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Ringkampf an Weihnachten
Ringkampf an Weihnachten
Weihnachten. Es kommt mir vor, als wäre es erst letztes Jahr gewesen.
„Klingelingeling.“
Das war es. Das Zeichen. Ich meine DAS Zeichen. Das Zeichen, dass die Zeit „Streiten, Meckern, Rumgeschrei“ abschließt und zu „völlig freiwillige Harmonie, Idylle und Einigkeit“ ändert.
Meine Tochter kam heruntergerannt, Oh du fröhliche wurde, nun ja, „schön“ gesungen und die Geschenke wurden aufgemacht. Fragt sich nur, welchen Teil von „Wir schenken uns aber dieses Jahr nichts!“ meine Frau nicht versteht. Aber zum Glück hatte ich mich vorbereitet. Quasi als Vergeltung für mein „Ne, echt toll, kann ich super gebrauchen“, was soviel hieß wie: „Wenn du mir noch einmal eine Krawatte mit Pumuckl darauf schenkst, lass ich mich von dir scheiden“ hagelte es von meiner Frau ein „Wirklich schöner…Mixer!“.
Seit Jahren schon ist es jedes Jahr das gleiche bei uns. Am Heiligabend, dem schönsten aller Feiertage zwischen dem 23. und 27. Dezember gibt es labbrige Wiener Würstchen mit Fertig-Kartoffelsalat von Aldi.
Lecker.
Findet das zumindest meine Frau. Leider mag ich weder Wiener noch Kartoffelsalat. Jedes Jahr wieder versuche ich also, mich, während meine Frau noch isst, nach draußen zu schleichen, zur Dönerbude um die Ecke. Die hat nämlich auch Weihnachten offen. Zwar schaffte ich es auch dieses Jahr nicht, Murat, den Besitzer des „Antalya Kebap“, zu einem Weihnachtsangebot zu überreden, er meinte, es sei schließlich kein besonderer Tag, warum auch immer, trotzdem lief mir bei dem Gedanken an „einmal Döner mit alles, ohne Tomate und mit weiße Soße“ das Wasser im Mund zusammen.
Doch wieder war ich nicht mal bei der Haustür, als ich bei den Worten „Wo ist eigentlich Papa hingelaufen?“ meiner Tochter schon das Ende erahnte. Vorher waren wir freilich in der Kirche, saßen dort natürlich neben meiner Mutter, damit diese auch sieht, wie christlich wir doch sind und bezahlten beim Nickneger in der Krippe Ablass. Alles war wie jedes Jahr.
Wie jedes Jahr stand auch der alljährliche Besuch der Mutter meiner Frau im St. Anna Stift am ersten Weihnachtstag an. Nach zwanzig Minuten scheinbar trauter Familienidylle verabschiedeten wir uns mit „Tschüss Oma und bis zum nächsten Jahr“, wobei sich meine Frau, sobald die Tür geschlossen war, den sarkastischen Zusatz „wenn dann die Geräte noch nicht abgestellt sind“ nicht verkneifen konnte.
Kaum waren wir wieder zu Hause, da schob meine Frau sogleich die Weihnachtsgans mit Zimt-Apfelfüllung in den Ofen. Derweil war allerdings nichts mehr von der vorabendlichen „völlig freiwillige Harmonie, Idylle und Einigkeit“-Stimmung zu spüren, stattdessen war, mal wieder, Streit, Gemecker und Rumgeschrei angesagt.
Aber, na ja, was soll ich sagen, man gewöhnt sich dran.
Die Gans schmeckte gut. Die Äpfel kann man schließlich herausnehmen. Und wenn man sich den Rotkohl wegdenkt und den Salat sowie das Fleisch weglässt, dann kann man es eigentlich als rundum gelungen betrachten, dann ist schließlich nur noch die Haut übrig. Und die ist bekanntlich das Beste.
Am ersten Weihnachtstag, vorausgesetzt man hat alle Omas, Opas, Tanten und Onkels, die in irgendwelchen Alters- und Pflegeheimen abgestellt wurden, abgeklappert, ist bei uns Spielabend angesagt.
Der könnte ja friedlich werden. Aber wir haben ja eine Tochter.
Mau Mau. Ist ihr nicht recht.
Schach. Kann sie nicht.
Monopoly. Da fehlt das Bügeleisen, das sie spielen möchte.
Mühle.
Mühle?
„Ne, da gibt es immer Streit!“, sagte meine Frau. „Dann dürfen wir gar nichts spielen“, murmelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart.
