- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Robert und Julia
Robert hockte auf dem Fußboden. Mit den Augen suchte er den Teppich ab. Irgendwo mußte er ja hingefallen sein, der Apfelsinenkern. Die waren immer so verdammt flutschig, wenn man sie herauspuhlen mußte. Eine Schweinerei war das jedes Mal, aber was tat man nicht alles für die Gesundheit. Schließlich war Herbst und die Grippewelle rollte durch die Stadt. Doch Robert hatte beschlossen, sich zu wehren. Es war der vierte Tag seiner Apfelsinenkur. Es war der Tag, an dem er mit sich haderte, die billigen kubanischen genommen zu haben. Die saftigen, mit den vielen Kernen. Das nächste Mal wollte er sein Glück mit Kiwis...Da fiel sein Blick auf einen Erdnußflip, der auf dem Teppich lag. Routiniert schnellte die Hand nach vorn und beförderte die Beute zum Mund.
Während er kaute, überlegte Robert, wann er das letzte Mal eine Tüte Erdnußflips aufgemacht hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Plötzlich fühlte seine Zunge etwas bestimmtes, ungewohntes. Wieder reagierte er reflexartig und starrte kurz darauf sinnend auf ein Schamhaar, das auf seinem Finger lag. Von wem stammte es? War es Sabines oder Christianes? Nein, die waren ja nie zu Besuch gewesen? Wann hatte er in letzter Zeit überhaupt Besuch gehabt? Das letzte Mal, müsste Julia dagewesen sein. Ja die Kissenschlachten mit Julia. Roberts Blick bekam einen verträumten Ausdruck. Sie hatte seit mehreren Tagen nichts von sich hören lassen. Julia, die Biofanatikerin, die sogar die Petersilie im Bioladen holte. Robert sprang auf und eilte zum Telefon. Er mußte sie wiedersehen. Wo war die Nummer? Das Handy mit den ganzen Nummern hatte Marianne überfahren. Mit Absicht, wie sie betonte. Bloß gut, daß er noch über eine Sicherheitskopie in Papierform verfügte. Jan, Jana, Julia... Julia! Das war sie! Warum war da ein Ausrufezeichen hinter ihrem Namen?
Bevor er wählte, blickte er noch einmal prüfend in den Spiegel. Es klingelte fünfmal und Robert stellte sich mental auf ihren Anrufbeantworter ein. Sie pflegte immer ihr Horoskop draufzusprechen. Sie war Wassermann und... nein sie war selber dran.
„Hallo?“
„Hallo hier ist die Jungfrau Robert.“
„Was?“
„Nein, ich meine ich hatte gerade diesen Erdnußflip im Mund und fragte mich, ob du und ich, ob wir uns mal wieder treffen könnten.“
„Jetzt?“
„Zum Beispiel...“, während er sich pfiffig im Spiegel zuzwinkerte hörte er einen tiefen Seufzer am anderen Ende der Leitung.
"Geht leider nicht", in ihrer Stimme schwang ehrliche Trauer. "Hör zu, mir geht´s beschissen, ich nehm´ jetzt diese Tabletten und dann...“, eine beklemmende Stille lag in der Leitung. „Ich muß allein klarkommen, versteh das bitte.“
Die Leitung wurde unterbrochen.
„Allein“ dieses Wort vibrierte zwischen seinen Schläfen. Also doch. Er war es gewesen! Jetzt erinnerte er sich. Vor zwei Wochen hatte er ihr versprochen einen Kirschkuchen zu backen. Doch das Rezept hatte im Auto von Helga gelegen und die hatte sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr blicken lassen. Wahrscheinlich war Julia darüber nicht hinweggekommen. Denn selbst als sie sich kurz danach zum Kino verabredeten, hatte er´s nicht geschafft, da er dieses neue Computerspiel fertig spielen mußte. Es war also seine Schuld! Wahrscheinlich stand alles haarklein in ihrem Tagebuch, in das sie gerade ihre letzten anklagenden Zeilen... Die Wahlwiederholung vergessend jagte er die Finger über die Tastatur.
„Hallo?“ Ah. Sie lebte noch.
„Halt aus, ich rette Dich, das ist ein Versprechen.“
Entschlossen warf er den Hörer auf die Gabel. Ein letzter Blick in den Spiegel verriet, daß er sich noch rasieren mußte. Keine 17 Minuten später stand er vor seinem Opel und erinnerte sich, warum er lange nicht mehr Auto gefahren war. Tine hatte zum Abschied seine Reifen durchstochen, nachdem er ihr erklärte, daß er doch nicht mit ihr nach Israel mitkam, um im Kibbuz zu leben. Genau, am Scheibenwischer steckte noch das überzählige Flugticket, das sie für ihn umsonst gekauft hatte. Er beschloß spontan, die Bahn zu nehmen. Vorher ging er in die Apotheke und wollte ein Gegengift gegen Schlaftabletten. Die Apothekerin musterte ihn argwöhnisch, dann verkaufte sie ihm ein Brechmittel.
So gerüstet setzte er sich in die Bahn, mußte nach drei Haltestellen in den Schienenersatzverkehr umsteigen und kam letztendlich in Julias Wohngegend an. Doch wo genau wohnte sie, die Holde, die seine Hilfe brauchte? Alle Häuser sahen gleich aus. Die ganze lange Straße voller geklonter Häuser. Er war am verzweifeln. Plötzlich entdeckte er den Duftbaum in dem Auto. Ein Audi. Das war ein Zeichen. Es war sein Duftbaum. Also eigentlich ihrer. Zum letzten Geburtstag geschenkt. Eine grüne Tanne. Sie liebte Tannen. Er mochte den Duft. Er klingelte an dem Haus. Eine halbe Minute blieb sein Finger auf der Klingel. Die Verzweiflung riet ihm, das jetzt durchzuziehen, bis der Strom alle war. Was, wenn sie schon weggetreten war? Wie sollte er sie retten? In welches Fenster warf man den Ziegel oder doch ein Tritt gegen die Tür? Doch da, es bewegt sich etwas im Flur, jemand warf sich einen Bademantel über die Schulter, die Tür ging auf. Da stand Conan, der Barbar und war sehr sauer.
