Rekrut Holm
„Habt Acht“ hörte Holm den Hauptmann schreien und schon straffte er sich pflichtgemäß. Es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, nicht zu gehorchen. Schließlich wollte er ein guter Soldat sein. Alle wollten das. Ein guter Soldat zu sein, das war das oberste und erstrebenswerteste Ziel. Er knuffte Nr. 48140, der wieder mal kaum in die Gänge kam. Seinen richtigen Namen kannte er gar nicht, der tat allerdings auch nichts zur Sache. Ja er war richtig froh, ihn nicht kennen zu müssen. Nr. 48140 würde in der bevorstehenden Schlacht sowieso fallen. Bloß keine Sentimentalitäten. Keine persönlichen Verstrickungen. Da war es gut, wenn die Kameraden reine Nummern blieben. Nr. 48140 war etwas kleiner als er selbst, vielleicht etwas größer als Nr. 48142, wesentlich kleiner als 48143 und – na – ungefähr gleich groß wie Nr. 48139. „Zu-sammen der Klinge entgegen“ schrie Holm. „Zu-sammen der Klinge entgegen“ schrieen die Umstehenden.
Überhaupt waren die Soldaten einander äußerst ähnlich. Man hätte ruhigen Gewissens behaupten können, sie wären eine einzige, homogene Masse. Damit hätte man niemanden beleidigt. Höchstens die Individualisten und die gehörten ohnehin standrechtlich erschossen. Verräterpack, Elendiges!
Es lag eine gespannte, drückende Schwüle über dem Feld. Ein Angriff war wahrscheinlich. Die Armee war zum Kampf bereit. Oh ja, das war sie. Holm war zwar nur einfacher Rekrut, trotzdem erfüllte ihn Stolz auf diese schlagkräftige Truppe, der er angehören durfte. So viele Soldaten waren es, dass er nach vorne gar keine freie Sicht hatte. Nur ein einheitliches grünes Meer. Hervorragende Tarnung! Ganz fabelhaft! Bestens organisiert!
Nr. 48140 lehnte sich unmerklich zu Holm herüber, um ihm etwas zu sagen. Bereits das ein leichter Verstoß, der aber eigentlich nie und wenn dann nur leicht geahndet wurde.
„Glaubst du, wir gewinnen diese Schlacht, Holm“? Nervosität vibrierte in der Stimme. Es war deutlich zu hören. Der Hauptmann hätte ihm eine gescheuert. Holm war entsetzt. Angst vor dem Feind?!
„48140!“ herrschte er zurück „Reiß dich zusammen! Natürlich werden wir diese Schlacht gewinnen. Wir sind unbesiegbar!“ Dann begann er zu skandieren „Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen!“
48140 stimmte in den Sing-Sang mit ein „Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen!“ Die Parole breitete sich wie ein Lauffeuer unter den Umstehenden Soldaten aus. Hätte man die Soldaten von oben betrachtet, hätte man Wellen gesehen, die durch die Reihen der Soldaten schwappten. Denn jeder Umstehende musste – ob er wollte oder nicht - die Parole wiederholen, sobald er sie hörte. Mindestens einmal! Und jeder bewegte sich dabei ein bisschen. Das Nichtaufsagen der Parole wurde streng getadelt. Und weil es natürlich immer gefallsüchtige Mitläufer gibt, hörten manche gar nicht mehr auf, den Satz zu rufen. Und somit war eigentlich das Ganze Feld ständig in Bewegung, weil ja jeder immer antworten musste.
Nr. 48140 hasste diesen Satz so sehr. Und die Umstehenden wussten das. Das war auch nicht schwer zu hören, so lustlos und frei von Kampfgeist er es mitleierte. Natürlich verriet ihn niemand. Schlimmer als ein Verräter ist nur ein Kameradenschwein.
48140 fuhr fort. „Stimmt es, dass wir noch nie eine Schlacht gewonnen haben?“ fragte er Holm leise.
„Humbug! Lüge! Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen!“ Allgemeines Wiederholen um ihn herum. „Das sind Lügen, die der Feind verbreitet hat! Wenn der Hauptmann das gehört hätte, würde er dich streng bestrafen. Du untergräbst die Moral der Truppe! Pass auf, was du von dir gibst 48140!“
48140 war ein unguter kleiner Querkopf. Er dachte einfach nicht mit der Masse. Ein wirklich unfähiger Soldat. Eine Schande. Nun… freilich hatte auch Holm diese Geschichten gehört, dass noch keine Armee den Kampf jemals gewonnen hätte. Das immer wieder neue Armeen sinnlos dahingemetzelt wurden. Aber das konnte man doch gar nicht glauben! Lächerlich. Solch eine prächtige Armee verlieren. Das ging doch gar nicht.
„Aber die Taktik des Hauptmanns…“ hakte 48140 nach.
„Die Taktik ist wunderbar. Sie wird uns zum Sieg führen, verdammt noch mal“ fiel ihm Holm sofort ins Wort. „Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen!“
Diesmal hatte Holm die Parole nur wiederholt.
