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Requiem oder Eine musikalische Vergeltung
Kaum eine andere Geschichte beflügelt bis heute die Musikliebhaber so sehr wie die von Mozarts Requiem KV 626: Das Musikgenie erhielt - sterbenskrank - die Anweisung eines mysteriösen Boten aus dem Jenseits zum Komponieren der eigenen Totenmesse. Gewidmet ist diese Geschichte keineswegs jenem großen Genie, sondern einer alten Freundin, einer Violinenlehrerin und ehemaligen Mitglied der deutschen Symphonie, die mir demonstrierte, wie man aus einem Resonanzkörper und ein paar Stahlsaiten so wunderbare Melodien rausholen kann...
Nein, Nein, Nein. Wieder nichts. Wieder ein gescheiterter Versuch. Wie sollte sie das auch schaffen? Die erste Geige patzte im siebten Takt. Zu einem Fis ist man ja wohl nach siebenunddreißig Jahren fähig, oder? Sie schaute böse von ihrem Dirigentenpult herunter auf Hector Gambon. Vielleicht war es ja noch zu retten. Der Schweiß stand auf ihrer Stirn. Noch eine Woche bis zum Konzert. Niemals würde sie das schaffen - niemals. Sie gab den Cellos nun mit ihrem Stab den Rythmus an. Wieder brachen die verdammten Bratschen zu früh ein. Wozu stand sie denn hier vorne? Wohl nicht zum Spaß. Nein. Auch das würde wohl nichts werden. Sie schlug mit ihrem Stab ans Pult. Die Musiker wurden unterbrochen. Falsche Töne schwirrten durch die Luft und verstummten.
"Gut, in Ordnung... Stopp, Stopp, Stopp."
Ächzen. Stöhnen. Stimmgewirr. Der leere Theatersaal hinter ihr ließ die Geräuschkulisse anschwillen.
"Nun, das war wieder ein wenig spät von Ihnen bei den Cellos. Ich gebe Ihnen den Einsatz im siebten vor - und das ist auch kein Gis, Mrs Stempford." Die ältere Lady lächelte sie freundlich an und nickte zustimmend.
Harriett York war im Bristol Collegium of Classical Music ziemlich beliebt, wie sie auch sonst überall beliebt war. Es war ihre nette, natürliche Art, ihr ständiges Lächeln auf den Lippen und ihre verständnisvollen Gesichtszüge, die sie augenblicklich sympathisch machten. Sie war klein und etwas dick - sie mochte das Wort "mollig" gar nicht, es erinnerte sie immer an das Moll und sie mochte keine traurige Musik - und war seit Kindesbein an eine der besten Violinistinnen der britischen Inseln, doch sie hatte sie, seit sie fünfunddreißig geworden war, völlig aus dem großen Leben im Royal Symphony Orchestra zurückgezogen, lebte nun mit ihrem Mann in Britol und gab Violinenunterricht für reiche, verzogene Gören, die sie von allen Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, am wenigsten mochte, die ihr aber das meiste Einkommen bescherten, also gute Miene zum bösen Spiel. Sie mochte es auch nicht sehr, zu dirigieren, musste aber kurzfristig das Collegium leiten, da der eigentliche Dirigent mit einem Beinbruch nach einem Sturz von der Bühne - er hatte dem kleinen, gnomartigen, stest in seinem Samtpullover gehüllten Literaturlehrer der Highschool, in deren Aula sich das Orchester traf, beim Justieren der Lampen für das Konzert in der nächsten Woche assistiert - im Bett lag und auf gar keinen Fall den Taktstock in die Hand nehmen konnte. Und nun stand sie da. Und sie wusste, dass ihr nur noch ein Wunder beim Einstudieren von Mozarts "Requiems", das die Musiker zu Ehren eines kürzlich bei einem Verkehrsunfall gestorbenen Londoner Komponisten, H. C. Ormend, spielen wollten, helfen konnte. Harriet kannte Ormend nicht, hatte aber schon einige Stücke von ihm gehört und auch selbst gespielt und sich eine enorm hohe Meinung von ihm gebildet. Dementsprechend berührte sie seine Todesmeldung auch. Doch jetzt lenkte sie ihre Gedanken auf das Problem vor ihr.
