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Revenge of the Kartoffeln! (Hasan muss leiden)
Frank legte den Hörer auf ließ und sich auf sein Bett fallen wie ein Sack voll Kartoffeln. Die Nachricht, die er soeben von seinem besten Freund erhalten hatte, war die bisher schlechteste seines Lebens. Frank atmete auf seinem Bett langsam ein und aus und wartete nun seine eigene Reaktion ab. Würde er schreien? Weinen? Sich erhängen? Oder würde er einfach in eine tiefe apathische Depression fallen, oder Worte, ohne Widerstand, ohne Hoffnung.
Aber da war noch ein anderes Gefühl, das Frank jetzt in sich spürte. Etwas anderes, dass er so nicht erwartet hatte. Frank spürte die Enttäuschung und die Fassungslosigkeit, und auch den Teil seines Körpers, der es einfach nicht wahr haben wollte. Aber Frank spürte auch eine böse Verwunderung, eine Art dunkles Staunen. Ja so war es. Frank staunte. Er staunte, dass die Welt tatsächlich so grausam und rücksichtslos sein konnte. Das hatte Frank vielleicht vermutet gehabt, er hatte in der Schule ein paar griechische Tragödien behandelt, und die Titanic hatte er schließlich auch gesehen... Aber das hier? Das übertraf alles!
Wie konnte sie?
Frank ließ seinen Blick langsam und ziellos durch sein kleines Zimmer schweifen, vorbei an seinem Schreibtisch, seinem Playstation, den Stapeln von Büchern, und nun blieb sein Blick an einem Plakat haften, auf dem ein übergroßes Koordinatensystem eingezeichnet war. Frank schüttelte seinen Kopf. Das Diagramm. So hatten er und sein bester Freund seine vielleicht größte Erfindung getauft. Einfach nur das Diagramm. Es hatte alles erklärt, alles mathematisch fassbar gemacht, alles in Zahlen übersetzt, aber nun war es zerstört worden. Jetzt konnte es nicht mehr stimmen.
Wie konnte sie!
Frank war ein selbst-erklärter Mathefreak. Ein Nerd. Einer von den Jungs, die das andere Geschlecht nur dann nahe kommen, wenn sie von hilflosen Frauen vor einer Mathe Prüfung darum gebeten werden, ihnen etwas Nachhilfe zu geben. Das Diagramm war ein Versuch von Frank gewesen seine Gefühle für Julia zum Ausdruck zum bringen. Oder besser gesagt, Julia zu erklären.
War es blöd gewesen mit Hilfe eines Diagramms zu versuchen, Gefühle für eine Frau zum Ausdruck zu bringen? Mag sein, dass das Diagramm auf dem ersten Blick albern aussah, aber da steckte eine Menge dahinter.
Das Diagramm war ein einfaches zweidimensionales Koordinatensystem mit einer „Triebsachse“ als Abzisse und einer "Gefühlsachse" als Ordinate. Die Triebsachse brachte die animalischen Triebe, die eine bestimmte Frau hervorrief, zum Ausdruck. Sprich, wie sehr man mit einer Frau Sex haben wollte, oder eben nicht Sex haben wollte. Die Gefühlsachse brachte die emotional-geistigen Gefühle, die man für eine Frau empfand, zum Ausdruck. So war es zum Beispiel durchaus möglich, eine Frau überhaupt nicht zu mögen, aber trotzdem mit ihr Sex haben zu wollen. Eine solche Frau lag dann im Minus Bereich der Gefühlsachse, aber im Plus Bereich der Triebsachse. Und wenn man wollte, konnte man das dann auch in Zahlen übersetzten. Je größer die Integralsfläche, desto mehr empfand man für eine Frau, allerdings musste man das Integral genauer anschauen, um zu bestimmen genau was man für sie empfand. Und war man dann zum Beispiel einer Frau gegenüber völlig gleichgültig eingestellt, fand man sie also weder sexuell attraktiv noch abstoßend, weder nett noch blöd, dann war sie da wo sich X- und Y-Achse sich kreuzten, mit einer Integralsfläche gleich null.
Und in diesem Diagramm stellte Julia den absolut höchsten Schwellenwert der Gefühlsachse dar, die obere Asymptote also. Sie war sozusagen das absolute Non-Ultra-Plus des geistig-emotionalen Empfindens.
Oben auf dem Plakat, an der Spitze der Y-Achse, hatte Frank ein Foto von Julia hingeklebt. Sie war am Weglaufen, drehte aber ihren Kopf in Richtung Kameramann und lächelte diesen fröhlich an. Sie trug ein gelbes Sommerkleid und war barfüssig.
