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Thema des Monats Rohrkrepierer

Beitritt
06.06.2005
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984
Zuletzt bearbeitet:

Rohrkrepierer

Wenn das Leben an einem vorbeizieht, wie ein verschneites Testbild und das anfängliche Gefühl der Teilnahmslosigkeit zur Taubheit heranwächst ... Wenn das Gesicht der geliebten Frau zu einer Maske erstarrt, die von Tag zu Tag weniger an sie erinnert ... Wenn die eigenen Kinder zu Fremden mutieren, die es nicht einmal mehr schaffen etwas in einem auszulösen, wenn sie weinend vor einem stehen, die blutende Hand Trost suchend zu einem emporhalten ... Wenn Kollegen und Freunde wie Geister um einen herumschwirren und Gesagtes ungehört im Vakuum implodiert ...
Und wenn man sich dann eines Tages in einem schmutzigen Hinterhof wiederfindet, in der Hand ein Plexiglasrohr, das sich gerade mit dem Gehirn einer eben noch schreienden Passantin füllt ...
Spätestens dann weiß man, dass sich das Leben anders entwickelt hat, als geplant.
Man versucht es sich zwar als einmalig einzureden, als Ausrutscher. Doch das gespickte Andenken zwischen den Tiefkühlpizzen ruft es einem immer wieder in Erinnerung:
Für einen kurzen Augenblick hatte man wieder Kontakt zu sich aufgenommen. Hatte die Fingernägel gespürt, die einem die Gesichtshaut zerkratzten, bevor sie leblos von einem abließen. Hatte das verzerrte Gesicht wahrgenommen, ihre aufgeplatzten Lippen bemerkt, die Worte formten, deren Inhalt sich in bloßer Sinnlosigkeit verlor. Man hatte die Angst hinter den geäderten Augen gespürt, die gemischt mit dem trotzigen Willen zu überleben, dem Moment das Besondere verlieh, das einem bis heute in Erinnerung blieb. Wo man beginnt, sich Gedanken um einen Ausbau der Kühlmöglichkeiten zu machen, da die Kinder bereits die ersten Fragen wegen der seltsamen Stangen zwischen ihren Essen stellen. Und man sie gerade noch davon abhalten kann, sie als Aufschnitt für ihr tägliches Abendbrot aufzutischen.
So beginnt man, sich der logistischen Herausforderung bewusst zu werden, der man sich tagtäglich gegenübergestellt sieht, und beginnt zu planen. Man kündigt die Stelle, die einem ohnehin nur noch aufgrund langer Betriebszugehörigkeit gewiss ist. Leistungen hat man schon länger nicht mehr gebracht. Seit dem plötzlichen Tod der Ehegattin war man laut der Geschäftsleitung ja nicht mehr wiederzuerkennen. Einer Geschäftsleitung, der man dann schließlich auch einen Besuch abstattet und ihr armseliges Dasein durch eine Behandlung mit dem Bolzenschneider beendet, der sich widerstandslos durch die haarige Leibesfülle frisst.
Im Keller des eigenen Hauses steht man dann vor der Truhe und begutachtet das Resultat des abendlichen Ausfluges, bevor man es zu den anderen legt und mit einigen Tüten Suppengemüse abdeckt. Wieder hat man ein Stück der Leere gefüllt. Hat getötet, um kurz aufzuleben. Doch Zufriedenheit stellt sich nicht ein. Wie soll man auch Zufriedenheit fühlen, wenn man nicht einmal fähig ist, Trauer zu empfinden.
Wenn man dann auch noch von einem der Kinder gestört wird, das leise, wie nur nackte Kinderfüße es sein können, die Kellertreppe heruntergeschlichen kommt und plötzlich mit verschlafenen Augen neben einem steht, um dem Vater das Maß an Obhut abzuverlangen, auf das es meint, ein Anrecht zu haben ... Dann schließt man überhastet die Truhe und versucht zu hoffen, dass das kleine Mädchen zu jung ist, um zu verstehen.
Die ernsten Gesichtchen, die einem dann am folgenden Morgen vom ungedeckten Frühstückstisch entgegenblicken, sorgenvoll, fast erwachsen, erwecken sie den Anflug einer Erinnerung. Doch Erinnerungen übersieht man leicht, wenn einen die Gegenwart zu sehr in Anspruch nimmt. So sieht man sich dann plötzlich einer Schar Vermummter gegenüber, die von allen Seiten in die Küche stürmen. Der Raum von inhaltlosem Geschrei erfüllt.
Machtlos sieht man, wie die Kinder gepackt und hastig hinausbefördert werden. Man entdeckt das Telefon, das einem der Drei aus der Hand fällt, und sieht die Tränen, die er weint.
Man bewegt sich, einem Impuls folgend, in ihre Richtung, meint sie aufhalten zu müssen. Um dann schließlich von Kugeln zerfetzt, auf den austretenden Inhalt seines Bauches herabzublicken. Und zu dem Schluss zu kommen, dass sich die Leere, die man auszufüllen versucht hatte, am Ende des Rohres in Luft auflöst.

 

Guten Abend, Herr Krill.

