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Reise
Die Wörter treffen mich wie Schläge, setzen mich außer Stande, die E-Mail richtig zu lesen; ich erfasse nur grob ihre Aussage. Noch während ich seine Nummer wähle, weiß ich, er wird nicht abheben. Meine Hand legt das klingelnde Telefon beiseite, greift hastig nach Kleidungsstücken. Während ich sie überziehe, suche ich im Internet nach der nächsten Bahnverbindung, nehme das Telefon, lege auf, wähle neu, der örtliche Taxiunternehmer meldet sich. „In zwanzig Minuten fährt der Zug“, sage ich, „kann ich ihn noch erreichen?“ – „Ich fahre sofort los!“
Als ich aus dem Haus trete, biegt das Taxi um die Ecke. Wir fahren schnell durch den dunklen Wald. In der Stadt sind kaum noch Fahrzeuge unterwegs. Der Taxifahrer betrachtet mich besorgt, wünscht mir eine gute Reise.
Der Bahnhof ist menschenleer, der Zug steht bereit, die Schaffnerin ist freundlich und verkauft mir eine Fahrkarte. Noch fünfeinhalb Stunden bis München. Der Waggon ist unbesetzt, ich setze mich irgendwo hin.
In Frankfurt Flughafen steige ich um. Am Bahnsteig stehen Urlauber mit viel Gepäck, auf den Bänken sind noch Sitzplätze frei, aber ich fühle mich besser, wenn ich mich bewege. Rasch laufe ich am Bahnsteig auf und ab.
Endlich fährt der Intercity ein. Da ich keine Platzkarte habe, wandere ich durch die Großraumwagen. Sie sind voll besetzt. Die meisten Fahrgäste schlafen, liegen zwischen und auf Gepäckstücken, neben- und übereinander. Ich erreiche den Speisewagen. Er ist leer bis auf einen Mann, der auf einer Bank liegt und schläft, und einer jungen Frau auf einem Einzelplatz. Ich setze mich so, dass ich niemanden sehen kann.
Abrupt hält der Zug an. Vor den Fenstern ist alles schwarz. Nach geraumer Zeit kommt eine Durchsage, durch eine falsche Weichenstellung sei der Zug fehlgeleitet worden, müsse nun in anderer Richtung weiterfahren; die dadurch entstehende Verzögerung sei nicht zu beziffern.
Die junge Frau möchte nach Heidelberg, höre ich. Sie hat keine Fahrkarte und kein Kleingeld, nur einen 500-Euro-Schein. Der Schaffner kann nicht wechseln. So lange der Zug steht, vertreiben sich zwei Zugbegleiter mit der Suche nach einer Lösung für dieses Problem die Zeit.
Ich verfolge das Gespräch, wundere mich darüber, wie schnell man sich an eine Umgebung gewöhnen kann, und sei sie noch so unwirtlich. Es erinnert mich an einen Text, den er mir vor ein paar Tagen vorgelesen hat, als wir beieinander im Badeschaum lagen; eine wahre Begebenheit über einen Versuch mit Gefangenen.
Wir fahren wieder. Lichter gleiten vorbei. Einer der Schaffner sagt zu seinem Kollegen: „Darmstadt! Hast du gesehen, das war Darmstadt! Und jetzt ist es halb zwei.“ Ich frage, ob von der Verspätung noch etwas eingeholt werden könne, bis München. Der Schaffner schaut mich freundlich an, verneint lächelnd.
An jedem Bahnhof vergleiche ich die Uhrzeit mit dem Fahrplan. Gedanken, was ich wohl vorfinden werde, streifen mich, aber ich kann ihnen nicht nachgehen. Ich rechne mit allem, nichts berührt mich, ich will nur bei ihm sein.
Weiß und schlank steht die Mondsichel am Himmel, aus der Morgendämmerung tauchen schwarze Scherenschnitte von Giebeln und Türmen auf. Wir erreichen Augsburg mit nur noch sechsunddreißig Minuten Verspätung.
München-Pasing. Der Situation vollkommen unangemessen durchflutet mich wieder diese alles überwältigende Freude, ihn wiederzusehen. München Hauptbahnhof. Auf dem Weg zum Taxistand überlege ich kurz, ob mein Bargeld ausreiche für die weite Strecke.
Mit einer knappen Geste verweist mich der Taxifahrer an einen Kollegen. Dort will gerade eine junge Frau einsteigen. Sie schaut unsicher zu mir. „Nehmen Sie ruhig das Taxi“, sage ich, bleibe bei dem mit dem mürrischen Gesicht. Widerwillig öffnet er mir die Beifahrertür. „Könnten Sie mich nach H. fahren, bitte?“ frage ich. „Das ist außerhalb der Stadtgrenze“, sagt er.
Schließlich fährt er los. Ich betrachte ihn; er sieht genau so unwirsch aus wie das Bildnis eines bayerischen Fischers, das ich einmal gesehen habe. Trotzdem habe ich plötzlich ein Verlangen nach Wärme, danach, mich irgend einem anderen Menschen anzuvertrauen: „In dieser Nacht hat sich mein Liebling von mir zurückgezogen“, möchte ich sagen, „jetzt fahre ich zu ihm. Was, glauben Sie, wird er zu mir sagen?“ Sein Gesichtsausdruck ermutigt nicht zu Vertraulichkeiten. Ich versuche es erst einmal mit: „Sind Sie Münchner?“ – „Nein“.
Er fährt mich schweigend bis vors Haus. Ich danke ihm, und er nickt mir fast freundlich zu.
Die Gartentür ist nicht versperrt.