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Robin
Ich träumte fast jede Nacht von ihm. Nicht, dass diese Träume mich belastet hätten - ich sah sie und vergaß sie wieder. Aber manchmal fragte ich mich, warum sie kamen, so regelmäßig, so beharrlich.
Ich dachte nicht an ihn. Jedenfalls nicht oft. Schon damals war unsere Geschichte so lange her gewesen, dass sich in mir nichts mehr regte. Nichts. Mein Inneres war hohl, meine Sinne stumpf, mein Wille schwer. Ich tat, was getan werden musste, arbeitete, ging mit Freunden aus, aß und schlief, und irgendwann sah ich ihn.
Diese Träume waren weder besonders farbenfroh noch grau. Auch tat oder sagte er nichts Außergewöhnliches. Einmal stand er in der Küche in unserem Elternhaus und schnitt irgendetwas. Ich saß am Küchentisch und versuchte Brot zu schneiden. Der Laib war rund und sehr groß, die Kruste hart und trocken. Ich hatte nur ein kleines Messer und versuchte, die Klinge durch die Brotmitte zu führen, aber sie blieb stecken, der Laib rutschte mir aus der Hand, Krümel flogen in alle Richtungen. Ich sah zu ihm hinüber, aus irgendeinem Grund war sein Haar nass und einige Strähnen klebten an seiner Stirn. Er wischte sich mit dem Unterarm immer wieder über die Augen und ich dachte: Jetzt sieht er wie ein kleiner Junge aus.
Dann blickte er mich an, seine Augen waren rot und dunkel umrandet, als ob er nächtelang geweint und nicht geschlafen hätte. Er sagte etwas und brach in ein helles Lachen aus und ich wurde geblendet von dem Weiß seiner Zähne und musste mich abwenden. Das Brot lag vor mir - in regelmäßige Scheiben geschnitten und in einem Körbchen angerichtet. Ich wachte auf und fühlte das Nachthemd an meinem Rücken kleben.
Ein anderes Mal besuchte ich meine Eltern, betrat mit Koffern und Taschen das Haus und sah ihn auf der Couch schlafen. Sie stand nicht an ihrem gewöhnlichen Platz an der Wohnzimmerwand, sondern im Flur. Ich hatte kaum Platz meine Ladung abzustellen.
“Vorsichtig”, flüsterte meine Mutter - sie hielt mir die Tür auf. “Er ist ganz müde von der Reise.”
Ich fragte mich, wie er so müde sein konnte, musste er doch nur eine Stunde fahren. Er lag auf der Seite, mit den Händen unter der Wange, die Beine eng an den Körper gezogen. Ich ging auf ihn zu und küsste ihn. Es war mir egal, dass meine Mutter hinter mir stand und dass ich ihr in stundenlangen Gesprächen beteuert hatte, ihn niemals wieder anzusehen, geschweige denn anzufassen. Kurz schmeckte ich die Hitze seiner Lippen, seinen Geruch, dann wich er zurück - aufgeweckt, erschrocken. Einen Augenblick später lächelte er und senkte den Kopf wieder. Er schloss die Augen und sagte: Ich wusste, dass du kommen würdest.
Vor zwei Wochen erhielt ich einen Anruf.
“Robin hatte einen Autounfall”, sagte meine Mutter. “Bis vor einer Stunde wussten wir nicht, ob er…”
“Ich verstehe”, sagte ich.
“Vielleicht möchtest du ja kommen, wir sind doch trotz allem eine Familie.”
Acht Stunden später stand ich an seinem Bett. Die Nachtschwester hatte mich nicht zu ihm lassen wollen. Ich weiß nicht mehr, warum sie es doch tat.
Er hielt die Augen geschlossen.
“Kannst du dich erinnern”, murmelte er. “Als du acht warst und ich dich mit dem Wasserschlauch durch den Garten gejagt hab? Ich hätte schon damals wetten können, dass wir uns ‘ne Menge Ärger einhandeln würden.”
Ich konnte nicht verhindern, dass mir eine Träne hinunter fiel. Sein Blick glitt langsam an mir hoch, bis er meine Augen erreichte.
“Ich werde wohl demnächst bei Mam wohnen müssen. Wenn du mir den Gefallen tun könntest - komm nicht, solange ich da bin.”
Er schluckte trocken.
“So zwei, drei Monate.”
“Natürlich”, sagte ich.
Ich hatte eine Flasche Wasser in der Tasche, öffnete sie und ließ ihn ein paar Schlucke nehmen. Dann stellte ich sie auf den kleinen Metalltisch neben dem Bett und ging hinaus. Mir wurde übel. Der Boden fing an zu wackeln, die Wände flossen in sich zusammen, ich stützte mich irgendwo ab und hoffte vergeblich aufzuwachen.