Auf dem Bild sah sie aus wie eines dieser alternativen, grünen, rettet-die-dritte-Welt Mädchen, die eigentlich auf einer Walddorfschule gehören und deren Eltern ganz sicher Alt-68er sind. Womöglich waren Julias Eltern das auch, Frank wusste nicht so viel über Julias Familie, jedenfalls spürte er jetzt wie sein Herz jetzt beim Betrachten des Bildes aufging. Julia war ein Phänomen. Jeder, der ihr begegnete, verliebte sich sofort in sie. Es war ja nicht so, dass Frank als einziger jetzt leiden würde. Die Nachricht, die Frank bekommen hatte, wurde sich über sein Schulhof ausbreiten wie Wildfeuer, und alle würden leiden. Daran bestand gar keinen Zweifel. Denn alle waren in Julia verliebt. Frank liebte sie, die Lehrer liebten sie, sogar die anderen Mädchen, die Julia natürlich um ihre Beliebtheit beneiden müssten, liebten sie. Man konnte einfach nichts anders. Julia war wie ein Mädchen aus einer anderen Zeit, das von Neid und Schönheitsidealen und MTV und schicken Autos und DSDS noch nie etwas gehört hatte. Wenn Julia mit dir sprach blickte sie direkt in deine Seele, und wer du warst und was du hattest interessierte sie nicht. Sie blickte in deine Seele und man schämte sich beinahe, denn man fühlte sich entblößt, so als ob sie dir einen Spiegel vor den Augen hielt, und man sehen musste, wie oberflächlich und kleinlich man doch war. Aber man schämte sich wirklich nur beinah, denn im gleichen Zug vergab dir Julia alle diese böse Eigenschaften. Sie lächelte einfach, und man freute sich wie Kind, man füllte sich gar erlöst. So groß war diese ruhige innige Kraft, die von Julia ausging. Sie war durch und durch gut.
Rein körperlich betrachtet war Julia auch eine attraktive Frau war, mit großen blauen Augen, langen blonden Locken und einer zierlichen, schlanken Figur. Wie ein Engel, sagte Frank immer. Und ganz egal wo Julia auftauchte, stand sie immer im Mittelpunkt, obwohl sie das eigentlich nie wollte. Sie räkelte sich nie auf der Tanzfläche, betrank sich nur selten, und lachte nie so laut auf, dass alle hinschauen mussten. Und trotzdem war sie die Frau, mit der jeder reden wollte. Aber es lag überhaupt nicht daran, dass sie gut aussah. Es lag, so klischeehaft wie das auch klingen mag, an ihrer Persönlichkeit. Denn da gab es noch genug andere Frauen, die man schon eher hinterher pfiff. Frauen mit größeren Brüsten und übertriebenen Rundungen, die immerzu auf einer Art lächelten, die ihre Sexualität entsprach. Solche Frauen nannte Frank Östrogenwunder. Frauen, die von der Natur mit so viel Sexualität beschenkt worden waren, dass weder sie selbst noch die Männer in ihrer Nähe genau wussten, wie man damit umgehen sollte. Zu diesen Frauen holte man sich abends im Bett einen runter, und wenn die Phantasie ausging, schaute man solchen Frauen auf irgendwelchen Internetseiten beim Sex zu. Das war einfach der Fortpflanzungstrieb in seiner reinsten Form: groß, schnell, hart, geil. Auf dem Diagramm befanden sich solche Frauen ganz weit rechts im Koordinatensystem, also an der Spitze der Triebsachse. Aber all das hatte nichts mit Julia zu tun, und das konnte man auch von dem Diagramm ablesen. Denn so weit rechts auf der Triebsachse wie diese anderen Frauen befand sich Julia nicht.
Und gerade deshalb war das Diagramm auch so genial, weil es diese Grenze zwischen Franks Verlangen nach Pamela Anderson und sein Herzpochen für Julia (und natürlich sämtliche Mischformen davon) klar unterscheiden konnte.
Zu Julia holte sich Frank nämlich nie einen runter. Das wäre wie eine Sünde gewesen! Und falls Julia doch in seinen nächtlichen Fantasien auftauchte, dann fühlte sich Frank stets komisch dabei, denn man müsste Julia auf einen Trieb reduzieren, um sich zu ihr einen zu wichsen. Und das war komisch. Diese blonden Haare, ihre zarte zerbrechliche Art, ihre feinen schmalen Hände... Julia wollte man vielleicht küssen oder streicheln, aber so richtig an Sex dachte man nicht bei ihr. Na ja gut, natürlich hätte Frank es getan! Wenn sie ihn nur anlächelte schmolz er bereits dahin wie warme Butter. Mit ihr zu schlafen! Da wäre Frank an Reizüberflutung gestorben, um anschließend ganz sanft auf einer rosafarbenen Wolke in den Himmel hinaufzusteigen. Aber sich zu ihr einen runter zu holen? Das konnte Frank nicht. Dafür war Julia einfach zu toll. Das ging nicht.