Nachdem also alle Spiele irgendeinen Grund hatten, nicht gespielt zu werden, eine Stunde vergangen war, wir mehrere Heulkrämpfe unserer Tochter überlebt hatten und ich mir irgendwie wünschte, einfach einen Fernsehabend zu machen, so richtig schön mit Chips und Cola, wir würden Resident Evil gucken…hatte meine Frau eine tolle Idee. „Fragen wir doch mal Steffi, was sie spielen möchte! Also?“ „Arschloch!“
Da meine Frau schockiert war und drauf und dran, meiner Tochter eine Moralpredigt über Schimpfwörter zu halten, beschwichtigte ich sie und erklärte, dass es sich hierbei um ein Kartenspiel handelte.
Also spielten wir „Arschloch“. Wie idyllisch.
Meine Tochter entpuppte sich dabei wieder als äußerst gute Verliererin.
Ich war schon froh, dass es bei einem Kartenspiel keine Spielfiguren und Spielbretter gab, die sie umwerfen konnte.
Dafür musste der Weihnachtsbaum dran glauben. Aber egal, der kommt ja eh nach drei Tagen wieder raus.
Während meine Tochter also immer noch schrie, sich auf dem Boden wälzte und mit den Beinen und Armen strampelte, wobei einige Gläser zu Bruch gingen, einigten meine Frau und ich uns, besser gesagt, meine Frau einigte und ich wurde geeinigt, darauf, das Blag gewinnen zu lassen.
Schließlich endete der erste Weihnachtstag harmonisch, trotz das ich mir immer wieder versicherte: „Nächstes mal gebe ich nicht wieder nach!“
Aber das schlimmste stand mir ja noch bevor. Denn vor Sylvester und nach dem ersten Weihnachtstag kommt ja noch der zweite Weihnachtstag.
Schrecklich!
Nicht umsonst geht es an diesem Tag im Evangelium in der Kirche um Tod.
Doch was mich am zweiten Weihnachtstag erwartete, war schlimmer als der Tod.
Es war ein Familientreffen.
Es gab wohl nur eine Person auf der Welt, die diesen Tag mehr hasste als ich.
Meine Frau.
Schließlich war das Familientreffen bei meiner Familie.
Man möchte meinen, nach 19 Jahren gewöhnt man sich daran. Man meint falsch. Es war der Wahnsinn. Wie jedes Jahr.
Wir klingelten, in der Hoffnung, dieses Haus nach weniger als fünf Stunden wieder verlassen zu können. Als meine Mutter öffnete, vernahm ich zunächst einmal einen langen, hochgezogenen Atemlaut von ihr. Kurz gefolgt von: „Bist du aber groß geworden!“ Das sagt sie immer. Seit nunmehr sieben Jahren.
Dann wurde ich umarmt. Während ich nach Atem rang und meine Frau meinen Vater begrüßte, muss es für Außenstehende mehr ausgesehen haben wie ein Ringkampf denn wie eine Begrüßung. Doch so war meine Mutter. Man hatte sie von der Statur her schon für eine Rolle in vielen Filmen ausgesucht, bevor die Filmleute sich dann doch für Bud Spencer entschieden.
Wir gingen ins Wohnzimmer. Dort war schon das ganze Horrorkabinett wieder versammelt. Doch irgendetwas fehlte. Onkel Heinz. Doch da kam er auch schon zur Tür herein. Also erst kam der Bauch, dann der Rest. Aber eins muss man ihm lassen. Von hinten hat er sich in den letzten Jahren so gut wie gar nicht verändert. Und seine Sprüche auch nicht. „Ich bin nicht dick, ich habe nur die Beine ein wenig weiter hinten.“, wiederholte er wie in so vielen Jahren davor.
Die Geschenke wurden verteilt, im Grunde galt hierfür natürlich das Gleiche wie für den Heiligabend („Oh schön…Nein Mama, ich mag Pumucklkrawatten wirklich!“). Außerdem bekamen wir Geld. „Für schlechte Zeiten.“ Wobei ich dachte: “Wenn es wirklich für schlechte Zeiten wäre, müsste ich mich von dieser Familienfeier freikaufen.“
Außerdem setzten alle ein Dauergrinsen auf. Nur mein Onkel nicht, der ist wohl ein bisschen aus der Übung. Zum Glück blieben uns diesmal die Erzählungen vom zweiten Weltkrieg („früher hatten wir ja gar nichts“) erspart.
Ich habe das Fünf-Stunden-Dauergrinsen schon so gut trainiert, dass der Muskelkater hinterher nicht mehr bis Sylvester dauert.
