Senior
- Beitritt
- 02.01.2011
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Rodeon
Scheiße, ist das kalt. Ist das Rodeon da vorne? Ich will rauchen, aber hab kein Feuer. Meine Hände sind rot, taub und aufgequollen. Um halb fünf hab ich wieder Schicht. Wieso hat mich Rodeon achtzehn Mal angerufen? Ich hab auch meinen Schal und die Mütze vergessen. Ständig vergesse ich alles. Rodeon kenne ich seit der Ersten. Ich hab so einen scheiß verfickt fest sitzenden Husten. Meine Nikes und meine Hose sind so hässlich. Seit Mom gestorben ist, sitze ich noch mehr in der Kreide. Hätte nie gedacht, dass Beerdigungen so teuer sind.
Rodeon sehe ich auf der anderen Seite der Brücke. Dieser scheiß kalte Wind. Ich mach meine Jacke nicht zu, wer weiß schon wieso. Ich hab neulich einen Liebesfilm gesehen und hab geheult. Ich hab so sehr geheult. Ich weiß noch, wie ich auf der Couch gesessen war, Vodka-Bull und Fluppe nach der Maloche, und beim Durchzappen auf diesen Film gestoßen bin. Ich hab keine Ahnung von Schauspielern, wie sie heißen und sowas. Mom kannte immer die Namen von jedem Schauspieler. Jeden Film, den wir im TV angezappt haben, hat sie gesagt: Das ist David Newman, der Film über den Agenten, der das junge Mädchen befreit. Immer sowas in der Art. Ich hab mir zehn Minuten von diesem Film angesehen, und plötzlich ist es in mir aufgestiegen, die Tränen; es ist so peinlich, so zu heulen. Ich hatte ganz vergessen, wie man sich fühlt, wenn man so heult. Wie man innerlich zusammenzuckt, immer wieder, wie sich da etwas zusammenzieht und die Tränen laufen. Komisch sowas, denk ich mir. Peinlich auch. Welcher Fünfundzwanzigjährige heult schon so?
Rodeon hat diese weiße Adidas-Trainingsjacke an. Viel zu kalt für diese Scheißnacht. Er geht gebückt, mit den Armen vor sich verschränkt. Sein eckiger Russenkopf kahl geschoren, die Wangen breit, die Augen schmal, von Kälte und Sibirien. Irgendwas ist anders.
„Alter“, sage ich, „was rufst du mich mitten in der Nacht an?“
Rodeon sagt nichts; bleibt nur vor mir stehen. Die weißen Wolken seines schnellen Atems. Das Knacken und Quietschen des verrosteten Metallgestells der Brücke, die in den Industrieteil des Hafens führt. Da fallen mir die dunklen Flecken auf seiner Jacke auf; das Blut an seinen Händen.
„Alter“, sagt er, „du musst mir helfen.“
„Wo ist deine Karre?“, frage ich.
Rodeon sieht mir einen Moment in die Augen, sagt nichts. „Darum geht‘s ja“, sagt er. „Um die Karre. Verdammt noch mal, um diese scheiß Karre.“
Einen Moment glaube ich, da etwas in ihm zu sehen, in seinem Blick, dem Ausdruck seines Gesichts; einen Moment glaube ich, dass auch in ihm Tränen aufsteigen, dass er gleich losheulen wird.
„Hast du mal Zigarette?“, fragt Rodeon.
„Ja“, sage ich, „aber kein Feuer.“
Rodeon greift in seine Jogginghose, hält mir die Flamme hin und ich stecke mir zwei Kippen in den Mund, bücke mich leicht und entflamme sie.
Ich gebe ihm die Kippe rüber. Er zieht – einmal, zweimal; blickt hoch in den Sternenhimmel, der wie eine Lichterkette über uns hängt; hinter uns die Stadt, die Lichter des blauen Hochhauses; die Industrie, die mich verschlungen hat, mich und meine Mutter; vielleicht auch meinen Vater, aber das ist schwer zu sagen. Und da bricht es plötzlich aus ihm heraus; da geht er erst in die Knie, atmet tief ein und aus; hält sich die Hand mit der Kippe vors Gesicht, vor die Augen; dann bebt sein Oberkörper, er schluchzt.
„Du musst sagen, dass ich bei dir war“, sagt Rodeon, „die ganze Nacht. Dass ich bei dir war und diesen gottverdammten Wagen nicht gefahren hab. Dass wir bei dir gesoffen haben, aber nicht raus sind. Nicht rumgefahren sind.“ Er blickt auf zu mir, sein Gesicht so, wie ich es noch nie gesehen hab: aufgequollen, sein Blick glasig; vielleicht ist es das Gesicht, das er als Kind hatte, auf dem Schulhof, als ich ihn das erste Mal gesehen hab; vielleicht ist es das Gesicht, das man beim Weinen bekommt, das eines Kindes, ganz automatisch, vielleicht ist das irgendwo in uns drin, dieses Gesicht, dieses Kind, diese unendliche Traurigkeit.