"Ach ja. Und die erste Geige!"
Der widerliche Gambon schaute sie herausfordernd an, sein hässlicher Krötenkopf drehte sich blitzschnell zu ihr hoch. Er ließ sich nichts sagen und deswegen hatte es schon einige Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen und vor allem mit Harriett gegeben.
"Was ist mit uns?", fragte er in einem bösen Ton. Harriett ließ sich nichts gefallen.
"Nicht mit 'uns' , Mr Gambon, sondern nur mit Ihnen. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass das, was da im achtundzwanzigsten Takt nach dem da capo steht, ein Pausenzeichen ist?"
Er wurde wütend und fing an rumzuschreien. Was sie sich denn erlaube... Wer sie denn sei... Es gab tumultartige Zustände. Manche sprangen auf und riefen Gambon zur Ordnung, manche saßen einfach nur resigniert auf ihrem Stuhl, enttäuscht ob ihrer Leistung - ebenso wie Harriett. Sie blieb ganz ruhig und ließ ihren Blick über die Fensterseite der Aula schweifen. Die bunten Fenster zeigten die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Draußen war es zwar schon lange Dunkel - der Herbst hatte Einzug gehalten - doch der Verkehr direkt vor den Fenstern erhellte sie mal stärker, mal schwächer - passend zur Musik.
Die Stimme Gambons hämmerte sich in ihren Kopf und sie erreichte langsam eine Toleranzgrenze. Dann vergaß sie sich.
"Nun, seien Sie endlich ruhig, Gambon!" sie schrie ihn an. Alles verstummte sofort. Derartige Reaktionen war man von der gutmütigen Harriett nicht gewöhnt. "HALTEN SIE ENDLICH DIE KLAPPE! Sie können nicht einmal drei Takte fehlerlos spielen und haben kein Gefühl für Rythmus oder Harmonik." Die Zornesröte war in ihr Gesicht gestiegen. "Und jetzt setzen Sie sich alle wieder hin. Mir reicht es langsam mit Ihnen allen. Entweder sie konzentrieren sich jetzt oder ich schmeiße das alles hin. Es ist wirklich ge-"
"Vielleicht darf ich es mal versuchen, Mrs York?"
Sie wirbelte herum. Am rechten Bühnenaufgang stand ein Mann. Mitte Fünfzig, schwarz gekleidet, graue Haare - ein freundliches Gesicht. Er lächelte sie an. Das ganze Orchester blickte zurück. Wer war das?
"Entschuldigen Sie, aber vielleicht lassen Sie mich es einfach probieren. Vielleicht benötigen Sie nur ein wenig Ruhe - und vor allem Gelassenheit."
Harriett wusste nicht, warum sie in diesem Moment nickte und den Mann zu sich herbat. Es lag wohl an seiner sanften, vertrauten Stimme. Sie konnte nichts entgegnen. Er kam zu ihr aufs Dirigentenpult und nahm den Taktstab, den sie ihm entgegenreichte.
"Danke, Mrs York." Er wandte sich ruhig an die Musiker. "Guten Abend, meine Damen und Herren. Nun - wollen wir dann?" Er schlug dreimal aufs Pult, das dreifache Schlagen schien dieses Mal lauter und langezogener von den steinernen Wänden zurückgeworfen werden, die Geigen wurden hochgenommen, die Cellos umgriffen, die Klarinetten an den Mund geführt. Es war eine geisterhafte Atmosphäre. Die ersten paar Takte, die sie spielten, dachte Harriet, die noch neben dem geheimnisvollen Mann stand, sie würden es wieder nicht schaffen, doch dann schien die Musiker eine innere Ruhe zu erfüllen und "Requiem KV 626" floss wie ein stetiger Fluss aus Tönen und Takten, mal lauter, mal leiser. Wunderschön , dachte sie. Fast konnte sie schon den Chor, mit dem sie erst nächste Woche proben wollten, hören. Sie hörte ihn so deutlich, das sie sich umblickte, weil sie dachte, er würde schon im Zuschauerraum Platz genommen und seine Gesangshefte aufgeschlagen haben und mit einstimmen. Nach ein paar Minuten wandte sich der Mann, der aus ihrem Orchester alles herausholen konnte, zu ihr und nickte ihr ermutigend zu. Er übergab ihr den Taktstock und sie machte weiter.