„“Sich dem Feind stellen“ soll eine gute Taktik sein“? Aber – Zu-sammen der Kinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen“ – das ist doch dürftig!
„Verflucht! 48140! – Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen! – der Hauptmann – Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen! - weiß was er tut und…
Holm hielt inne und auch 48140 wurde ruhig. Immer öfter und immer lauter wurde die Parole gerufen. Jetzt wurde jede Unterhaltung unmöglich, da sie zwischen zwei Wörtern immer die Parole brüllen mussten. Etwas geschah!
Da war es!
Das laute Rattern der feindlichen Kriegsmaschine. Kein Zweifel, die Schlacht stand nun unmittelbar bevor.
„Es ist soweit!“ schrie Holm. Keiner bewegte sich.
„Wir werden siegen!“ schrie 48142. Keiner bewegte sich.
„Stellt euch dem Feind“ tönte es vor ihnen, eventuell so bei Nr. 31800. Konnte man nicht genau sagen. Keiner bewegte sich.
Die ersten in der Linie, ganz vorne an der Front, wurden in der Mitte auseinander gerissen. Man konnte es nicht sehen. Aber man konnte es hören.
„Schnell! Schrie vermutlich Nr. 45126 und seine Stimme überschlug sich.
Keiner bewegte sich.
Mittlerweile war die riesenhafte Kriegsmaschine über den Truppen und zerfetzte die Soldaten. Reihe um Reihe fiel dem rotierenden Wahnsinn des Feindes zum Opfer. Keiner entkam. Davon scheinbar völlig unbeeindruckt standen die Reihen mutig und wichen keinen Fußbreit zurück.
Die Körper der tapferen Soldaten wurden durch die Gegend geschleudert. Holm und 48140 flogen Teile ihrer Kameraden um die Ohren, während sich die Kriegsmaschine immer tiefer in die Reihen der Truppen und damit zu ihnen hin fraß. Schon verdunkelte sie den Himmel über ihnen und in das ohrenbetäubende Rattern mischte sich das regelmäßige Zischen einer nur schemenhaften, weil atemberaubend schnellen Bewegung, die Soldaten wie Luft gleichermaßen teilte. Ein Wind kam auf, ein Sog, hin zu dieser Maschine.
Und dann ging alles ganz schnell. Mehrere Reihen fielen auf einmal! Die Teufelsmaschine zerschnitt nicht Reihe um Reihe, sondern mehrere Reihen auf einmal.
„Zu-sammen der Klinge entgegen! Zu-sammen der Klinge entgegen!“ schrie Holm.
„Wir werden siegen“ kam es von irgendwoher, durch den Lärm kaum zu verstehen. Holm ertappte sich bei dem Gedanken „Eine optimistische Prognose“.
Dann flog er in die Luft. Wenigstens der obere Teil von ihm. Die Klinge war unheimlich schnell auf ihn zugekommen. Zuerst noch langsam von hinten näher kommend, dann blitzschnell, wie eine Viper zubeißend. Holm war so beeindruckt, dass er gar nicht richtig merkte, wie er seinen Verletzungen erlag.
Das Rattern zog weiter über das Feld und hinterließ nur Tod. Zigtausende Gefallene Soldaten lagen zerrissen und zerstückelt auf dem Feld. Die Schlacht war verloren. Nein, das war keine Schlacht. Das war ein Massaker, ein Gemetzel. Tatsächlich hatte die tapfere Armee keine Chance. Die Geschichten stimmten.
Schließlich erstarb das Rattern. Bilanz des Tages: 458.299 tapfere Soldaten waren der überlegenen Kriegsmaschinerie des Feindes zum Opfer gefallen.
458.298!
Neben Holms Stumpf rührte sich etwas. 48140 richtete sich auf und sah sich um. Was für eine Aussicht. Bisher hatte er gerade mal bis zu seinem Vordermann gesehen, jetzt befand er sich plötzlich in einem unheimlich weiten Raum.
Nr. 48140 hatte die Schlacht überlebt, weil er etwas gänzlich Neues getan hatte. Etwas, was vor ihm noch niemand versucht, ja gewagt hatte.
Noch nie hatte sich ein Soldat gebückt und sich so der Klinge entzogen. Euphorie kam in ihm auf. Er würde der neue Hauptmann sein! Er würde die nächste Armee in den Kampf führen. Er hatte die Lösung! Nicht standhalten! Bücken! „Ge-meinsam zu Boden gebückt! Ge-meinsam zu Boden gebückt!“ hörte er sich schon rufen und merkte nicht den Schatten, der plötzlich erneut den Himmel über ihm verdunkelte.
Teufel, wenn er etwas nicht abkonnte, dann einen ungepflegten Rasen! Er hatte gerade den Rasenmäher verräumt und wollte schon wieder ins Haus. Da sah er den Grashalm Ja, es war zwar nur ein einziger Grashalm aber es ging da auch mehr ums Prinzip. Keine Schlampigkeit. Er bückte sich, nahm das Hälmchen zwischen Zeigefinger und Daumen und rupfte es aus der Erde um es sich anschließend in den Mundwinkel zu klemmen. Darauf herumkauend ging er wieder ins Haus.