Aber nun war das ultimative Desaster eingetreten, der perfekte Sturm sozusagen. Frank hatte zwar immer gewusst, dass Julia irgendwann einen festen Freund haben würde. Irgendwann musste es ja passieren, und Frank hatte auch gewusst, dass egal wer der Glückliche sein würde, er nie gut genug für sie sein könnte. Kein Mann auf dieser Erde konnte gut genug für Julia sein. Am wenigsten Frank selbst. Aber Julia war, so hieß es in der Nachricht, mit einem gewissen Hasan zusammengekommen, dem Mann, den Frank am meisten hasste. Wenn Julia ein Engel war, dann musste er ein Teufel sein, ihr Gegenpol. Eine noch krassere Mischung aus Gut und Böse konnte sich Frank beim besten Willen nicht vorstellen. Und das war es letztlich was Frank das Staunen lehrte. Dass Julia mit diesem Albtraum einer Person zusammen war, dass sie mit ihm schlafen würde, dass sie sich liebten, dass sie sich streichelten, und ganze Nachmittage zusammen im Bett lagen...
Erst letzte Woche hatte Hasan einen Freund von Frank auf seinem Heimweg mit seiner Freundin nachts überfallen und gänzlich ohne Grund brutal zusammengeschlagen. Hasan war der Stadttyrann, ein Mensch, der andere Menschen aus Prinzip terrorisierte. Und ohnehin hatte er ja ein Haufen Frauen an seiner Seite. Die ganzen blöden Östrogenwunder bewunderten ihn und seine Macht. Sie standen auf seine Aggressivität. Wenn Hasan eine Freundin hatte, dann war sie die sicherste Person in der Stadt. Kein Mensch hätte es jemals gewagt etwas Dummes über eine von Hasans Flittchen zu sagen. Solche Flittchen waren vor allem sicher, außer vor ihm natürlich. Da mussten sie aufpassen, denn Hasan dürfte man nicht hintergehen. Und Frank hatte auch schon etliche Geschichten gehört von wegen Dreier, Vierer, und sogar Fünfer! Hasan brauchte nur mit dem Finger zu schnipsen und es kam ein Haufen aufgestyle Östrogenwunder auf ihn zugerannt, die sich nichts sehnlicher wünschten, als ihm zu gefallen. Aber das reichte ihm offensichtlich nicht! Seine Durst nach Macht und Tyrannei war damit nicht gestillt. Er musste jetzt auch noch die Frau haben, die alle gerade deswegen bewunderten, weil sie nicht so war wie er. Weil man sich eingebildet hatte, dass sie sich niemals von einem einfältigen Schlägertyp beeindrucken ließe. Weil sie ein Engel war, fast wie eine Heilige, und Heilige ficken normalerweise nicht mit Teufeln. Frank stellte sich vor wie Hasan sie fickte. Wie er sie richtig dreckig fickte. Wie ein Pornostar. Von hinten.
Frank verlor jetzt die Fassung. Er sprang aus seinem Bett, stürzte sich auf seinen Plakat und riss sie von der Wand. Er wollte sie zerknüllen, er wollte sie zerstören, aber dann sprang ihm das Bild von Julia in ihrem gelben Sommerkleid ins Auge und nahm ihm die Kraft. Frank legte sich wieder ins Bett und tat nun etwas, dass er nie tat. Er weinte fürchterlich. Er weinte und weinte und staunte weiter, dass die Welt tatsächlich so böse sein konnte.
Ein paar Minuten später klopfte es an seiner Tür. Frank richtete sich im Bett schnell auf. Es klopfte wieder.
„Ein Moment!“, schrie Frank auf, und wischte sich seine Tränen schnell aus dem Gesicht. So wollte er nicht gesehen werden. Dann lief er zur Tür, drehte den Schlüssel im Loch um und machte die Tür auf.
Frank schaute hoch zu einer hochgewachsenen dürren Gestalt, die ziemlich traurig aussah. Es war Franks bester Freund, Dennis.
