Hallo @Habentus,
ich will nicht nerven und nun noch einmal herunterbeten, was ich zum letzten Text schon geschrieben habe. Nichtsdestoweniger beschäftigt mich das Thema weiter. Ich schrieb ja schon, dass ich mich selbst in meine Kritik, dass hier keiner richtige Geschichten erzählt, miteinschließe. Und ich bin in meinem Urteil klar: Bei mir liegt es daran, dass ich es nicht kann. Seit Jahren mache ich mir Gedanken darüber, warum das so ist. Warum habe ich keinerlei Sinn für Plots und Spannungsbögen und dafür, ein lebhaftes Figurenkabinett zu erschaffen, das auf mitreißende Weise miteinander umgeht? Ich denke, es liegt daran, dass ich im Schreiben immer stark auf mein eigenes Leben und meine Erfahrungen schiele. Und das Leben folgt einfach nicht einer narrativen Struktur, es ist chaotisch, nicht wirklich zielgerichtet, überladen mit allem (Menschen, Eindrücke, Zeit usw.).
Geschichten erfinden bedeutet aber, Dinge in eine mitreißende Ordnung zu bringen. Dafür muss man sehr selektiv narrative Elemente auswählen und anordnen. Mit "dem Leben" hat das meistens nicht viel zu tun, was im Grunde auch nicht schlimm ist. Denn Geschichten sollen ja nicht das Leben abbilden, sondern unterhalten und etwas vermitteln, was einem im Leben selbst eben nicht greifbar ist. Ich persönlich kann mich aber irgendwie nicht von "der Realität" lösen – zumindest nicht in meiner eigenen Arbeit. Immer, wenn ich es mir vornehme, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, so als würde ich Verrat an der Wahrheit begehen. Meine Probleme mit dem Geschichtenerzählen sind dabei ganz praktisch: Setze ich mich hin, um mir eine Geschichte auszudenken, ist mein Kopf leer. Da ist dann einfach nichts – bzw. alles, was mir einfällt, kommt mir augenblicklich abgeschmackt vor.
Hier ist die Krux: Als Leser oder Zuschauer will ich dennoch nicht einfach (anderer Leuts) chaotisches oder zielloses Leben miterleben. Da will ich sehr wohl eine gute Geschichte erzählt bekommen, etwas, was mich aus der Realtitä entführt und mir eine neue Welt zeigt. So gesehen messe ich mit zweierlei Maß, das habe ich in den letzten Jahren nicht zuletzt durch das Forum hier verstanden.
So viel als Einleitung zu meinem Kommentar. Warum so lange und persönlich? Weil ich denke, dass ich vielleicht nicht der einzige bin, der hier in gewisser Weise inkonsequent ist: nüchtern und neutral im eigenen Schaffen, aber anspruchsvoll und klassisch beim Rezipieren.
... In meinen Augen ist dein Text jedenfalls wieder eine "Nicht-Geschichte", eine Schilderung nah am Bericht, die klassische Erzählmuster links liegen lässt. Und wie bei der letzten Geschichte weiß ich nicht, was der Gewinn dieser Methodik bzw. dieses Stils ist. Warum ist es gewinnbringender, von persönlichen und dramatischen Ereignissen nüchtern und emotionslos zu berichten, anstatt sich dem Stoff und den Figuren maximal zu nähern und den Leser richtig reinzuziehen?
Ich denke, diese Frage musst du beantworten können und zwar "aus dem Text heraus". Damit meine ich: Stile müssen immer eine Funktion haben. Nüchterne Stile, so scheint mir, haben hier zwei Felder, auf denen sie punkten können: Entweder verlangt der Stoff nach Nüchternheit, weil jedes Pathos, jede Emotion seine Aussage überdecken oder schwächen würde. Oder der Inhalt ist auf der anderen Seite so unnüchtern, dass durch den Stil ein notwendiger Kontrast geschaffen wird.
Trifft auf deinen Stoff – physisches Familendrama – eins davon zu? In meinen Augen nicht. Die Familie ist ein Raum von Intimität, Nähe und eigenen Regeln, ist hochspeziell und individuell. Warum sollte man davon distanziert erzählen? Sehe ich nicht. Gleichzeitig ist die Familie aber auch kein ungewöhnlicher, wilder Raum, der durch einen nüchternen Stil kontrastreich beschienen wird. Auch von dieser Seite sehe ich daher keine guten Argumente für deinen lakonisch-unpersönlichen Ansatz in diesem Text.
Jetzt zur Story selbst. Eine Geschichte hat immer einen Protagonisten, eine Hauptfigur, die mit einer Herausforderung konfrontiert wird. Dann scheitert sie entweder daran oder sie überkommt sie. In deinem Text ist der Protagonist in meinen Augen der boxende Bruder, während der Erzähler sprachlich agiert.
