Was ist neu

Risse

Mitglied
Beitritt
05.07.2020
Beiträge
356
Anmerkungen zum Text

Während des Versuchs, einen meiner Texte zu überarbeiten, ist diese Flash Fiction entstanden. Das ist kein Ersatz für die Überarbeitung des anderen Textes, der ebenfalls hier hochgeladen wurde, sondern ist nebenher entstanden.

Risse

Mein Bruder trat bei einem Box-Turnier an, und er hatte noch nie einen Kampf verloren.
Es war sehr heiß, und wir standen auf dem Parkplatz der Sporthalle im Schatten einiger Bäume. Ich trank Fanta aus einer grünen Flasche und wir begrüßten seinen Trainer und einige der Jungs aus dem Verein. Mein Bruder hatte den Arm um seine Freundin gelegt. Unsere Eltern kamen dazu und schüttelten Hände. Dann redeten wir über das Turnier und wir alle klopften abwechselnd auf die Schultern meines Bruders, so, als hätte er den Kampf schon gewonnen. Er machte einen Witz und lachte laut.

Am Mittag, nach dem Wiegen und als die ersten Kämpfe begannen, saß ich zusammen mit seiner Freundin auf einer Bordsteinkante. Wir sahen zu, wie er sich bewegte. Langsam und kontrolliert, sorgsam jeden Schritt setzend, mal die linke, mal die rechte Schulter nach vorne gedreht, mit federnden Fußbewegungen, immer um denselben unsichtbaren Punkt herum, den nur er sehen konnte. Ich fand, dass es aussah, als würde er tanzen, aber das sagte ich ihm nicht.
Als wir reingingen, wuschelte er mir durch die Haare und wich grinsend aus, als ich nach ihm schlug.

Eine halbe Stunde vor dem Kampf war er verschwunden. Keiner wusste, wo er war. Niemand hatte ihn gesehen und ich ging ihn suchen. In der Halle stand die Luft. Ein paar Kinder wuselten mit ernsten Mienen, angebissene Brezeln und halbvolle Limoflaschen in den Händen, zwischen den Beinen der Erwachsenen herum, und ein kleiner Mann in einem weißen Hemd und mit einem Mikrofon in der Hand stand im Ring und kündigte eine Pause an, bevor es mit den nächsten Kämpfen weitergehen sollte. Meinen Bruder konnte ich nirgendwo entdecken. Ich sah auf den Toiletten nach, suchte bei den Duschen und in den Umkleiden. Dann ging ich zu den Kabinen im hinteren Teil der Halle. Ich öffnete die Tür und dort sah ich ihn auf einer Bank sitzen. Er hatte seine Hände bandagiert und er trug das rote Trikot seines Vereins. Ich sah, dass er weinte. Als er wahrnahm, wie ich in der Tür stand und zu ihm herüberblickte, hielt er inne. Er hob eine Hand, machte eine Bewegung, als wollte er mich wegwischen, das Gesicht verzerrt.

Später, als wir nach Hause fuhren, ich mit ihm und seiner Freundin auf der Rückbank, und alle laut durcheinander redeten und lachten, sah ich zu ihm herüber. Er hatte ihr die Medaille umgehängt. Sie grinste und strich mit ihren Fingern über seinen Handrücken. Unser Vater schaute in den Rückspiegel. Seine Augen glänzten. Er drehte das Radio herunter und schlug vor, dass wir zur Feier des Tages eine Pizza essen gehen sollten.

 

Hey @Habentus,

schön, aber so richtig will der Funken bei mir nicht zünden. Der Kern des Textes, der Rückzug vor dem Kampf und die Tränen des "Champion", der steht da irgendwie so sehr isoliert, für mich zumindest, denn für mich erschließen sie sich nicht aus dem davor und danach. Ich kann ihm jede Menge Gründe dafür andichten: Erwartungsdruck zu hoch, keinen Bock mehr drauf, ich tue das nur noch für die anderen, meine Freundin hat gestern meinen besten Freund gefickt, der Hamster ist gestorben ... was auch immer ihm die Tränen in die Augen treibt, ist ja die eigentliche Geschichte und die fände ich schon spannend zu lesen. So ist eher, ja, na ja, geht ja gut aus. Er gewinnt, auch wenn ihn irgendwas umtreibt.