Dann gab es Essen. Ich mag das Essen von meiner Mutter. Ich mag das Essen von meiner Mutter. Wenn man es oft genug sagt, glaubt man daran.
Verschrumpelter Brokkoli, verbrannte Minutensteaks und verkochte Kartoffeln. Lecker. Doch wenn man sich genügend Soße darauf tut, dann muss man das ja nicht mehr so eng sehen. Und es ist ja nur für einmal im Jahr.
Wir blieben gleich am Tisch sitzen. Denn es gab ja gleich Kaffee und Kuchen, bei dem es das spannendste war, meine Verwandten dabei zu beobachten, wie sie austesteten, wie viele Liter Kaffee ein Stück Zuckerkuchen aufsaugen oder wie viele Tonnen Sahne man auf ein Stück Plaumentorte schleudern kann.
Ich war schon froh, dass dieses Jahr niemand die Weihnachtsgeschichte erzählte, ein Gedicht aufsagte oder Urlaubsdias zeigte. Doch eine Sache hatte mein Bruder Noch im petto. Meine Nichte spielte Blockflöte. Wobei „spielen“ vielleicht etwas viel gesagt ist. Sie quälte uns mit der Blockflöte trifft es eher.
Das sind die Momente, in denen ich mich freue, dass meine Tochter die Sportlaufbahn eingeschlagen hat.
Oder dass ich meiner Tochter die Sportlaufbahn eingeschlagen habe.
Es ging weiter mit dem Abendessen. Auf den Weihnachtsfeier-Familientreffen meiner Mutter wird sowieso immer gegessen. Oder getrunken. Denn das wurde nach dem Abendessen gemacht. Und zwar nicht zu knapp. Normalerweise könnte man die starke Wirkung des Alkohols auf den leeren Magen schieben, doch leer war dieser ganz und gar nicht.
Dann wurden die alten Jugendgeschichten meines Vaters ausgepackt. Die gingen, wenn er etwas angeheitert nicht um den zweiten Weltkriech, wie er zu sagen pflegte, sondern um seine „Lausbubenstreiche“. Er erzählte fröhlich, wie er einmal einen ordentlichen Hucken Hundekot in eine Zeitung eingewickelt, beim Pfarrer vor die Haustür gelegt und angezündet hatte. Es wurde geklingelt und man wartete nun darauf, dass der Pfarrer aufmachte, die brennende Zeitung sah und sie austrat. Eine Mordsgaudi. Oder wie er bei einer Straßenbaustelle die rot-blinkenden Absperrungsbalken wegnahm und sich die anderen wunderten, warum dort ein Loch in der Straße ist.
Er erzählte. Und erzählte. Alle lachten. Nur er fand es wirklich lustig.
Als schließlich auch die letzten Gläser umgeworfen waren, die letzte Flasche Eierlikör geleert war, der Weg zur Tür durchgecatcht und die Aussage: „Ihr müsst öfter mal kommen!“ mit „Na klar!“ unwahrheitsgemäß beantwortet war, hatte Mutter noch eine letzte, grandiose Idee. „Übernachtet doch hier, dann müsst ihr nicht bei dem Wetter nach Hause fahren!“
Nicht das es geschneit hätte oder das es auch nur irgendwie schlechte Straßenbedingungen gab, aber irgendwas musste sie sich ja einfallen lassen.
Ich sage nur so viel: ich musste den Magen-Darm Infarkt nicht mal vortäuschen, um nicht dort übernachten zu müssen. Denn die explosive Mischung aus ein einhalb Litern Soße, drei verbrannten Steaks, fünf Tassen Kaffee, drei Tonnen Sahne, einem Stück Zuckerkuchen, einem großen Stück Pflaumentorte, mehreren steinharten lebkuchenähnlichen Materienblöcken, zwei Scheiben Brot mit Mett, drei Gläsern Bier und nicht zuletzt gut einer Flasche Eierlikör tat meiner Magen-Darm Flora überhaupt nicht gut.
Doch nicht nur meine Magen-Darm Flora musste darunter leiden, sondern auch die Lilien, neben denen ich gerade stand.
Während hinter mir noch Sprüche wie „So ein Kotzbrocken!“ gemacht wurden, sagte ich zu meiner Frau: „Sollte ich nächstes Jahr an Weihnachten wieder Döner essen wollen, erinnere mich bitte daran, was in dieser Nacht geschehen ist. In dieser Nacht, in dieser hochheiligen Nacht.“