„Alter“, sagte Dennis, die Arme ausbreitend mit tragischer Miene, „lass dich umarmen.“
Frank blieb unbeteiligt stehen und so legte Dennis seine langen dünnen Arme um Frank und drückte ihn. Franks Kopf reichte gerade mal bis zu Dennis’ Brust, und sein Kumpel druckte ihn so fest, dass er sein Herz klopfen hörte. Sie blieben so ein paar Sekunden stehen und dann konnte Frank nicht mehr.
„Okay, okay, das reicht“, sagte er, sich aus Dennis' Umklammerung befreiend, „genug des Homoseins.“
Dennis schaute Frank zu wie er sich an seinem Schreibtisch setzte und sein PC einschaltete. „Frank, du musst lernen offener mit deinen Gefühlen umzugehen, so frisst du bloß alles in dich rein.“
„Ja, ja, schon gut“, sagte Frank, die Augen verdrehend. „Willst du jetzt reinkommen, oder nur da stehen bleiben?“
Aber Dennis antwortete nicht, er betrachtete fassungslos einen bestimmten Punkt auf Franks blauem Teppichboden.
Frank hatte noch nicht zu Dennis hochgesehen, er blickte noch immer auf dem Bildschirm. „Alter, kommst du jetzt rein, oder was?“
Dennis antwortete wieder nicht.
„Hey Mann!“ klagte Frank, aber jetzt wandte er seine Augen von seinem PC ab und sah was los war.
Dennis starrte auf dem Boden, wo ein zerknülltes Plakat lag. Das Diagramm sah jämmerlich und verwahrlost auf Franks blauer Teppichboden aus, wie ein gestrandeter Potwal, aber das Bild von Julia in ihrem gelben Sommerkleid war noch zu sehen. Sie schien Dennis in die Augen zu schauen.
Und nun trafen sich Dennis' und Franks Blicke. Die beiden Freunde schauten sich tief in die Augen, und dann wieder auf den Boden, wo das Diagramm im Sterben lag. Und plötzlich erkannte Frank die Symbolik des sterbenden Diagramms, und die ganze Tragik stürzte wieder auf ihn ein. Er schaute wieder hoch zu Dennis. Tränen lagen in seinen Augen.
„Oh scheiße, Mann“, sagte Frank und senkte seinen Kopf. Er hielt seine Hand vor seinen Augen, und versuchte so gut es ging seine Tränen zu verstecken.
…
Dennis marschierte hin und her in Franks Zimmer wie ein Leopard in einem Käfig.
„Er muss sterben“, schrie Dennis auf und zerrte an seinen langen wuscheligen Haaren. „Er muss sterben!“
Frank lag wieder auf seinem kleinen Bett. Eine kalte Depression war über ihn hereingebrochen, die ihn jede Kraft raubte. Er starrte mit leerem Blick an die Decke.
„Das hat keinen Wert“, sagte er, „das hat keinen Wert.“
„Er muss sterben“, schrie Dennis wieder auf. Was anderes fiel ihm nicht mehr ein. „Das darf er nicht tun!“
Frank brachte es gerade noch hin mit seinen Achseln zu zucken. „Und was ist mit ihr?“
„Mit wem?“
„Ja, mit Julia.“
„Was meinst du?
Frank war still. „Julia ist nicht mehr Julia“, sagte er dann nach einer Weile.
Dennis blieb stehen. „Wie meinst du das?“
Frank atmete tief ein und aus. „Wenn sie mit Hasan zusammen sein will, kann sie nicht die Frau sein, für die alle sie hielten, dann kann sie nicht nur gut sein. Wir haben uns geirrt Dennis. Wir alle haben uns geirrt.“
Dennis schüttelte seinen Kopf. „Es liegt an ihm“, sagte er. „Er ist ein Teufel. Er hat sie verführt. Das ist wie die Schlange mit Eva.“
„Eva war keine Heilige.“
„Na und? Willst du mir jetzt sagen, dass Julia voll die Bitch ist, oder was? Wenn du das sagst… dann muss ich handgreiflich werden!“
Frank schmunzelte auf seinem Bett. Sein Kumpel redete Müll. „Na dann, erklär mir doch, wie das sein kann? Erkläre mir, wie es sein kann, dass sie auf ihn steht?“
„Ja, wie erklärst du dir das?“
„Hasan hatte Recht. Alle Frauen sind Schlampen außer Mutti. Und zwar ausnahmslos alle. Sogar die Julia. Damit hat er es bewiesen. Kann man das jetzt noch anders sehen?“
Aber Dennis antwortete nicht. Er starrte wieder auf das Diagramm, das jetzt wieder an seinem richtigen Platz über Franks Bett hing. Dennis hatte es vorhin wieder aufgehangen. Plötzlich ging ihm ein Licht auf.