Vielleicht sind andere Leser:innen da feinsinniger als ich und es steht alles da, und ich seh es halt nicht, mag sein.

Beste Grüße, Fliege

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Habentus,

ich will nicht nerven und nun noch einmal herunterbeten, was ich zum letzten Text schon geschrieben habe. Nichtsdestoweniger beschäftigt mich das Thema weiter. Ich schrieb ja schon, dass ich mich selbst in meine Kritik, dass hier keiner richtige Geschichten erzählt, miteinschließe. Und ich bin in meinem Urteil klar: Bei mir liegt es daran, dass ich es nicht kann. Seit Jahren mache ich mir Gedanken darüber, warum das so ist. Warum habe ich keinerlei Sinn für Plots und Spannungsbögen und dafür, ein lebhaftes Figurenkabinett zu erschaffen, das auf mitreißende Weise miteinander umgeht? Ich denke, es liegt daran, dass ich im Schreiben immer stark auf mein eigenes Leben und meine Erfahrungen schiele. Und das Leben folgt einfach nicht einer narrativen Struktur, es ist chaotisch, nicht wirklich zielgerichtet, überladen mit allem (Menschen, Eindrücke, Zeit usw.).

Geschichten erfinden bedeutet aber, Dinge in eine mitreißende Ordnung zu bringen. Dafür muss man sehr selektiv narrative Elemente auswählen und anordnen. Mit "dem Leben" hat das meistens nicht viel zu tun, was im Grunde auch nicht schlimm ist. Denn Geschichten sollen ja nicht das Leben abbilden, sondern unterhalten und etwas vermitteln, was einem im Leben selbst eben nicht greifbar ist. Ich persönlich kann mich aber irgendwie nicht von "der Realität" lösen – zumindest nicht in meiner eigenen Arbeit. Immer, wenn ich es mir vornehme, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, so als würde ich Verrat an der Wahrheit begehen. Meine Probleme mit dem Geschichtenerzählen sind dabei ganz praktisch: Setze ich mich hin, um mir eine Geschichte auszudenken, ist mein Kopf leer. Da ist dann einfach nichts – bzw. alles, was mir einfällt, kommt mir augenblicklich abgeschmackt vor.

Hier ist die Krux: Als Leser oder Zuschauer will ich dennoch nicht einfach (anderer Leuts) chaotisches oder zielloses Leben miterleben. Da will ich sehr wohl eine gute Geschichte erzählt bekommen, etwas, was mich aus der Realtitä entführt und mir eine neue Welt zeigt. So gesehen messe ich mit zweierlei Maß, das habe ich in den letzten Jahren nicht zuletzt durch das Forum hier verstanden.

So viel als Einleitung zu meinem Kommentar. Warum so lange und persönlich? Weil ich denke, dass ich vielleicht nicht der einzige bin, der hier in gewisser Weise inkonsequent ist: nüchtern und neutral im eigenen Schaffen, aber anspruchsvoll und klassisch beim Rezipieren.

... In meinen Augen ist dein Text jedenfalls wieder eine "Nicht-Geschichte", eine Schilderung nah am Bericht, die klassische Erzählmuster links liegen lässt. Und wie bei der letzten Geschichte weiß ich nicht, was der Gewinn dieser Methodik bzw. dieses Stils ist. Warum ist es gewinnbringender, von persönlichen und dramatischen Ereignissen nüchtern und emotionslos zu berichten, anstatt sich dem Stoff und den Figuren maximal zu nähern und den Leser richtig reinzuziehen?

