Renata
Gavin beugte sich über Claire. Gierig inhalierte er den Duft des Parfüms, das er ihr vor wenigen Tagen geschenkt hatte. Plötzlich richtete sie sich auf. „Ist was?“ fragte er. Claire begegnete seinem Blick mit Entschlossenheit. „Ich kenne die Wahrheit,“ sagte sie. Gavin krümmte sich innerlich. Zweifellos hatte Claire einen Sinn für Dramatik. Er ahnte schon, von welcher Wahrheit sie sprach. Dennoch wollte er die Zerstörung dieses angenehmen Abends hinauszögern. „Welche Wahrheit?“ „Nun, wenn du es genau wissen willst“ – Claire erhob ihre Stimme – „ich habe von deinen Schulden erfahren.“
„Was hast du auch bei meinen Papieren zu suchen!“ erwiderte Gavin nicht ohne Härte. „Na, hör´ mal, ich bin deine Freundin!“ Und wenn du meine Frau wärst, dachte er, wer gibt dir das Recht, mich auszuspionieren? Allerdings sprach er es nicht aus, sondern beschloss, sie zu beschwichtigen. „Claire,“ begann er, „du siehst ein Problem, wo gar keines ist.“ Claire verschränkte die Arme. „Meine Tante, deren Erbe ich bin, liegt in den letzten Zügen und wird demnächst den Geist aufgeben.“
„Hast du gar keinen Respekt vor deiner Tante!“ fuhr sie ihn an. Er hoffte, den Streit noch abzuwenden, doch nun kam Claire in Fahrt. Sie sprach von Verantwortung, von Enttäuschung… Schließlich stand sie auf und verließ ihn. Gavin ballte die Fäuste.
Am nächsten Tag fuhr er nach der Arbeit nicht gleich nach Hause, sondern betrat einen Blumenladen. Während er die Rosen auswählte, die er Claire schicken wollte, dachte er an Amanda. Sollte er sie noch einmal besuchen? Nein, es war sinnlos. Amanda war nicht mehr ansprechbar und würde ihn wohl kaum wahrnehmen. Gavin lächelte verstohlen. Schon vor ihrem Tod war er von aller Pflicht befreit.
Spät abends klingelte das Telefon. Am anderen Ende war nicht Claire, wie er vermutet hatte, sondern eine Angestellte des Krankenhauses.
Der blaue, wolkenlose Himmel passte nicht zu Gavins schwarzer Kleidung. Er wünschte, er könnte dem Begräbnis fernbleiben, doch durfte er nicht gegen die Etikette verstoßen. Langsam schritt er über den knirschenden Kies auf die kleine Kapelle zu. Renata kam ihm auf halbem Weg entgegen. Sie war 43 – zehn Jahre älter als er -, doch Alkohol und Nikotin hatten sie um weitere Jahre altern lassen. Um die Spuren ihres Lebens zu verwischen, war sie stets grell geschminkt. „Gavin! Wie geht es dir!“ rief sie mit jener künstlichen Fröhlichkeit, die sie anscheinend niemals ablegte. Er setzte ein Lächeln auf und schüttelte ihre Hand. Schweigend verfolgten sie die Zeremonie. Außer ihnen war nur ein Trauergast zugegen – eine ältere Dame, die er nicht kannte.
Nachdem der Sarg in die Erde gesenkt worden war, kehrte Gavin auf die Straße zurück. Unwillig bemerkte er, dass Renata ihm folgte. „Ich möchte dir noch etwas sagen!“ keuchte sie und hakte sich zu seinem Schrecken bei ihm ein. „Danke, dass du dich so lieb um meine Mutter gekümmert hast! Wie du weißt, hat sie einige Zeit lang nicht mehr mit mir geredet. Gott sei Dank haben wir uns in ihren letzten Wochen versöhnt!“ „Schön,“ murmelte er. Warum wusste er davon nichts? „Ja, und nun bin ich ganz allein,“ fuhr Renata fort. „Möchtest du nicht einmal vorbeikommen? Immerhin bist du jetzt mein einziger Verwandter!“ „Vielleicht, wenn ich Zeit habe,“ antwortete Gavin.
