ich deiner Anregung entsprechend geändert, mit anderem konnte ich mich nicht so recht anfreunden.

Das Bahntechnische schien mir wichtig zu sein, diese Koinzidenz zwischen der persönlichen Situation und der falschen Weichenstellung. Das Innenleben d. Prot. erkläre sich aus den Handlungen und Gedanken, dachte ich. Vielleicht ist das wirklich zu knapp und verlangt dem Leser zu viel ab.


Liebe Grüße

enigma

 

Hallo Enigma,

hatte die Geschichte gestern schon gelesen, aber keine Zeit gehabt zum Kommentieren. Manuela hat einige meiner Überlegungen aufgegriffen, den Rest versuche ich aufzuschreiben:

Als ich am Ende war, fühlte ich mich seltsam positiv angesprochen und dachte, das liegt daran, dass ich von Zeit zu Zeit die selbe Zugstrecke fahre und mich in den Details wiederfinde: Das Hängen-Bleiben, die Verspätung, das wieder Aufholen, schließlich die Ankunft in München (wobei ich mir nicht sicher bin, ob es beim ICE den Stopp in Pasing gibt).

Alle diese Details schufen eine Vertrautheit, die mich diese Schilderung in voller Länge genießen ließen, aber eben nur aus der Perspektive des Insiders heraus.

Aus allgemeinerer Sicht, stellt sich die selbe Passage so dar:

Stellenweise verlierst du dich mMn zu sehr in der technischen Beschreibung der Zugreise

Damit ist, hoofe ich, die wesentliche Problematik deiner (sowie der meisten anderen Geschichten) herauspräpariert. Die unterschieldiche Sichtweise/Bewertung durch Autor (der voll im Leben seiner Geschichte steckt) und dem Leser.

In deinem konkreten Fall ist da der/die Prot (ich habe genauso geknabbert wie Manuela, weil du männliche und weibliche Elemente geschickt gemischt hast) mit seinem/ihrem persönlichen Leid, der/die sich auf den Weg macht. Wozu bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.

Die Spannung besteht darin, dass die ganze Reise über offen bleibt, wozu die Hektik dienen soll. Der Zweck der "Komparserie" bleibt deshalb unbekannt und der suchende Leser stets bemüht aus den Details herauszulesen, worum es denn letztlich geht.

Schließlich löst du den Knoten auf, in dem ein offenes Gartentor etwas Hoffnung symbolisiert, aber eben nur ein klein wenig.

Gerne gelesen, liebe Grüße,

AE

 

Vielen Dank auch Dir, AlterEgo, für Deinen Kommentar. Ich muss jetzt nachfragen: was genau meint ihr mit "zu technisch"? Ich weiß nicht, ob ich die Anmerkung richtig verstehe, möchte es jedoch gerne wissen, damit ich daraus lernen kann.

Der IC, der in der Nacht von Sonntag auf Montag fährt, hält tatsächlich in München-Pasing. Ich fahre sehr häufig mit der Bahn, jedoch dass sich ein Zug verfahren hat, habe ich nur ein einziges Mal erlebt, eben auf dieser Strecke.

Keineswegs habe ich männliche und weibliche Elemente "geschickt gemischt" und bin nun selbst überrascht von dieser Interpretation, werde es aber jetzt natürlich offen lassen ;-)

Das "Wozu" habe ich ergänzt.


Liebe Grüße

enigma

 

Salü enigma,

einerseits die Hektik, fast Panik der/des Prot. - ich hab mich gefragt: 'Hat er oder sie überhaupt das Licht gelöscht, bevor er/sie aus dem Haus ist?' - andererseits die Detailbeschreibungen. Die Geschichte rast mit dem Intercity durch die Landschaft. Das schafft Spannung und löst bei mir die Lust nach mehr aus.
Aber es ist für mich auch so gut, weil mich der Text als solches sehr anspricht. (Ich lese einfach gleich andere Geschichten von Dir :) )
Vielleicht lösen sich manche Fragen, wenn Du die Geschichte nach 'Seltsam' verschiebst? Alltäglich ist es ja nicht, dass eine Weiche falsch gestellt ist?

Herzlich, Gisanne

 

Das Licht hat er/sie gelöscht, glaube ich, nur vergessen, die Kontaktlinsen einzusetzen *lach* - war aber nicht mehr zu ändern.

Liebe Gisanne,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ja, ein fehlgeleiteter Zug ist wirklich sehr seltsam, andererseits gibt es aber für die Leser wohl nichts alltäglicheres, als vom Liebling verlassen zu werden oder mit einem Zug zu fahren, oder? Ich will s mir gerne überlegen.


Liebe Grüße

enigma

 

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