Ich denke, diese Frage musst du beantworten können und zwar "aus dem Text heraus". Damit meine ich: Stile müssen immer eine Funktion haben. Nüchterne Stile, so scheint mir, haben hier zwei Felder, auf denen sie punkten können: Entweder verlangt der Stoff nach Nüchternheit, weil jedes Pathos, jede Emotion seine Aussage überdecken oder schwächen würde. Oder der Inhalt ist auf der anderen Seite so unnüchtern, dass durch den Stil ein notwendiger Kontrast geschaffen wird.

Trifft auf deinen Stoff – physisches Familendrama – eins davon zu? In meinen Augen nicht. Die Familie ist ein Raum von Intimität, Nähe und eigenen Regeln, ist hochspeziell und individuell. Warum sollte man davon distanziert erzählen? Sehe ich nicht. Gleichzeitig ist die Familie aber auch kein ungewöhnlicher, wilder Raum, der durch einen nüchternen Stil kontrastreich beschienen wird. Auch von dieser Seite sehe ich daher keine guten Argumente für deinen lakonisch-unpersönlichen Ansatz in diesem Text.

Jetzt zur Story selbst. Eine Geschichte hat immer einen Protagonisten, eine Hauptfigur, die mit einer Herausforderung konfrontiert wird. Dann scheitert sie entweder daran oder sie überkommt sie. In deinem Text ist der Protagonist in meinen Augen der boxende Bruder, während der Erzähler sprachlich agiert.

Also erste Frage: Welche Aufgabe stellt sich dem Bruder? Und "Aufgabe" muss hier natürlich emotional definiert sein, sprich es reicht nicht, dass einfach mal gehandelt wird. Ein Kirmesboxer, der routiniert jeden Tag aufs Neue in den Ring steigt, um die betrunkenen Gäste mit links umzuhauen, hat aus erzähltheoretischer Sicht keine Aufgabe vor sich. Und deinem Protagonisten geht es genauso: Er wird als ewiger Sieger vorgestellt und die völlig unvermittelte emotionale Krise vor dem Kampf wird vom Erzähler nicht mit dem Kampf verknüpft. Genauer: Vom Kampf selbst ist gar keine Rede. Der Kampf ist also nicht die Aufgabe, die Herausforderung des Protagonisten. (Wenn es im Märchen heißen würde: "Am Morgen zog der Ritter sorgenvoll in den Kampf, am Abend genoss er bei einem Festmahl seinen Sieg" – gab es auch keine Herausforderung im Sinne einer Geschichte, obwohl in der fiktiven Realität eine Herausforderung als Faktum geschaffen wurde.)

Also: Wir haben einen Protagonisten, den Bruder, und eine unbestimmte Herausforderung, die ihn weinen lässt. Dann endet der Text, ohne weiter auf den Bruder einzugehen. Die Freundin verhält sich und der Vater, der Bruder wird nicht mehr wirklich erwähnt.

Sorry, aber das ist keine Geschichte. Und das ist nicht mein Geschmacksurteil, das ist in meinen Augen eine durch die Literaturtheorie gedeckte Tatsache. Eine Geschichte definiert sich so, dass Ereignisse sinnvoll aufeinander bezogen werden. Das hebt sie vom Bericht bzw. einer Chronologie ab. Notwendiger modus operandi:

Der Ritter starb und die Königin weinte. => Nicht bezogen bzw. nicht geplottet.

Die Königin weinte, weil der Ritter starb. => Bezogen bzw. geplottet.

Und ich gehe noch weiter: Selbst wenn der letzte Absatz klar auf den Bruder und sein Weinen bezogen wäre, würde es in meinen Augen keine Geschichte schaffen, denn wie ich beim letzten Text schon schrieb: Damit wäre doch erst eine initiale Krise, ein auslösendes Ereignis geschaffen, also die Herausforderung, nach der wir bereits suchen.