Das kann doch nicht sein! Das ist doch nicht möglich. Ich muss mich irren. Er kannte ihn nicht. Zumindest nur aus der Zeitung, die über den Unfall berichtete. Es war sogar im Fernsehen! Sein Bogen flutschte über die Seiten, er konnte sich kaum konzentrieren. Du hast Ormend überfahren, Hector! Verdammt nochmal! Man konnte ihn doch auch kaum sehen. In seinem schwarzen Mantel. Außerdem warst du betrunken, Mann. Da war nichts, was du hättest können. Doch! Dich nicht ans Steuer setzen. Ja! Aber die Bullen würden das nie rausbekommen. Es war in London passiert. Wer würde ihn schon in Bristol suchen? Aber dieser Typ, der jetzt davorn stand und den Taktstab schwang, sah ihm so ähnlich! Derselbe schwarze Mantel! Dieselben grauen Haare.
So gut war es noch nie gewesen! Die schwierigsten Stellen hatten sie problemlos gespielt, die Inthronisation hatte ihr fast Tränen in die Augen getrieben. Es war so, als würde jeder für Menschen spielen, die er verloren hatte und die nun im Zuschauerraum Platz genommen hatten und andächtig lauschten. Sie wusste, für wen sie dirigiert hatte: Den großen H.C. Ormend.
Sie ging immer vor den Musikern nach draußen, um sie alle zu verabschieden, bevor sie noch einmal zurückkam, die Noten einsammelte, das Licht ausmachte und abschloss. Der mysteriöse Mann flüsterte ihr, bevor sie die Bühne verließ, noch etwas zu: "Man muss noch einige Umbesetzungen in der ersten Geige vornehmen, damit es optimal wird, aber Sie werden kein Problem mit dem Konzert haben. Spielen Sie immer nur mit Herz!"
Sie nickte dankbar und meinte nur flüchtig zu ihm. "Ich komme gleich zurück. Warten Sie nur einen Moment. Ich sag nur noch Auf Wiedesehen. ." Er sah ihr lächelnd nach.
"Schönen Abend noch. Bis übermorgen!" Sie hatte die letzten Flötistin verabschiedet. Gambon war ihr beim Herausgehen nicht aufgefallen und sie interessierte es nicht, ob er ihr Auf Wiedersehen sagte oder nicht. Er war ein böser Mensch mit einem unglaublichen Gewaltpotenzial. Sie schlenderte den dunkelen Korridor zur Aula zurück, vorbei am schwarzen Brett für Musik und Literatur. Sie schenkte dem zunächst keine Beachtung und war im Begriff, vorüber zu gehen, doch dann sah sie es. Es war offensichtlich die Kopie eines Zeitungsausschnittes mit der Ankündigung ihres Konzertes am nächsten Freitag - wohl als Werbung. Als Aufhänger diente Mozarts Requiem für H.C. Ormend. Sie musste zweimal auf das Foto blicken, um zu verstehen. Und dann durchfuhr sie ein Ohnmachtsgefühl. DAS WAR NICHT MÖGLICH! Sie schaute den Gang hinunter, in den der Schein des Saallichtes durch die geöffneten Aulatüren hereinfiel. Sie lief los. Atemlos stolperte sie in den Saal hinein.
Nichts. Absolute Stille. Der Mann war verschwunden, doch dann entdeckte sie ihn . Er saß zusammengesackt auf seinem Stuhl in der ersten Geige, die Violine fest umklammert. Seine starren Augen blickten ins Nichts. Hector Gambon, der Mann, der vor einer Woche einen der größten britischen Komponisten überfahren hatte und verschwunden war. Einige Umbesetzungen würde es geben , klang es in ihrem Kopf nach. Das Zeitungsfoto am schwarzen Brett zeigte jenen Mann, der ihr ermutigend den Taktstock in die Hand gelegt hatte und von dem sie eine solch hohe Meinung hatte: H.C. Ormend.
Das Konzert eine Woche später wurde einer der größten Erfolge, den das Bristol Collegium of Classical Music jemals gefeiert hatte.