Was Renata zuletzt gesagt hatte, entsprach den Tatsachen. Als Gavins Mutter gestorben war, war er zwei Jahre alt gewesen. Er besaß nicht eine Erinnerung an sie. Fünfzehn Jahre später war sein Vater einem Herzinfarkt erlegen. Gavin hatte ihm keine Träne nachgeweint. Warum auch – hatte er ihn doch kaum gekannt. Fast seine gesamte Kindheit und Jugend hatte er in Internaten oder Ferienlagern verbracht.
Amanda war die Schwester des Vaters gewesen. Ihren Wohlstand hatte sie ihrem früh verstorbenen Mann verdankt. Gavin hatte ihr Vertrauen gesucht und bald erkannt, wie es um Renata stand. Auf subtile Weise hatte er danach getrachtet, Mutter und Tochter noch weiter auseinander zu treiben, ohne sich selbst verdächtig zu machen. Eines Tages würde er die Früchte seiner mühevollen Arbeit ernten…
Einhunderttausend Pfund. Gavin konnte es kaum fassen, obwohl der Notar es ihm gerade bestätigt hatte. Seine Hände krampften sich so fest um das Lenkrad, dass er Schmerzen fühlte. Er musste sich zwingen, das Tempo zu verlangsamen. Warum war Renata nicht enterbt worden? Hatte Amanda nur damit gedroht? Und warum hatte sie ihn hintergangen? Niemals würde er es erfahren. Er wusste nur eines: Einhunderttausend Pfund waren nicht genug.
Abends saß er im Garten und versuchte vergeblich, die Zeitung zu lesen. Die Stimmen seiner Nachbarn waren nervtötend laut. Gerade sprachen ein Mann und eine Frau darüber, dass sie am Freitag verreisen würden. Gavin legte die Zeitung beiseite.
Etwa eine Stunde später vernahm er die Klingel. Durch den Türspion erkannte er Claires schwarzes Haar. Er hatte den ganzen Tag lang nicht an sie gedacht, doch sie war ihm nicht unwillkommen.
Gavin stand in einer Telefonzelle und wartete darauf, dass Renata sich meldete. „Hast du samstags Zeit?“ fragte er. Renata erwiderte, sie habe immer Zeit.
Renata lebte noch abgeschiedener als er. Von der Fassade ihres Hauses bröckelte blaue Farbe ab, im Garten befand sich kein einziger Baum. An der Türschwelle umarmte sie ihn und führte ihn in ihr dunkles, stickiges Wohnzimmer. Gavin hoffte, dass seine Körpersprache nicht verriet, wie er sich fühlte. „Wollen wir auf den heutigen Tag anstoßen?“ fragte er. Renata kicherte nervös und zog an ihrer Zigarette. „Mir ist nicht nach feucht-fröhlichen Feiern zumute,“ sagte sie. „Du musst wissen, in drei Tagen beginne ich eine Entziehungskur.“ Gavin überlegte. „Willst du dich nicht noch einmal so richtig gehen lassen? Zum allerletzten Mal? Bald ist es zu spät dafür.“ Schließlich stimmte sie zu und schenkte ihnen beiden ein. Die Gläser klirrten gegeneinander.
Im Laufe des Abends trank Gavin nur wenig, während er versuchte, Renata zu immer neuen Runden zu ermutigen. „Wenn ich trocken bin, höre ich auch auf zu rauchen,“ sagte sie, als sie der Sprache noch mächtig war. „Schritt für Schritt in ein neues Leben.“ Später sank ihr Kopf kraftlos auf die Armlehne. Gavin ging ans Werk.