„Ich hab’s“, sagte Dennis und grinste breit.
„Was hast du?“
„Ich weiß, warum sie ihn lieben kann. Das Diagramm zeigt es.“
Frank erhob sich aus dem Bett und stellte sich neben Dennis. Zusammen studierten sie das Diagramm.
„Ich sehe es nicht“, sagte Frank.
„Annika“, sagte Dennis. „In Annika liegt die Lösung.“
„Annika?“
„Ja schau mal, Annika ist doch Julias Gegenpol. Sie ist die negative Asymptote des geistig-emotionalen Empfindens. Was empfindest du wenn du an Annika denkst?“
„Hass.“
„Und wenn du an Julia denkst?
„Liebe.“
„Genau. Und was war schon immer das größte Paradoxon in unserem Diagramm?“
Jetzt wusste Frank worauf Dennis hinauswollte. „Die Tatsache, dass Julia und Annika gute Freundinnen sind, wenn nicht gar beste Freundinnen sind!“ Frank grinste jetzt auch. Er fühlte wie seine alte Zuversicht zu ihm zurückkehrte. Das Diagramm lebte wieder!
„Es gibt einen Grund dafür, dass Julia mit so abscheulichen Wesen umgehen kann“, sagte Dennis. „Das liegt ganz einfach daran, dass sie so gut ist, dass sie die bösen Eigenschaften eines Annikas oder Hasans übersieht. Sie ist vielleicht der einzige Mensch auf Erden, der noch an das Gute in Hasan und Annika glaubt, verstehst du? Julias größte Stärke, das was sie so wunderbar und einzigartig macht, ist gleichzeitig ihre größte Schwäche, weil es sie anfällig für Angriffe aus dem Raum des Bösen macht. Deswegen kann sie ein Hasan oder eine Annika mögen. Und umgekehrt ist das Gleiche der Fall. Eine Annika oder ein Hasan verlieben sich gerade deshalb in Julia, weil sie die einzige Person ist, die ihnen ohne zu urteilen lieben kann. Weil sie noch das Gute in ihnen sieht, oder zumindest daran glaubt, dass es irgendwo vorhanden ist. Deshalb ziehen sich diese Gegensätze an, deshalb diese krasse Verbindung zwischen Gut und Böse! Das Diagramm hat es wieder einmal gerichtet. Unglaublich!“
Frank war verblüfft. Sein Freund hatte wirklich Recht. Wieso war er nicht darauf gekommen?
„Aber was machen wir jetzt?“ fragte Frank. Er freute sich, dass Julia trotzdem noch immer eine Heilige war, das bedeutete ihm eine Menge, aber noch war sie mit Hasan zusammen.
„Alleine sind wir nicht stark genug, um gegen Hasan anzukommen“, sagte Dennis, „alleine ist er zu stark, zu böse. Dagegen kommen wir nie im Leben an. Aber ich glaube ich weiß schon, wer stark genug ist, wer böse genug ist, und wessen ganzer Zorn mit Sicherheit jetzt auf Hasan fixiert ist.“
„Annika“, sagte Frank still vor sich hin, fast wie im Trance. „Annika.“
„Du hast es erkannt, mein Freund“, sagte Dennis. „Die Oberhäupte des Bösen. Die Beiden werden sich nicht anziehen, so viel steht fest. Annika wird Hasan sowieso schon hassen, so wie sie alle Männer hasst, und jetzt hat er ihr noch die geliebte Julia geraubt. Wir müssen uns mit ihr verbünden, wenn wir Hasan stoppen wollen!“
Frank lief es kalt den Rücken hinunter. Mit Annika verbinden? „Ich weiß nicht so genau“, sagte Frank etwas ängstlich.
„Mir ist es auch etwas unwohl dabei“, gab Dennis zu. „Sie macht mir auch Angst, aber man darf nicht unterschätzen wie ein gemeinsamer Feind Menschen zusammenbringen kann. Wir müssen es versuchen. Annika ist die einzige Person, die ich kenne, die es mit Hasan aufnehmen kann. Wir brauchen sie!“
„Okay“, sagte Frank langsam.