Ein erfolgreicher Nachwuchsboxer gewinnt seinen nächsten Kampf, doch wie sich zeigt, ...

So könnte man den Plot dann zusammenfassen und es zeigt sich hier doch, dass das ein Geschichtenanfang ist, nicht bereits die Geschichte. Im Verlauf der Geschichte müsste sich der Bruder zu diesem Problem, das sich ihm aufgetan hat, verhalten – mit gutem oder schlechten Ausgang.

Jetzt kommt vielleicht der Einwand, dass es aber doch eine Kurzgeschichte, ja sogar Flash Fiction ist usw. Ja, dann muss das alles da rein, zumindest als Rückschluss aus Andeutungen, es muss aus dem Subtext sprechen, zwischen den Zeilen stehen, in den Dialogen oder dem Ausdruck der Figuren manifestiert sein oder sonstiges.

Anstatt vom ersten Riss zu erzählen, müsstest du also andeuten, dass es bereits Risse gibt – und dann davon erzählen, ob das Band hält oder komplett reißt. Beispiel:

Vater und Bruder unterhalten sich vor dem Kampf und aus dem Gespräch geht subtil hervor, dass der Bruder starke Zweifel an seinem Handeln hat, nicht mehr wirklich boxen will. Aber der Vater überhört diese Hinweise und redet ihn stark. Dann verliert er den Kampf und es kommt zur Heimfahrt, wo dem Vater dämmert, dass er sich etwas vorgemacht hat. Darauf wiederum reagiert der Bruder entweder beschwichtigend (wäre eine Niederlage für den Protagonisten, weil keine Entwicklung) oder selbstbewusst (Sieg = neues Leben, Entwicklung, Emanzipation). Das wäre zum Beispiel eine runde Geschichte.

Du willst bestimmt jetzt einiges entgegnen. Immer gerne! Ich bin nur davon überzeugt, dass keiner hier im Forum gegen Jahrtausende altes Wissen über die Erzählkunst wird argumentativ gewinnen können. Wenn man sich einmal mit den tieferliegenden Mustern vertraut gemacht hat, wird man sehen, dass selbst Dokus und so mancher Zeitungsartikeln, also Sach"texte" diesen Mustern folgen, weil sie funktionieren. Auf der anderen Seite wird man meiner Meinung nach nie das Feedback erhalten: "Toller Text, hat mich wirklich reingezogen und mitgerissen, ich war wirklich an den Figuren dran und dabei", wenn man sich dagegen sträubt, gängige Erzähltechniken (clever) anzuwenden. Und bei genauerem Hinsehen folgen selbst die Anti-Erzähler wie zum Beispiel Bukowski diesen Mustern: Hab neulich mal aus anderen Gründen die erste Seite eines seiner Romane aufgeschlagen und da war nach zehn Zeilen der Grundkonflikt der Hauptfigur platziert.

Freundliche Grüße

Henry

 

Hallo @Fliege und @H. Kopper ich würde euch mal zusammen auf eure Kritik antworten, da es ohnehin in die selbe Richtung zu gehen scheint. Ich muss dazusagen, dass ich mir ein wenig albern vorkomme, permanent gegen Kritiken anzuschreiben, die ja alle irgendwo zutreffen. Es fühlt sich dann manchmal so an, als verteidige ich hier etwas, was objektiv nicht zu verteidigen ist. ABER: In anderen Momenten frage ich mich dann wiederum, wie die Sichtweisen auf einen Text so dermaßen voneinander abweichen können. Ich möchte jetzt nicht behaupten, da die Wahrheit gepachtet zu haben. Im Gegenteil: Eure Kritiken (so wertvoll und wichtig sie für mich sind) verunsichern mich massiv.