„Dass ich nicht diesen gottverdammten Jungen umgefahren hab“, sagt Rodeon.
Rodeon sehe ich auf der anderen Seite der Brücke. Dieser scheiß kalte Wind. Ich mach meine Jacke nicht zu, wer weiß schon wieso. Ich hab neulich einen Liebesfilm gesehen und hab geheult. Ich hab so sehr geheult. Ich weiß noch, wie ich auf der Couch gesessen war, Vodka-Bull und Fluppe nach der Maloche, und beim Durchzappen auf diesen Film gestoßen bin. Ich hab keine Ahnung von Schauspielern, wie sie heißen und sowas. Mom kannte immer die Namen von jedem Schauspieler. Jeden Film, den wir im TV angezappt haben, hat sie gesagt: Das ist David Newman, der Film über den Agenten, der das junge Mädchen befreit. Immer sowas in der Art. Ich hab mir zehn Minuten von diesem Film angesehen, und plötzlich ist es in mir aufgestiegen, die Tränen; es ist so peinlich, so zu heulen. Ich hatte ganz vergessen, wie man sich fühlt, wenn man so heult. Wie man innerlich zusammenzuckt, immer wieder, wie sich da etwas zusammenzieht und die Tränen laufen. Komisch sowas, denk ich mir. Peinlich auch. Welcher Fünfundzwanzigjährige heult schon so?
Rodeon hat diese weiße Adidas-Trainingsjacke an. Viel zu kalt für diese Scheißnacht. Er geht gebückt, mit den Armen vor sich verschränkt. Sein eckiger Russenkopf kahl geschoren, die Wangen breit, die Augen schmal, von Kälte und Sibirien. Irgendwas ist anders.
„Alter“, sage ich, „was rufst du mich mitten in der Nacht an?“
Rodeon sagt nichts; bleibt nur vor mir stehen. Die weißen Wolken seines schnellen Atems. Das Knacken und Quietschen des verrosteten Metallgestells der Brücke, die in den Industrieteil des Hafens führt. Da fallen mir die dunklen Flecken auf seiner Jacke auf; das Blut an seinen Händen.
„Alter“, sagt er, „du musst mir helfen.“
„Wo ist deine Karre?“, frage ich.
Rodeon sieht mir einen Moment in die Augen, sagt nichts. „Darum geht‘s ja“, sagt er. „Um die Karre. Verdammt noch mal, um diese scheiß Karre.“
Einen Moment glaube ich, da etwas in ihm zu sehen, in seinem Blick, dem Ausdruck seines Gesichts; einen Moment glaube ich, dass auch in ihm Tränen aufsteigen, dass er gleich losheulen wird.
„Hast du mal Zigarette?“, fragt Rodeon.
„Ja“, sage ich, „aber kein Feuer.“
Rodeon greift in seine Jogginghose, hält mir die Flamme hin und ich stecke mir zwei Kippen in den Mund, bücke mich leicht und entflamme sie.
Ich gebe ihm die Kippe rüber. Er zieht – einmal, zweimal; blickt hoch in den Sternenhimmel, der wie eine Lichterkette über uns hängt; hinter uns die Stadt, die Lichter des blauen Hochhauses; die Industrie, die mich verschlungen hat, mich und meine Mutter; vielleicht auch meinen Vater, aber das ist schwer zu sagen. Und da bricht es plötzlich aus ihm heraus; da geht er erst in die Knie, atmet tief ein und aus; hält sich die Hand mit der Kippe vors Gesicht, vor die Augen; dann bebt sein Oberkörper, er schluchzt.
„Du musst sagen, dass ich bei dir war“, sagt Rodeon, „die ganze Nacht. Dass ich bei dir war und diesen gottverdammten Wagen nicht gefahren hab. Dass wir bei dir gesoffen haben, aber nicht raus sind. Nicht rumgefahren sind.“ Er blickt auf zu mir, sein Gesicht so, wie ich es noch nie gesehen hab: aufgequollen, sein Blick glasig; vielleicht ist es das Gesicht, das er als Kind hatte, auf dem Schulhof, als ich ihn das erste Mal gesehen hab; vielleicht ist es das Gesicht, das man beim Weinen bekommt, das eines Kindes, ganz automatisch, vielleicht ist das irgendwo in uns drin, dieses Gesicht, dieses Kind, diese unendliche Traurigkeit.
„Dass ich nicht diesen gottverdammten Jungen umgefahren hab“, sagt Rodeon.
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