Annika war das erste Mädchen, das in Frank den Wunsch weckte einen größeren Penis zu haben. Sie war das unangefochtene Alpha-Weibchen der zehnten Klasse, ein rebellisches, aufmüpfiges, Frauen-Power Emanzengirl der allerhöchsten Stufe. Alles was sich Annika in den Weg stellte wurde niedergeschrieen: Jungs, Mädels, Fünfklässler und sogar Lehrer. Annikas Problem war aber nicht ihr Aussehen, wie es bei jungen Frauen häufig der Fall ist. Annika war zwar relativ groß und kräftig gebaut, aber sie hatte durchaus eine weibliche Figur und war nicht irgendwie fett. An sich war sie gar kein unschönes Mädchen. Sie hatte lange schwarze Haaren, glatte weiße Haut und große dunkle Augen. Aber kein Mensch auf der Welt fand Annika schön. Für Frank und alle auf seiner Schule war sie einfach das lebende Sinnbild einer Ultrazicke. Wenn man an ihr vorbeilief hielt man am besten nicht nur die Luft an, sondern auch die Eier fest.
Irgendwann stellte Frank dann im Laufe seiner Schulbahn auch fest, was Annikas Problem war. Ihre laute nervige Stimme, ihre aufbrausende Art und ihre permanente Aggression, die sie auf alles richtete, was ihr im Weg stand, waren eigentlich nur Ausdruck ihres brennenden Verlangens, mal richtig krass durchgefickt zu werden. Das war Annikas Problem. Sie brauchte einen Fick. Schlagartig war dieser Satz in Franks Bewusstsein gesprungen. Sie will gefickt werden. Und zwar hart. Und irgendwann stellte Frank auch fest, dass er ihr dabei eigentlich gerne geholfen hätte, bloß zweifelte Frank daran, ob er es überhaupt konnte – und genau dort lag der Haken.
„Würdest du gern mit Annika schlafen?“ fragte Frank Dennis eines Tages als sie auf ihren Fahrrädern heimfuhren, und lachte dumm als er es sagte, so als ob es das Ganze doch nur ein blöder Witz war.
„Ich will keinen Sex mit ihr“, sagte Dennis, „ich will sie so krass durchficken, dass sie nie wieder richtig laufen kann.“
Dieser Satz hatte Frank zuerst überrascht, aber später dann doch beruhigt, weil er sich eingestehen musste, dass ihm selbst ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen, die ihn ab und an ein wenig verunsicherten. Außerdem war Dennis ein ziemlich sensibler Typ. Solche Sätze kamen nicht einfach so aus seinem Mund.
Diese Gefühle rührten nicht daher, dass man wirklich Annika Weh tun wollte, oder zumindest nicht ganz. Man hätte auch sagen können, dass man sie helfen wollte, denn Annika verlangte nach etwas und eventuell besaß man ja die Kraft es ihr zu geben, man tat ihr einen Gefallen also. Aber auch das stimmte nicht ganz. Im Grunde ging es allein um die eigene Männlichkeit. Und es war genau diese Männlichkeit, die Annika mit ihrem Verhalten zwangsläufig in Frage stellte. Es schien nämlich so, als ob Annika deshalb so aufgewühlt war und alle Menschen hasste, weil die komplette Männerwelt beim besten Willen nicht dazu fähig war, ihre Bedürfnisse gerecht zu werden. Frank hatte das Gefühl, das was Annika wollte war gar keinen Sex, sondern einen krassen Fick, oder einen Endzeitfick. Und hätte sie den erst bekommen, dann müsste der endgültige Armageddonfick her, und danach vielleicht ein Pferd, oder ein Elefant, und dann würde sie von Aliens träumen mit rotierenden Nobbenschwänze, die vibrierten und mit speziellen vaginaerregenden Säuren um sich spritzen. Annika wollte in den Ruhestand gefickt werden. Das ist was Annika brauchte, bloß wusste Frank nicht, ob er oder sonst irgendjemand, das hinbekam. Und so fühlten sich Frank und auch alle anderen Jungs, die Annika fürchteten, in ihrer Männlichkeit angegriffen und wünschten sich einen größeren Penis.
Es war nicht einfach ein Treffen mit Annika zu arrangieren. Frank und Dennis befanden sich mitten in den Osterferien und Annikas Telefonnummer hatten sie nicht. Sie wussten auch nicht genau, wo sie wohnt, und so mussten sie einige seltsame Telefonate mit anderen Mitschülern machen, bis sie endlich jemanden gefunden hatten, der Annikas Nummer kannte.
