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Rheinfahrt in die Vergangenheit
Bis zum nächsten Ort wartete er. Beobachtete das Ablegen des Dampfers, der sich mit einem langgezogenem Pfeifen vom Anleger verabschiedete und zügig seine Position in der Fahrrinne einnahm.
Nebel umwaberte den Turm der Burg hoch oberhalb des Ortes. Die Passagiere suchten sich einen sonnigen Platz auf dem Oberdeck. Morgenkälte kroch in ihre Jacken und Pullover. Paare schmiegten sich eng aneinander; wer sich ein Heißgetränk bestellt hatte, umklammerte den wärmenden Becher mit seinen Händen.
Johann geht auf das Hinterschiff, von dem aus er das mächtige, feuerrote Schaufelrad des Seitenraddampfers beobachten kann. Gischt schäumt aus dem seitlichen Kasten, in dem das Rad das Fahrgastschiff unaufhaltsam stromaufwärts treibt. Minutenlang steht er dort, ohne sich zu bewegen, in Gedanken versunken. Bevor das Schiff am nächsten Ort anlegt, greift er nach seiner Tasche und betritt den Fahrgastraum des Oberdecks, dessen getäfelte Wände und Parkettfußböden die Gemütlichkeit längst vergangener Zeiten verströmen. Er setzt sich an einen der Vierertische, Blickrichtung stromaufwärts. Bestellt sich etwas zu essen, hierzu muss er nicht in die Karte sehen, er bestellt das, was er immer bestellt hat. Dazu eine Flasche Wein. Zwei Gläser. Um nicht von den eindringenden Sonnenstrahlen geblendet zu werden, zieht er den Vorhang des Fensters ein paar Zentimeter zu. Entnimmt seiner Tasche zwei Teelichter und einen handgroßen Bilderrahmen, den er gegen den Vorhang lehnt. Still sitzt er vor den Teelichtern, immer wieder betrachtet er das Bild. Von der vorbeiziehenden Landschaft nimmt er keine Notiz.
Die Goethe kämpft sich in langsamer Fahrt stromaufwärts durch die Stromenge am Loreleyfelsen. Viele Passagiere sind auf das Außendeck gegangen. Jeder will ein Erinnerungsfoto der steil aufragenden Gesteinsformation machen, möglichst ein Selfie, das sie bei nächster Gelegenheit versenden würden und damit signalisieren ich bin hier, an diesem berühmten Ort, der Jahr für Jahr hunderttausende Touristen ins Rheintal zieht.
Ausströmender Dampf zischt aus dem Schornstein, das Geräusch der eintauchenden Radschaufeln wird vom Einsetzen des Loreley-Lieds übertönt, das vom Band gespielt wird, wann immer die Goethe an dem Felsen vorbei fährt.
So schöne Haare wie die Loreley hatte meine Charlotte auch, denkt Johann. Er lächelt, als er sich bei diesem Gedanken ertappt. Dann nimmt er einen Schluck aus einem der beiden Weingläser, die halbvoll auf dem Tisch stehen. Dabei scheint er mit einer Geste einem imaginären Gegenüber zuzuprosten, seine Lippen bewegen sich.
Schwerfällig steht er auf, gebückt geht er vorsichtig die Treppe runter ins Untergeschoß, dort, wo man die gewaltigen Pleuelstangen des Motors durch eine Glasscheibe beobachten kann. Unaufhaltsam schwingen sie im Rhythmus auf- und ab, übertragen die Kraft auf die eisernen Schaufelräder beidseits des Rumpfs.
Wie viel Kraft hat das Leben manchmal gekostet, denkt Johann. In den Aufbaujahren, als Berufs- und Privatleben gleichzeitig geschultert werden mussten. Die tägliche Arbeit in der Fabrik, der Ausbau des Häuschens. Die Kindererziehung, die zumeist von Charlotte übernommen wurde. Wenig war geblieben neben Arbeit und Familie. Nur selten hatten sie Zeit gefunden, das Miteinander so zu genießen, wie sie es sich bei ihrer Hochzeit versprochen hatten. Reisen, gemeinsame Abendessen mit Freunden, kulturelle Vergnügungen, alles das wollten sie machen, wenn die Kinder erst einmal groß und aus dem Haus seien, er erst einmal in Rente sein würde.
Das Vibrieren des Schiffs, das die Fahrt stromaufwärts begleitet, ist einem sanften Dahingleiten gewichen. Zeichen dafür, dass sich die Goethe auf dem Rückweg der Reise befindet.
Der Lebensweg in den Aufbaujahren war schön, oft freudvoll, aber auch beschwerlich und voller Entbehrungen gewesen. In späteren Jahren dann, als Routine das Leben bestimmte, war es leichter geworden, vieles ging von selbst, aber die Jahre verflogen, kaum dass Johann merkte, wie unaufhörlich die Zeit verrann. So schön es war, so sehr er es sich manchmal gewünscht hatte, er hatte die Bremse nie finden können, die die rasante Fahrt verzögerte.
Wie oft hatte er diese Reise mit Charlotte gemacht! Immer an ihrem Hochzeitstag. Eine liebgewordene Tradition, von der sie nie ließen. Die sie beibehalten wollten, bis dass der Tod sie scheiden würde. Dieser Satz, der bei ihrer Hochzeit gesagt wurde, den sie hörten, der aber scheinbar inhaltsleer daher kam. Dessen erfüllende Realität so weit weg schien.
Erste Sonnenstrahlen brechen durch die nur langsam aufreißende Wolkendecke. Der Mann steht bereits seit einer Stunde am Grab, das direkt neben einer hunderte Jahre alten Eiche angelegt ist. Vom Friedhof hoch über dem Rhein kann man die Fluten sehen, die sich stromabwärts wälzen. Aus der Ferne ertönt das langgezogene Pfeifen der Goethe.