Ich würde dennoch mal versuchen, einigermaßen selbstbewusst meinen Text zu verteidigen:

was auch immer ihm die Tränen in die Augen treibt, ist ja die eigentliche Geschichte
Das, was Henry in seinem Kommentar ja sehr detailliert ausbreitet, reduzierst du im Prinzip auf diesen Satz. Und ich lese das dann und frage mich: Ja, haben die denn alle einen anderen Text gelesen? Denn ich finde, dass das doch quasi nicht zu übersehen ist. Ich schreibe das hier jetzt bewusst überspitzt. Aber so wie ich es lese (und es scheint so zu sein, dass ich absolut textblind geworden bin ...) gibt der Text doch ziemlich deutlich klar, worum es hier geht. Der erste Satz lautet: Mein Bruder trat bei einem Box-Turnier an, und er hatte noch nie einen Kampf verloren, und um mal in der Stimme eines anderen Mitglieds der wortkrieger zu sprechen: Damit ist doch eigentlich alles klar.
Wenn die Kritik wäre, dass das zu plump sei, könnte ich das nachvollziehen. Dass aber nicht klar sein soll, warum der Junge später weint, bzw. dass es austauschbar sein soll, erschließt sich mir einfach nicht. Um noch mal zu betonen: Ich nehme deine Kritik ernst und ich fürchte, dass das Problem desTextes auf meiner Seite liegt und ich mir da grundlegendere Gedanken machen muss.

ich will nicht nerven und nun noch einmal herunterbeten, was ich zum letzten Text schon geschrieben habe.
Das tust du ganz bestimmt nicht! Im Gegenteil, schätze ich deine Kritiken und deine ausführlichen und ehrlichen Rückmeldungen wirklich sehr!

Jetzt kommt vielleicht der Einwand, dass es aber doch eine Kurzgeschichte, ja sogar Flash Fiction ist usw. Ja, dann muss das alles da rein, zumindest als Rückschluss aus Andeutungen, es muss aus dem Subtext sprechen, zwischen den Zeilen stehen, in den Dialogen oder dem Ausdruck der Figuren manifestiert sein oder sonstiges.
Als hättest du es geahnt, schreibst du das, haha. Ich werde nichtsdestotrotz damit argumentieren. Denn zumindest habe ich die Rubrik Flash Fiction so verstanden, dass es eben keine, den üblichen Regeln des Geschichtenerzählens unterworfene Rubrik ist, sondern eben eine Unterrubrik, in der Texte vor allem ein Schlaglicht auf einezelne Momente werfen, ohne davor und danach weiter draufzublenden. Das war mein Anspruch. Ein kurzes Schlaglicht, ein Moment der Verunsicherung beim Erzähler (und beim Leser), ein Riss. Dabei ist der Text nicht autobiografisch. Nicht mal ansatzweise. Was aber autobiografisch ist, ist der Umstand, dass ich mal eine Person habe weinen sehen, von der ich das einfach (in diesem Moment) niemals erwartet hätte. Das hat mich nachhaltig berührt (ist vielleicht nicht das zutreffendste Wort) und das war hier der Versuch, so etwas zu übertragen.
Den Inhalt des Textes kurz heruntergebrochen: Der Erzähler und jüngere Bruder (und alle anderen) himmeln den älteren Bruder (den Boxer) mehr oder weniger an, er ist gewissermaßen ein Überflieger, verliert keinen Kampf und das wird mehr oder weniger auch weiterhin so angenommen. Er wirkt (vor allem auf den Erzähler) wie ein selbstsicheres, nicht aus der Bahn zu werfendes Vorbild, hat eine Freundin, alle haben Respekt usw.
Aber dann: Der Bruder entdeckt einen Moment der Schwäche beim älteren Bruder. Ein Riss in der Wahrnehmung entsteht. Der Kampf wird zwar gewonnen und am Ende sind alle augenscheinlich happy, aber der Zweifel, die verschobene Wahrnehmung bleiben beim Erzähler
.