„Ich bin mir immer noch unsicher“, sagte Frank als sie dann auch endlich die Nummer hatten. „Ich meine, selbst mit Annika auf unserer Seite, was können wir wirklich bezwecken?“
„Wir müssen auf Annika vertrauen“, sagte Frank still vor sich her. „Denke an Julia, wir tun es ja für sie. Wir müssen sie aus den Klauen des Teufels befreien. Wir werden nie wieder mit gutem Gewissen einschlafen können, wenn wir jetzt aufgeben.“
Frank nickte. Er saß auf seinem Bett neben Dennis, der ein schnurloses Telefon in seiner rechten Hand und einen kleinen Zettel mit Annikas Nummer in der linken hielt.
„Also gut“, sagte Frank, „dann mach es. Ruf an!“
Dennis zögerte. „Ich dachte, du rufst an.“
„Wieso ich?“
„Na, ich hab die Nummer abgecheckt, jetzt musst du anrufen.“
„Wieso das denn? Du hast dich doch gerade als ausgezeichneter Telofonist hervorgetan. Wie du so gekonnt und unscheinbar nach Annikas Nummer immer wieder gefragt hast! Das war schon verdammt beeindruckend, mein Freund! Du solltest bei einem Call-Center arbeiten. Du hast echt Talent! Ja, was denn? Das ist mein Ernst!“
Dennis schaute Frank unbeeindruckt an. „Alter, vergiss es. Du kannst labern so viel du willst. Du rufst jetzt an.“
„Machen wir Sching, Schang, Schong. Auf geht’s! Sching, Schang, Schong!“
Dennis hielt Frank das Telefon vor die Nase.
„Ja gut, scheiß drauf, dann mach ich es halt“, sagte Frank und nahm Dennis das Telefon ab. „Glaubst du ich habe jetzt Angst vor irgendeiner blöden Tussi, oder was?“
Dennis zuckte mit den Achseln und grinste wieder breit. Frank schüttelte seinen Kopf und fuhr mit seiner Hand durch seine Haare. Natürlich hatte er Angst anzurufen! Bei Annika? Was sollte er denn sagen? Hallo, hier ist Frank, kannst du mir helfen Hasans Leben zu zerstören? Frank zögerte. So schlecht klang das ja gar nicht...
„Komm gib mir die Nummer“, sagte Frank. „Ich bringe es jetzt hinter mir.“
Frank nahm das Zettel, gab so schnell wie möglich die Nummer in das Telefon ein, und versuchte nicht daran denken, bei wem er eigentlich anrief.
„Immer mit der Ruhe“, flüsterte ihm Dennis zu, als es klingelte. „Denke an was Schönes. Denke an Blumen, oder an grüne Wiesen, oder…“
„Halt die Fresse!“
„Schon gut, schon gut…“
Frank versuchte sich zu konzentrieren. Einfach sachlich bleiben. Einfach sachlich bleiben...
„Hallo?“
„Ja, hallo hier ist Frank, kann ich die Annika sprechen?“
Es war kurz still. Frank schluckte.
„Was willst du?“, sagte dann eine kühle Stimme am anderen Ende der Leitung, und Frank merkte jetzt wie sehr sein Herz pochte. Er sprach jetzt mit der Ultrazicke höchstpersönlich.
„Jaaa… es ist so. Ähm… ich rufe an, weil…“
„Was willst du?“ sagte die eiserne Stimme wieder und Frank spürte wie sein Zeitfenster zum Sprechen rasant kleiner wurde. Er musste jetzt alles geben. Er musste jetzt sprechen. Komme was wolle. Für Julia. Tu’s für Julia.
„Wir suchen jemand, der uns dabei hilft, Hasans Leben zu zerstören.“
Es war wieder still. Frank schaute zu Dennis hoch. Er starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an.
„Wer sind wir?“ fragte Annika.
„Nur ich und Dennis“, sagte Frank. „Nur ich und Dennis.“
Wieder war es still. Eine Killerin überlegt sich eben gut, was sie sagt.