Also erste Frage: Welche Aufgabe stellt sich dem Bruder? Und "Aufgabe" muss hier natürlich emotional definiert sein, sprich es reicht nicht, dass einfach mal gehandelt wird. Ein Kirmesboxer, der routiniert jeden Tag aufs Neue in den Ring steigt, um die betrunkenen Gäste mit links umzuhauen, hat aus erzähltheoretischer Sicht keine Aufgabe vor sich. Und deinem Protagonisten geht es genauso: Er wird als ewiger Sieger vorgestellt und die völlig unvermittelte emotionale Krise vor dem Kampf wird vom Erzähler nicht mit dem Kampf verknüpft. Genauer: Vom Kampf selbst ist gar keine Rede. Der Kampf ist also nicht die Aufgabe, die Herausforderung des Protagonisten. (Wenn es im Märchen heißen würde: "Am Morgen zog der Ritter sorgenvoll in den Kampf, am Abend genoss er bei einem Festmahl seinen Sieg" – gab es auch keine Herausforderung im Sinne einer Geschichte, obwohl in der fiktiven Realität eine Herausforderung als Faktum geschaffen wurde.)
Also: Wir haben einen Protagonisten, den Bruder, und eine unbestimmte Herausforderung, die ihn weinen lässt. Dann endet der Text, ohne weiter auf den Bruder einzugehen. Die Freundin verhält sich und der Vater, der Bruder wird nicht mehr wirklich erwähnt.
Sorry, aber das ist keine Geschichte. Und das ist nicht mein Geschmacksurteil, das ist in meinen Augen eine durch die Literaturtheorie gedeckte Tatsache. Eine Geschichte definiert sich so, dass Ereignisse sinnvoll aufeinander bezogen werden. Das hebt sie vom Bericht bzw. einer Chronologie ab. Notwendiger modus operandi:
Der Ritter starb und die Königin weinte. => Nicht bezogen bzw. nicht geplottet.
Die Königin weinte, weil der Ritter starb. => Bezogen bzw. geplottet.
Und ich gehe noch weiter: Selbst wenn der letzte Absatz klar auf den Bruder und sein Weinen bezogen wäre, würde es in meinen Augen keine Geschichte schaffen, denn wie ich beim letzten Text schon schrieb: Damit wäre doch erst eine initiale Krise, ein auslösendes Ereignis geschaffen, also die Herausforderung, nach der wir bereits suchen.
Ein erfolgreicher Nachwuchsboxer gewinnt seinen nächsten Kampf, doch wie sich zeigt, ...
So könnte man den Plot dann zusammenfassen und es zeigt sich hier doch, dass das ein Geschichtenanfang ist, nicht bereits die Geschichte. Im Verlauf der Geschichte müsste sich der Bruder zu diesem Problem, das sich ihm aufgetan hat, verhalten – mit gutem oder schlechten Ausgang.
Jetzt kommt vielleicht der Einwand, dass es aber doch eine Kurzgeschichte, ja sogar Flash Fiction ist usw. Ja, dann muss das alles da rein, zumindest als Rückschluss aus Andeutungen, es muss aus dem Subtext sprechen, zwischen den Zeilen stehen, in den Dialogen oder dem Ausdruck der Figuren manifestiert sein oder sonstiges.
Anstatt vom ersten Riss zu erzählen, müsstest du also andeuten, dass es bereits Risse gibt – und dann davon erzählen, ob das Band hält oder komplett reißt. Beispiel:
Vater und Bruder unterhalten sich vor dem Kampf und aus dem Gespräch geht subtil hervor, dass der Bruder starke Zweifel an seinem Handeln hat, nicht mehr wirklich boxen will. Aber der Vater überhört diese Hinweise und redet ihn stark. Dann verliert er den Kampf und es kommt zur Heimfahrt, wo dem Vater dämmert, dass er sich etwas vorgemacht hat. Darauf wiederum reagiert der Bruder entweder beschwichtigend (wäre eine Niederlage für den Protagonisten, weil keine Entwicklung) oder selbstbewusst (Sieg = neues Leben, Entwicklung, Emanzipation). Das wäre zum Beispiel eine runde Geschichte.
Du willst bestimmt jetzt einiges entgegnen. Immer gerne! Ich bin nur davon überzeugt, dass keiner hier im Forum gegen Jahrtausende altes Wissen über die Erzählkunst wird argumentativ gewinnen können. Wenn man sich einmal mit den tieferliegenden Mustern vertraut gemacht hat, wird man sehen, dass selbst Dokus und so mancher Zeitungsartikeln, also Sach"texte" diesen Mustern folgen, weil sie funktionieren. Auf der anderen Seite wird man meiner Meinung nach nie das Feedback erhalten: "Toller Text, hat mich wirklich reingezogen und mitgerissen, ich war wirklich an den Figuren dran und dabei", wenn man sich dagegen sträubt, gängige Erzähltechniken (clever) anzuwenden. Und bei genauerem Hinsehen folgen selbst die Anti-Erzähler wie zum Beispiel Bukowski diesen Mustern: Hab neulich mal aus anderen Gründen die erste Seite eines seiner Romane aufgeschlagen und da war nach zehn Zeilen der Grundkonflikt der Hauptfigur platziert.
Freundliche Grüße
Henry