„Ich hab´ Nachtschicht du Arsch“, brüllte er und ließ die Tür ins Schloß fallen.
Ja richtig, Julia hatte keinen Audi. Sie hatte gar kein Auto, sondern nur ein Fahrrad. Bloß woher hatte der Kerl seinen Duftbaum? Robert beschloß, der Sache aus Zeitgründen nicht nachzugehen. Was sollte er tun? Anrufen ging nicht. Sie lag bestimmt schon im Koma. Wie schnell wirkten Schlaftabletten? Woran starb man eigentlich? Ersticken? Herztod durch wilde Träume? Und das alles wegen ihm. Das Telefonbuch! Die Auskunft, die mußten es wissen. Die Auskunftsdame war kooperativ. Sie nannte die Straße und die Hausnummer, sowie den derzeitigen Stand der Telefongebühren. Er war sehr hoch. Sie hatte bestimmt viel telefoniert, in ihrem Kummer. Warum hatte er sie nie angerufen? Er betete um eine zweite Chance. Dafür mußte er die Straße finden. Es war die nächste links, wie er einem englisch sprechenden Rumänen entlocken konnte. Ja dort war das Haus. Genau in diesem Garten hatte er mal einen Baum Apfelsinenbaum pflanzen wollen. Leider war aus keinem der Kerne etwas geworden.
Er klingelte nur kurz. Natürlich machte keiner auf. Voller Panik rannte Robert ums Haus und siehe da, im zweiten Stock war ein Fenster offen und diese Verandaüberdachung führte genau hin. Er nahm sich vor, mit ihr über dieses Sicherheitsdefizit zu reden. Aber dazu mußte er sie erst retten!
Mit einem großen Schwung und der Hilfe einer Regentonne, die er sich vom Nachbar lieh, gelangte er auf´s Vordach und stand zähe Minuten später in ihrem Schlafzimmer. Da lag sie im grün-gelb gestreiften Pyjama, seinem Pyjama, in der Hand noch die Ampulle mit den Tabletten, den Kopf zur Seite geneigt. Etwas Speichel tropfte aus dem Mundwinkel. Das war seine Julia, doch warum mußte sie diesen letzten, entscheidenden Schritt tun?
„Nein“, schrie er und stürzte zu ihr hin, verfing sich im Bettvorleger, rappelte sich hoch und begann sie zu schütteln.
„Nein“, wiederholte er. „Julia meine geliebte Julia. Wach´ auf ich werd´ Dich nie mehr verlassen.“ Dann küßte er sie auf den Mund. Ein intensiver, langer Kuß, als wolle er ihr das Gift aus dem Magen saugen.
Julia schlug die Augen auf und gab´ ihm instinktiv eine Ohrfeige.
„Hey!“
„Oh Julia“, Tränen rannen ihm über das Gesicht. „Du lebst. Geliebte, Du lebst.“
„Natürlich“, sie schaute ihn verständnislos an. „Wieso redest Du so geschwollen?“
„Ich rette Dich. Vor Dir selbst. Ich liebe Dich. Laß uns heiraten und Zwillinge bekommen.“
Er entwand ihr die Ampulle. Sie schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an und versuchte sich zu erinnern.
„Was machst Du hier?“
Er hielt ihr das leere Röhrchen unter die Nase.
„Was ist das? Was wolltest Du damit? Warum nur? Julia laß uns reden. Wir können alles...“
„Meine Vitamintabletten. Was ist damit? Gib sie wieder her, ich muß was unternehmen, verstehst du? Die Grippewelle rollt über die Stadt und am Montag muß ich wieder an der Kasse sitzen.“
„Grippe? Kasse?“, stotterte er und sein tränenverschleierter Blick versuchte das Etikett zu entziffern.
„Ja ich hab´ wieder dieses Kratzen im Hals und ich hab´ Dir schon mal gesagt, daß ich durch meine Herbstgrippe durch muß und von der ganzen Knutscherei hast Du Dich bestimmt angesteckt. Aber komm´ mir dann ja nicht damit, daß ich Schuld wäre. Sag´ dann nicht, ich hätte Dich nicht gewarnt..."
Sie stand auf und eilte in ihrem grüngelben Pyjama in die naturholzfarbene Küche, wo sie zielstrebig im Bio-Gemüse wühlte.
"Denn das hab´ ich ja wohl. Ich warne Dich ja immer, auch wenn Du nicht auf mich hörst. Noch am Telefon hab´ ich zu Dir gesagt, daß es jetzt nicht geht. Ich möchte echt ma wissen, wieso Du mir nie zuhörst." Sie fand das Gewünschte und began es, mit dem Messer zu bearbeiten. "Ich laß´ Dich jetzt nicht weg bevor Du diese rohe Zwiebel gekaut hast. Aber untersteh´ Dich, sie einfach so runterzuschlucken. Du mußt langsam kauen. Ich weiß, das das wehtut, aber ich sag´ ja, wenn´s Dir weh tut, dann auch den Bakterien. Und gegen Zwiebel ist kein Bakterium resistent. Schau die ist gar nicht groß. Robert?“
Robert war nicht mehr da. Er war auf dem Weg nach Hause, um hinter Julia ein zweites Ausrufezeichen zu machen.