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Requiem
Julian hatte zwei Mütter. Die übliche, vielleicht nicht liebevolle, aber sorgende und die andere - stets durstig, aggressiv angeheitert, alle Lasten dieser Welt tragend. Jeden Abend ertrank die gute Mutter und die böse regierte bis der Schlaf ihr Frieden gab. Am Morgen erwachte wiederum die gute und begann auf die Verwandlung hinzuarbeiten.
Vor dem Zugfenster flüchten die letzten Schollen Erde bis der Zug am alten Bahnsteig zum Stehen kommt. Die sogenannte Heimat holt ihn nicht ab. Im Taxi denkt er an die beiden Mütter, die in einer Kiste auf die Versenkung warten. Ein Leben für den Durst ist zu Ende.
Julian sitzt in der vordersten Kirchenbank. Hier hatte er einst Gott gebeten, dass er den Eltern den Durst nehme oder ihm das, was die bösen Eltern immer wieder dazu brachte, ihn nicht zu mögen. Als der Bitte nicht entsprochen wurde, entschuldigte er das zunächst damit, dass Gott diesen riesigen Durst nicht von jetzt auf nachher einfach stoppen könnte. Der Zehn-Jahres-Verzicht auf Weihnachtsgeschenke und hundert Mark vom Sparkonto für die armen Kinder in Afrika waren das letzte Angebot. Die Kinder in Afrika hungerten weiter.
Während der Messe überlegt Julian, ob die Gute die Böse mochte. Wohl nicht. Manchmal, wenn die böse Mutter besonders böse gewesen war, versuchte die gute über alle Maßen gut zu sein. Bis zwanzig Uhr. Nach der Tagesschau befand die böse Mutter, dass die gute wieder mal viel zu gut gewesen war. Wut antrinken – die Gute ertränken, solche Kinder machen durstig. Notwehr. Ausweglos. Wer Höchstlasten trägt, trinkt Spitzenweine. Der böse Vater stimmte zu. Dem Abend entkommt keiner.
Dabei ist Julian alles, was in der Provinz den Mustersohn ausmacht: Einserschüler, blond, blauäugig, besserwisserisch, sportlich, stockschwul und katholisch. Vielleicht war es das, was ihm mehr als den anderen die schlagende Liebe zuzog.
Erstereiheblicke zeigen Kinder und Kindeskinder der Verstorbenen. Geschwister – Kontrahenten im Kampf um die geringste Aufmerksamkeit. Julian, immer ein Verlierer. Nach acht Uhr war keiner gleich, nur allein. Meist blieb es bei Worten. Geschrien, verachtet, gebrüllt. Nicht bewegen. Manchmal prägten sie die Worte für immer in den Körper. Nicht bewegen.
Die Väter weigerten sich bei der Diplomfeier neben einer Schwuchtel zu sitzen. Dass Julian sich für den Lebensgefährten entschied, ertrugen die Mütter kaum – die eine leise – die andere laut. Irgendwann wurden die Väter sich immer ähnlicher. Als sie einer waren, starb er.
Ein Segen. Alle sind die Besten, wenn sie es nicht mehr hören können. Auf, auf, zum Friedhof. Der Letzte zahlt. Kleine Reden, große Lügen, Erde drüber, dann sieht es keiner.
Eines Abends, er studierte bereits seit zwei Jahren in der weiten Stadt, rief die böse Mutter an: „Wenn du nicht bald nach Hause kommst, vermiete ich dein Zimmer. Ich warte hier nicht auf dich. Ich brauche dich hier nicht.“ Er legte auf. Im folgenden Monat erreichte nur noch die Hälfte der ungedankten Heimatgelder das Stadtkonto. Als er auf dieses Gesprächsangebot nicht einging, brach wohl die Heimatbank zusammen. Er suchte einen zweiten Nebenjob. Das Zimmer blieb Witwe.
Essen auf die Verstorbenen. Wein hebt die Trauer. Tote sind beliebt. Gleich mehrere Frauen ringen mit Doppelkorn und Schmerz um den Titel „beste Freundin“. Verwandte hat man, Tag und Nacht. Steigende Alkoholpegel pressen den Schmerz hinaus. Einer geht noch.
Der kleine Julian rächte sich eines Tages am Feind und zertrümmerte wie im Rausch den Weinkeller. Am Abend rächten die Väter die Gefallenen. Ein Abend zum Einprägen.
Umstehende kennen Julians Leben schöner als er selbst. „Das ist unsere Kontonummer. Ihr Geschwister teilt euch ja die Begräbniskosten.“ Hätte die Frau des Bruders geglaubt, dass die Angaben auf dem gereichten „Begräbniskosten Mutter, Anteil Julian“-Zettel im Empfängerfeld eines Überweisungsträgers landen, hätte er ihn bekommen wie seine Brüder – diskret per Post. Keiner weiß, dass Julian erfahren hat, dass die väterlichen Häuser und Gründe längst den Brüdern gehören. Die böse Mutter hatte es ihm gesagt - das hat die gute nie erfahren.
Der Onkel zieht ihn nach draußen: „Sie hat das nicht zeigen können, aber sie hat dich geliebt. Wenn sie einen geliebt hat, dann dich. Aber das hat sie überfordert.“ Verandaschweigen. Er duftet nach Heimat. Zigarette auf Wein – Wein auf Bier – Korn hilft verdauen. „Als du weg warst, sprach sie nur noch von dir. Ununterbrochen. Am Tag war sie stolz – am Abend neidisch.“ Verandaschweigen. „Behalte die Tage. Vergiss’ die Nächte, Julian.“ Schulterklopfen. Gesenkte Blicke auf Holzplanken. Schulterklopfen. Der Onkel versteht und geht. Erkenntnisse werden nicht schmerzfrei, weil sie auch ein anderer hatte.
Auf Holzplanken wurden tags die Abende beschwiegen und abends die Tage beschrieen. Hierher schlich er, wenn sie sich ausgebrüllt hatten. Hier beweinte er die Erde. Hier hörte er, wie der Bruder verprügelt wurde, als er in der Neunten sitzen blieb, und die Veranda lauschte, als die bösen Eltern Julian eröffneten, dass sie nicht mehr mit einer Schwuchtel leben wollten und er in den Keller ziehen müsse - solange, bis er wieder normal sei. Und hier überredete ihn danach die gute Mutter, nicht zum Onkel zu ziehen.
„Sieht er nicht aus wie ein Engel? Die goldenen Haare, die Augen – ganz die Mutter!“ Wen interessiert es jetzt noch, dass beide Mütter brünett waren? Trauer duldet keinen Widerspruch, besonders nicht die geheuchelte. Schlechte Ereignisse steigern den Durst. Was gibt's Neues?
Julian bereitet den Mantel vor zum Gehen. Pflicht erfüllt. Anständig erfüllt. Achtung! Die Schwuchtel aus der weiten Stadt verlässt nun das Gebäude! Dankbar erleichtert will die Heimat ihn wegschaffen. Er geht wie er gekommen ist. Zwanzig zehn, stimmt so.
Nach der Tagesschau flüchten vor dem Zugfenster die Lichter. Nun liegen sie unten, die Mütter. Allein. Im Tode vereint. Zum letzten Mal ertrunken.
Julian weiß, beide sitzen hier im Abteil. Und weinen. Mit ihm.