Frühmorgens erwachte er. Vor seinem Bett nahm er die Umrisse einer Gestalt wahr. Reflexartig schaltete Gavin das Licht ein. Vor ihm stand ein kleiner, zierlicher Mann. Seine Haut war beinahe grau, seine Wangen eingefallen. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. „Was machen Sie hier? Verschwinden Sie!“ stieß Gavin hervor. Der Mann bewegte sich nicht. „Verschwinden Sie oder ich rufe die…“ er brach ab. Diese Drohung schien ihm keine gute Idee zu sein. Langsam stieg er aus dem Bett und näherte sich dem reglosen. Eindringling. Selbst als er ihn fast berührte, verzog der Mann keine Miene. Er versuchte ihn weg zu schieben, doch er schien schwer wie ein Felsblock zu sein. Schlussendlich holte Gavin aus und schlug ihm ins Gesicht. Verwirrt zog er die schmerzende Hand zurück. Noch immer war der Mann keinen Zentimeter von der Stelle gewichen.
Gavin war nichts anderes übrig geblieben, als endgültig aufzustehen und sich anzukleiden. Nun folgte der Mann ihm überall hin: ins Badezimmer, in die Küche, in den Garten… Er wollte ihn nicht mehr beachten, doch selbst wenn er die Augen schloss, spürte er dessen Anwesenheit.
Gegen Mittag erschien Claire. „Du siehst nicht gut aus,“ stellte sie fest, nachdem er ihr die Tür geöffnet hatte. „Bist du krank?“ Stumm schüttelte er den Kopf und wies nach vorne, zu dem kleinen Mann. Claire folgte seinem Blick. Sie sah ihn nicht. Sie sah ihn nicht! „Möchtest du mir nicht sagen, was mit dir los ist?“ fragte sie und nahm seine Hand. Bleib bei mir, Claire, dachte Gavin. Statt dessen ließ er ihre Hand los und schüttelte den Kopf erneut. „Ich…, ich kann jetzt nicht reden.“ Endlich ging sie.
Gavin hastete von Zimmer zu Zimmer, ohne eine Tätigkeit aufzunehmen. Der Mann war stets in seinem Blickfeld. Nachts drehte er sich von einer Seite auf die andere, ohne Ruhe zu finden. Er konnte den Schatten vor seinem Bett nicht vergessen. Irgendwann erwachte er doch aus einem kurzen Schlaf und zitterte vor dem vergangenen Alptraum. Er hatte Renata gesehen.
Am Montag fuhr er wieder zur Arbeit. Er versuchte, sich auf die vor ihm liegenden Akten zu konzentrieren, doch es war unmöglich. Er brauchte nur den Kopf zu heben, um dem kleinen Mann ins Gesicht zu sehen. Nach einigen Stunden meldete er sich krank.
Ein Tag glich dem anderen. Gavin schien es, als habe er seit Sonntag nicht mehr gegessen oder geschlafen. Alle Dinge um ihn herum hatten keine Bedeutung mehr, waren farblos geworden. Claires Anrufe ignorierte er, und als sie wieder vor seiner Tür stand, öffnete er nicht.
Dienstagabend erhielt er Besuch von zwei Polizeibeamten. Sie hatten eine schlechte Nachricht für ihn. Seine Cousine, Miss Renata Blake, war tödlich verunglückt. Erst an diesem Tag war sie in ihrem Haus aufgefunden worden.
Gavin hatte noch nie eine derart schwierige Aufgabe gemeistert. Zunächst sollte er ruhig erscheinen. Dann musste er überrascht und entsetzt wirken. Vor allem aber durfte er keine Angst zeigen – eine Angst, die ihn verraten hätte. Und all das, während er dem Zusammenbruch nahe war. Die Miene des kleinen Mannes verriet nicht, welche Macht er ausübte.
Nach weiteren qualvollen Tagen verstand er. Es gab nur eine Möglichkeit, dem Mann zu entkommen. Bald würde Gavin nichts mehr sehen, nicht mehr denken oder fühlen.
Gavin sprang – und stürzte zu Boden. Seine Knie und seine Hände waren aufgeschürft. Verwirrt erhob er sich. Die abgerissene Schlinge hing um seinen Hals; neben sich gewahrte er den zerbrochenen Stuhl. Das Gesicht des Mannes war ausdruckslos wie immer. Doch nun verstand er ihn wahrhaftig.
Gavins starre Finger krallten sich um den Telefonhörer. Er war erstaunt, dass seine Stimme nicht versagte.