nüchtern und emotionslos zu berichten
Zunächst würde ich behaupten, dass das schlicht nicht zutrifft. Wir hatten es schon beim letzten Text: Nur weil ich die Emotionen nicht ausschreibe (Ich war so erschüttert, als ich meinen starken Bruder dort so sitzen sah), heißt es doch nicht, dass die nicht vorhanden sind. Die Verunsicherung ist doch zumindest auch am Ende wahrnehmbar. Auch der Boxer reagiert ja nicht emotionslos -> Er scheucht seinen Bruder davon, er verzerrt das Gesicht.
Ich hätte natürlich auch schreiben können: Geh mir aus den Augen, kleiner Bruder, der mich angehimmelt hat! Du sollst mich nicht in einem Moment der Schwäche und des Selbstzweifels sehen! Denn sonst habe ich die Befürchtung, dass du mich in Zukunft vielleicht mit anderen Augen wahrnimmst und ich den Heldenstatus verliere.
Klar, ist überspitzt formuliert, aber in die Richtung geht es doch schon. Ich finde (rein subjektiv) es würde ausformuliert schlicht nicht wirken. Es würde mich ausformuliert eher nerven, ehrlich gesagt.
Ich denke, diese Frage musst du beantworten können und zwar "aus dem Text heraus". Damit meine ich: Stile müssen immer eine Funktion haben.
Das kann ich. Nur werden wir da vermutlich nicht zusammenkommen :/
Ich denke, dass es nicht einfach falsch ist, nüchtern zu schreiben, sondern eine Frage der Schwerpunktsetzung. Was ist der Fokus des Textes? Der Fokus ist, Beobachtung und Subtext, statt eben offen ausformulierter Konflikt. Ich finde, dass das zulässig ist und nicht gegen die Grundregeln des Erzählens verstößt. Es gibt doch eine ganze Menge Texte, die mit Fragmenten, Brüchen, Beobachtungen und Andeutungen arbeiten. Da jetzt einfach zu sagen: Pah, alles Nichtgeschichten weil sie nicht dem klassischen Erzählmuster entsprechen und zu nüchtern bleiben, ist mir zu einfach.

In deinem Text ist der Protagonist in meinen Augen der boxende Bruder, während der Erzähler sprachlich agiert.
Da würde ich schon mal grundlegend widersprechen. Der Protagonist ist doch der Erzähler. Er beobachtet, er nimmt wahr. Später sucht er. Er findet. Er macht eine Beobachtung. Eine Beobachtung einer Situation, die er so nicht erwartet hat. Und daraus ergibt sich ein Bruch für ihn, eine Entwicklung seiner Person, wenn du so willst. Seine Sichtweise auf den Bruder verändert sich.
Ja, alles nicht hundertprozentig auserzählt, aber dennoch vorhanden. Ich würde zudem die steile These in den Raum stellen, dass alles, was ich hier aufgezählt habe, sich auch hundertprozentig aus dem Text ergibt.

ine Geschichte definiert sich so, dass Ereignisse sinnvoll aufeinander bezogen werden.
Ich würde behaupten, dass das hier der Fall ist:
Erzähler geht mit älterem Bruder zu Boxkampf, in der Erwartung, dass er gewinnt. Er bewundert ihn, so wie alle anderen auch. Vor dem Kampf verschwindet der Boxer (eine erste Irritation). Der Erzähler sucht und findet den Bruder. Er wird mit der Unsicherheit und den Selbstzweifeln des Bruders konfrontiert. Ein Bruch tut sich bei ihm auf. Der Kampf wird gewonnen (wird nicht auserzählt - weil es eben keine Bewandtnis hat) und auf der Heimfahrt schwimmt die Verunsicherung beim Erzähler weiter zwischen den Zeilen mit.

Anstatt vom ersten Riss zu erzählen, müsstest du also andeuten, dass es bereits Risse gibt – und dann davon erzählen, ob das Band hält oder komplett reißt
Du schreibst das so absolut, aber warum müsste das denn so sein?