Erstaunlich. "Desperate Housewives" meets "Dexter". Ich fand die Wahl der Erzählperspektive konsequent, denn der Protagonist versucht, seine Handlungen als normal darzustellen. So nach dem Motto "das macht man dann so". Dabei weiß er ganz genau, dass dem nicht so ist, versucht er doch auch seine Kinder davor zu bewahren.

Ich fand's gut, zumal in der gebotenen Kürze.

bestgrüßend
Herr Naut

 

Hi krilliam,
ich habe bisher noch nie eine Geschichte aus "Horror" gelesen, ich kann schon ohne diese nachts nicht gut schlafen. Heute war es soweit. (wegen meiner Therapeutin, die sagte, Herr Be, machen Sie doch mal was Verrücktes in Ihrem Leben, trauen Sie sich)
Die hat gut reden. Ich habe mich getraut und bin ausgerechnet auf Deine Geschichte gestoßen.
Also, nachdem ich die ersten fünf, sechs Zeilen gelesen hatte, dachte ich mir: Wenn einem soviel Gutes widerfährt, dann ist das schon ein Bierchen wert ...
Ich war beruhigt, das kannte ich alles, das war mir vertraut.
Aber dann ...
... muss ich Dir sagen, mag ich diese Geschichte sehr, und zwar genau deswegen, weil sie so ist, wie sie ist.
Und - das muss ich noch hinzufügen - obwohl ich mann-ähnlich bin, mag ich das "man" nur selten. Eine dieser Ausnahmen ist oben angeführte Geschichte. Die mir, am Rande bemerkt, gut gefällt.

Herzlichen Gruß
Jürgen

 

Was mich wiederum freut.
Und das freut mich ganz besonders.

Hey Naut,

schön, dass mein alter Freund und Mentor mal wieder vorbeischaut.

Dexter, genau! Kuck ich tatsächlich ganz gerne. Auch wenn ich, als ich mich hinsetzte, um die Geschichte zu schreiben, nicht an diese Serien gedacht habe, bin ich wohl unbewusst dasvon beeinfluss worden.

Ich fand die Wahl der Erzählperspektive konsequent, denn der Protagonist versucht, seine Handlungen als normal darzustellen.
Da sprichst du etwas an, was die ganz Zeit (auch von mir) übersehen wurde. Es geht gar nicht nur um Distanziertheit, sondern um allgemeingültigkeit, aus der Sicht des Protagonisten. Manchmal braucht man erst nen Tritt, um seine eigenen Intentionen zu erkennen ;)


Ich fand's gut, zumal in der gebotenen Kürze.
Vielen Dank! Das freut mich besonders.

Hey Jürgen,

den therapeutischen Nutzen der Geschichte in deinem Fall, würde ich eher in Frage stellen. Das kannst du deiner Therapeutin doch nicht als Horror verkaufen. In der Konfrontationsbehandlung von Höhenangst zählen High Heels soweit ich weiß auch nicht.

Nichts desto trotz, freut es mich natürlich, dass dir die Geschichte gefallen hat.

mag ich das "man" nur selten.
Geht mir größtenteils auch so.

Eine dieser Ausnahmen ist oben angeführte Geschichte. Die mir, am Rande bemerkt, gut gefällt.
hehe, danke.

Vielen Dank an Euch beide.

Gruß
krilliam

 

Hi krilliam

Und wenn man sich dann eines Tages in einem schmutzigen Hinterhof wiederfindet, in der Hand ein Plexiglasrohr, das sich gerade mit dem Gehirn einer schreienden Passantin füllt ...

Wenn das Gehirn schon drin ist, wieso kann sie dann noch schreien?

Insgesamt finde ich die Geschichte nicht herausragend, aber zumindest ist sie schlüssig. Die Gedanken wirken authentisch auf mich, vermutlich durch die gewollte Distanz auf das Geschehen. Schließlich ist man auch als "Täter" bemüht sich ein Stück Normalität zu bewahren. Trozdem hätte die Geschichte schon ein wenig knalliger sein können, um mich zu thrillen. Sie war vorhersehbar, weil der Erzähler von Anfang an sein Verhalten reflektiert hat und man als Leser weiß, oh je, die Erkenntnisheuchelei eines Psychopathen, der vermutlich seine Erlösung herbeigesehnt hat. Knallig ist es, wenn der Psychopath alles tut, um nicht aufzulaufen, sich ständig bemühen muss, seine Kinder nicht auch noch niederzumetzeln. Knallig ist es, wenn er sie dann niedermetzelt und ihm das egal ist. Hauptsache er hat es getan.

LG
GD

 

Hi Goldene Dame,

Wenn das Gehirn schon drin ist, wieso kann sie dann noch schreien?
Hab da was gebastelt. Du warst nicht die erste, die daran etwas auszusetzen hatte. Ich dachte, es gibt so etwas wie einen Schreireflex.

Deine Kritik ist bei mir angekommen und angenommen. Ein paar deiner Ideen knallen tatsächlich mehr. Aber, wenn er seine Kinder abgeschlachtet hätte, könnte ich jetzt nicht mehr in Ruhe Menschen 2008 schauen.

Danke fürs Lesen

gruß
krilliam

 

Aber, wenn er seine Kinder abgeschlachtet hätte, könnte ich jetzt nicht mehr in Ruhe Menschen 2008 schauen.

Very Well. Der Autor sollte seinem Gewissen vertrauen können.

Schönen 1.Advent

 

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