„Pass auf“, sagte dann die kalte Stimme, „ihr tut ganz genau, was ich euch sage. Ganz genau. Und ihr stellt keine Fragen. Hast du verstanden?“
„Ja, ja, ich hab’s verstanden.“
„Gut… hast du Stift und Papier?“
„Ja, hab ich.“
„Du rufst nachher bei Hasan an. Ich gebe dir eine bestimmte Nummer, und wenn er rangeht sagst du Folgendes: Hallo. Ich bin ein Freund von Serkan, ich wollte fragen ob du Lust auf Kino hast? Hast du das aufgeschrieben?“
„Ja.“
„Du musst ganz genau diese Wörter benutzen, sonst funktioniert es nicht.“
„Okay.“
„Gut, wenn du das gesagt hast, wartest du ab, was Hasan sagt. Versuche cool zu bleiben. Und nichts Dummes sagen.“
„Okay.“
„Er wird dann ein Treffen mit dir arrangieren. Das notierst du dir. Alles klar?“
„Ja, alles klar.“
„Dann rufst du bei mir an erzählst mir wo und wann euer Treffen stattfindet.“
„Okay. Und dann?“
„Dann gehst du dorthin mit fünfzig Euro in deiner Tasche und gibst sie Hasan. Er wird dir dann auch etwas geben. Das steckst du ein und läufst weg.“
„Okay.“
„Dann rufst du einfach gleich wieder bei mir an.“
„Okay.“
„Hast du dir das alles notiert?“
„Ja, hab ich.“
„Gut.“
„Ja und was passiert dann?“
„Hör mir gut zu. Du stellst keine Fragen. Du macht einfach das, was ich sage. Wenn du wieder bei mir anrufst, dann kommst du zu mir und gibst mir das Zeug. Verstanden?“
„Verstanden.“
Sie legte auf.
Ein Tag später schien die Sonne hoch und prächtig über dem Marienplatz in Franks beliebtes Städtchen. Vögel zwitscherten, Kinder spritzten sich nass mit Wasserpistolen, und vor der örtlichen Eisdiele war eine Riesenschlange. Die Atmosphäre war im Allgemeinen recht entspannt, nur Frank fühlte sich unwohl.
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei“, sagte Frank zu Dennis, der sich zusammen mit ihm hinter einem Baum von der großen Masse versteckt hielt. „Ich meine, was glaubst du wird uns der Hasan geben?“
„Er wird uns vielleicht Drogen geben“, sagte Dennis nüchtern.
„Ja und dann?“
„Das haben wir doch alles schon besprochen. Wir laufen dann weg und rufen bei Annika an. Sie wird weiter wissen. Vielleicht geht Annika mit dem Zeug zur Polizei, oder vielleicht zeigt sie es bloß Julia, damit sie weiß, mit was für einen Typen sie zusammen ist. Komm schon. Gehen wir. Wird schon schief gehen.“
Hasan hatte ein Treffen mit Frank und Dennis am Stadtbrunnen vereinbart, mitten unter den Menschen.
Hasan wartete schon auf sie, als Frank und Dennis angelaufen kamen. Er grinste hämisch, als er sie kommen sah. Er trug ein weißes Muskelshirt und eine Badehose, sah aber zum Glück relativ relaxt aus.
Ich hasse dich, dachte sich Frank, lächelte aber so gut es ging freundlich und lässig zurück.
„Habt ihr das Geld?“ fragte Hasan, als Frank und Dennis vor ihm standen, und spuckte dann einfach so neben sich auf den Boden, scheinbar ohne Grund.
Frank holte die fünfzig Euro aus seiner Hosentasche heraus und gab sie Hasan.
Hasan zählte das Geld und lachte vor sich hin. „Ha, ihr Kartoffeln, echt! Manchmal macht ihr mich echt fertig. Voll die Streber seid ihr, aber dann die Bude mit Mamas Geld vollkiffen, nicht wahr? Ha, ha! Komm schon, ist doch so? Oder nicht?“
Hasan klopfte kräftig gegen Dennis' Schulter.
„Ja, so wird es wohl sein“, sagte Dennis.
Hasan verdrehte die Augen. „So wird es wohl sein!“ äffte er Dennis nach. „Junge, sind wir hier in der Schule, oder was? So ist es einfach. So ist es! Nicht, so wird es wohl sein… Alter geh mal ein bisschen an die frische Luft!“
Dennis wusste nichts zu sagen, schaute auf den Boden.
„Hier, nimmt eueren Shit und haut jetzt ab. Verschwindet." Hasan legte ein kleines Tütchen in Franks Hand.
„Halt, alle Drei stehen bleiben!“ schrie eine kräftige männliche Stimme von irgendwo hinter Frank.
„Ach du scheiße“, sagte Hasan, und schien dann einen Augenblick lang mit dem Gedanken zu spielen, abzuhauen, blieb dann aber doch resigniert stehen.
„Ihr werdet festgehalten für den Handel und Besitz von illegalen Drogen! Macht euch jetzt nicht noch unnötig das Leben schwer. Kommt einfach am besten mit.“
Aus dem nichts waren vier Polizisten aufgetaucht und hatten Frank, Hasan und Dennis umzingelt.
„Scheiße“, sagte Frank zu Dennis. „Was passiert denn hier?“
„Ich glaube, wir werden verhaftet.“
„Gehört das zum Plan?“