Darauf wiederum reagiert der Bruder entweder beschwichtigend (wäre eine Niederlage für den Protagonisten, weil keine Entwicklung) oder selbstbewusst (Sieg = neues Leben, Entwicklung, Emanzipation). Das wäre zum Beispiel eine runde Geschichte.
Das wäre sicherlich keine Flash Fiction und da es immerhin in dieser Rubrik veröffentlicht wurde, ist das doch der Maßstab. Sicher wäre dein Vorschlag die klassischere Geschichte aber das ist doch kein Schlaglicht auf eine Szene.
Aber mal real talk: Du magst schon einen Punkt haben, dass ich mich zu wenig von erprobten Formen des Geschichtenerzählens leiten lasse. Ich werde das für mich definitiv mitnehmen und versuchen, in weiteren Texten mehr zu berücksichtigen. Mal sehen, ob es klappt.

Du willst bestimmt jetzt einiges entgegnen. Immer gerne! Ich bin nur davon überzeugt, dass keiner hier im Forum gegen Jahrtausende altes Wissen über die Erzählkunst wird argumentativ gewinnen können. Wenn man sich einmal mit den tieferliegenden Mustern vertraut gemacht hat, wird man sehen, dass selbst Dokus und so mancher Zeitungsartikeln, also Sach"texte" diesen Mustern folgen, weil sie funktionieren.
Tja, dann müsste man, würde man deiner Argumentation folgen, bei der Rubrik Flash Fiction doch den Deckel draufmachen, oder nicht? Denn gängige Erzählmuster sind hier doch kaum so anwendbar, wie du sie einforderst?
Außerdem gehe ich einfach nicht mit, mit dem Absolutheitsanspruch, den du hier so selbstsicher vorträgst. Natürlich funktionieren gute Geschichten nach einem bestimmten Muster. Auch oft auf die Art und Weise, wie du sie hier darlegst. Aber zu behaupten, dass es nur so funktioniert, würde ich nicht zustimmen. Aber wie du schon selbst schreibst: Was soll ich hier denn gegen die objektive Wahrheit anargumentieren?

Ob wir jetzt zusammenkommen in der Bewertung oder eben mal wieder nicht: Danke für deinen Kommentar und deine Zeit!
Beste Grüße
Habentus

 

Hallo @Habentus,

Ich werde noch länger antworten, aber das "Problem" scheint mir zu sein, dass du nicht zwingende Annahmen triffst bei deinen Texten. Ich denke, dass das ganz tief verankert ist. Heißt, es betrifft deine Sicht auf die Welt. Aber du kannst beim Leser nicht dieselbe Basis veraussetzen. Jemand, der maximal "woke" ist, sieht im Weinen nicht mal eine Schwäche zum Beispiel. Dass jemand im Text weint, ist also in der Bedeutung nicht fix – du musst ausbuchstabieren bzw. zeigen, was es in dem speziellen Text für die spezielle Figur bedeutet. Oder anders gesagt: In einem Text ist per se gar nichts klar, alle Bedeutung muss geschaffen werden.

FG

 

Okay, ... ja, dann will ich mal versuchen zu erklären, warum bei mir nicht ankommt, was für Dich auf der Hand liegt. Zum einen, es ist ja immer die große Frage, wenn ein Text fertig ist: a) Ist die Lücke zu groß - b) der Leser ergänzt ganz problemlos, oder c) erkläre ich die Geschichte zu Tode? Das ist der Balanceakt und man weiß es auch erst, wenn die ersten Rückmeldungen kommen. Jetzt hast Du erst zwei Kommentare, kann sein, für die nächsten drei Leser ist das alles so klar wie für Dich.
Zum anderen hast Du natürlich die Idee zum Text im Kopf und liest den Text auch mit anderen Augen, weil, du hast ja Infos, die ich nicht habe. Und wie gesagt, ich kann nur für mich sprechen. Und für mich bräuchte es auch gar nicht viel, den Leser hier etwas mehr an die Hand zu nehmen, um deiner Textintention näher zu kommen. Entweder, der Bruder wird im ersten Absatz mehr zum Coolboy, den nichts erschüttern kann, den knallharten Kerl - da muss ich ihn aber mehr als Figur wahrnehmen, da reicht die Info nicht, er hat bisher jeden Kampf gewonnen, denn na ja, da könnte er im Prinzip auch bei Liebesfilmen im Kino flennen, das schließt sich nicht aus. Oder er hat Schiss vor dem Zahnarzt oder - oder - oder. Also, für mich ist mit dem Satz - er ist der ewige Gewinner (im Boxen!) noch lange nicht gesagt, das er keine Schwächen an anderen Stellen hat. Das wäre die erste Möglichkeit. Die zweite wäre, den dritten Absatz - den Kern - näher an den Erzähler zu rücken.

Eine halbe Stunde vor dem Kampf war er verschwunden. Keiner wusste, wo er war. Niemand hatte ihn gesehen und ich ging ihn suchen. In der Halle stand die Luft. Ein paar Kinder wuselten mit ernsten Mienen, angebissene Brezeln und halbvolle Limoflaschen in den Händen, zwischen den Beinen der Erwachsenen herum, und ein kleiner Mann in einem weißen Hemd und mit einem Mikrofon in der Hand stand im Ring und kündigte eine Pause an, bevor es mit den nächsten Kämpfen weitergehen sollte. Meinen Bruder konnte ich nirgendwo entdecken. Ich sah auf den Toiletten nach, suchte bei den Duschen und in den Umkleiden. Dann ging ich zu den Kabinen im hinteren Teil der Halle. Ich öffnete die Tür und dort sah ich ihn auf einer Bank sitzen. Er hatte seine Hände bandagiert und er trug das rote Trikot seines Vereins. Ich sah, dass er weinte. Als er wahrnahm, wie ich in der Tür stand und zu ihm herüberblickte, hielt er inne. Er hob eine Hand, machte eine Bewegung, als wollte er mich wegwischen, das Gesicht verzerrt.

4/5 des zentralen Punktes verwendest Du darauf, den Bruder zu suchen. Sehr ausführlich - im Vergleich zum restlichen Text. Klar, der Bruder verzieht sich in die allerletzte Ecke, das kommt damit natürlich sehr deutlich rüber. Aber ehrlich - da stimmt was mit der Textproportion nicht. Das hätte man auch gut in ein - zwei Sätzen abhandeln können.
Aber! und hier der Knackpunkt, es gibt überhaupt keinen Blick auf den Erzähler in dieser Szene.Wie soll ich jetzt im Gesicht des Jüngeren sehen, wie ihn diese Entdeckung aus der Bahn wirft? Da steht nix davon. Dem Großen ist es unangenehm entdeckt zu werden (Handbewegung), deshalb fragt man sich halt auch warum, was da los bei dem - weil der Fokus ausschließlich auf den Boxer gerichtet ist. Ich denke, da fehlt noch ein Schwenk auf den Lütten, wie ihn dieses Bild verstört. Muss ja nicht episch angelegt sein, kann auch später im Auto erfolgen, dass er sich fragt, ob er sich das nur eingebildet hat oder was weiß ich ... Und das der Leser hier noch den ersten Satz parat hat um ihn dagegenzuhalten, wow, darauf wird ich mich in meinen Texten nie verlassen :)

Das wären die beiden Punkte, wo ich (wäre es mein Text, der es nicht ist!) noch mal nachlegen würde und ich glaube, ich würde mich dafür entscheiden, irgendwas im Auto mit dem Erzähler zu machen. Vielleicht riecht der Bruder ja jetzt anders oder so ...

Übrigens - ich finde Texte verteidigen total in Ordnung! :thumbsup:

Hoffe, ich habe jetzt nicht in offenen Wunden gewühlt.
Liebe Grüße, Fliege

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom