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Rollentausch
Null Uhr einundzwanzig
Mit einem Klicken spuckte das billige Feuerzeug eine Flamme aus, die Joachim behutsam zu der Zigarette in seinem Mundwinkel führte. Tief inhalierte er den Rauch seiner letzten Zigarette, während er mit der Rechten zum Telefonhörer griff und die Nummer der Telefonseelsorge wählte.
Es hörte lediglich zwei Freizeichen, bevor der Hörer auf der Gegenseite abgenommen wurde und sich eine weich klingende Stimme meldete.
"Telefonseelsorge."
Das wars? Mehr Begrüßung gab es nicht für jemanden, der kurz davor war, sich aus dem 23. Stock eines Hotels zu stürzen?
Joachim pustete den Rauch seiner Zigarette in das jungfräuliche Nichtraucherzimmer seines Hotels, bevor er antwortete.
"Hallo, hier ist Joachim Schreiber, und mir geht es gerade nicht so gut."
"Warum denn nicht?", fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war zu offensichtlich, daß die Person nach einem Schema vorging. Ein Schema, daß Joachim überhaupt nicht behagte.
"Nun", er fügte eine dramatische Pause ein und nutze die Zeit um erneut an seiner Zigarette zu ziehen, "zunächst einmal ist es die Tatsache, daß ich die Telefonseelsorge anrufe und das Gefühl habe, daß mein Gesprächspartner einen Bogen mit möglichen Antworten auf meine Aussagen vor sich liegen hat."
Schweigen. Entweder der Telefonseelsorger wühlte gerade in seinen Unterlagen nach einer passenden Antwort, oder er war tatsächlich sprachlos. Egal, Joachim ließ ihm jedenfalls keine Zeit um weiter darüber nachzudenken, sondern fuhr einfach fort.
"Und dann ist da diese Arbeit. Es kotzt mich an. Jeden Tag das Gleiche. Immer und immer wieder."
Tränen stiegen in seine Augen, während er auf die Antwort wartete.
"Was ist denn mit ihrer Arbeit?"
"Ja, was wohl?"
Aus Joachims Stimme war nun unverhohlener Ärger zu hören, gemischt mit dem nasalen Tonfall, ausgelöst durch seine Tränen.
"Wie würden sie es denn finden, wenn sie jeden Tag für ihre Unfähigkeit beschimpft werden?"
Sein Gegenüber bemühte sich, einen verständnisvollen Ton anzuschlagen, was ihm allerdings nur sehr bedingt gelang.
"Nun, wissen sie, Arbeit ist nur ein Aspekt unseres Lebens. Wenn sie in ihrer derzeitigen Arbeit denunziert werden, dann bedeutet das ja noch lange nicht, daß sie nichts wert sind."
"Ich habe aber nur meine Arbeit."
"Was arbeiten Sie denn?"
Wieder fügte Joachim eine dramaturgische Pause ein, bevor er tief Luft holte und gleichzeitig mit einem tiefen Ausatmen antwortete.
"Ist doch egal."
Die Tränen stiegen ihm wieder in die Augen. Mehr als zuvor, und seine Stimme klang gerade so, als würde er direkt durch die Nase sprechen.
"Ich sehe einfach keinen Sinn mehr in diesem ganzen Scheiß. Ich will hier einfach nur noch raus. Wissen sie, daß ich im dreiundzwanzigsten Stock eines Hotels sitze, und daß knapp 80 Meter unter mir harter Asphalt ist, über den viele Autos mit hoher Geschwindigkeit fahren?"
Mit diesen letzen Worten knallte er den Telefonhörer auf die Gabel und nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette.
Null Uhr achtundzwanzig
Mit einem Schulterzucken nahm Thomas das Besetztzeichen zur Kenntnis, das ihm aus dem Telefonhörer entgegen piepte. Er legte den Hörer auf und zündete sich eine Zigarette an.
Komisches Volk da draußen, dachte er sich nur und wartete auf den nächsten Anruf.
Er kam nicht.
Aggression gepaart mit einer weinerlichen Stimme. Er versuchte sich zu erinnern, was man ihm bei dem Training beigebracht hatte. 90 Prozent der Anrufe drohen einen Suizid an, den sie zumindestens während des Telefongespräches nicht begehen.
Aber was ist danach?
Thomas zog an seiner Zigarette und hustete. Leicht ärgerlich drückte er den Glimmstengel in seinem Aschenbecher aus und suchte in dem PC, der an die Telefonanlage angeschlossen war, nach der Nummer des letzten Anrufers.
Er fühlte eine gewisse Art von Verbundenheit zu ihm, obwohl er sich noch gar nicht bewusst war, wo dessen Problem lag. Wer auch immer das war, irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, daß sich die Person tatsächlich in einem Hotel befinden könnte, ein geöffnetes Zimmerfenster, leichter Wind, der die Gardinen bewegte und 80 Meter endloses Nichts, das den Anrufer von einer ziemlichen harten Straße trennte.
Unsicher, ob er wirklich das Richtige tat, wählte er die Nummer und lauschte dem Tuten im Hörer.
Es tutete lediglich zweimal bevor der Hörer auf der Gegenseite abgenommen wurde und sich eine weinerlich klingende Stimme meldete.
"Hallo?"
"Entschuldigen sie", began Thomas, "hier ist die Telefonseelsorge, die sie eben angerufen haben..."
Er überlegte. Die Zeit, die seine Gedanken brauchten, um sich in seinem Kopf zu manifestieren, kam ihm wie eine Ewigkeit vor, aber tatsächlich verging nicht einmal eine einzige Sekunde, bevor er fortfuhr.
"Um ehrlich zu sein, mache ich mir ein wenig Sorgen. Möchten sie nicht lieber weiter mit mir reden, bevor sie irgendetwas Unsinniges tun?"
"Über was sollte ich den reden wollen?", fragte die Stimme im Hörer.
"Vielleicht über ihre Arbeit?! Was machen sie denn beruflich?"
"Was geht sie das an?"
Thomas' PC piepte und signalisierte das Ankommen einer Email, die er geflissentlich ignorierte.
"Ich versuche Menschen zu helfen", hörte er seinen Gesprächspartner sagen.
"Das ist doch prinzipiell ein schöner Beruf, oder nicht?"
"Nicht meiner."
"Warum nicht?"
Thomas war sich nicht sicher, was er sonst fragen sollte.
"Sie kapieren das nicht!", schrie sein Gesprächspartner ins Telefon.
"Was halten sie denn davon, wenn sie versuchen Menschen zu helfen und im Hintergund bekommen sie Mails von ihrem Chef, die sie der Unfähigkeit bezichtigen?"
Die Stimme aus dem Telefonhörer erreichte ein Crescendo und wurde beendet durch das ihm mittlerweile sehr bekannte Besetztzeichen. Das Zeichen, daß ihm immer wieder zeigte, daß er einer anderen Person scheinbar nicht geholfen hatte.
Wieder griff Thomas zu seiner Zigarettenpackung, zündete sich eine an und durchstöberte dabei seine Emails. Er las die Mail, die vor weniger als zwei Minuten frisch eingetrudelt war und eine eiserne Hand legte sich um sein Herz und drückte zu.
"Sehr geehrter Herr Triboni,
erneut habe ich heute von einem unserer Anrufer erfahren
daß sie während der Gespräche scheinbar
rauchen. Ich sehe dies als ein absolut unprofessionelles
Verhalten an, daß schon haarscharf an
beruflicher Unfähigkeit grenzt.
Ich möchte sie bitten mich morgen gegen 14 Uhr
anzurufen, damit wir ihren weiteren Werdegang als
Telefonseelsorger besprechen könen.
Mit freundlichen Grüssen,
Arndt Zimmermann
Null Uhr sechsundreißig
Joachim hatte sich selbst belogen. Es war nicht seine letzte Zigarette, die er vor 12 Minuten angezündet hatte. Allenfalls war es seine vorletzte Zigarette. Den glühenden Tabakstengel im Mundwinkel, wählte er erneut die Nummer der Telefonseelsorge und wartete bis abgebhoben wurde.
"Telefonseelsorge."
"Ich bin's noch mal. Joachim. Es tut mir leid, daß ich eben aufgelegt habe."
Joachim konnte an der Stimme erkennen, daß es sich immer noch um den gleichen Telefonberater handelte.
"Das ist kein Problem", erwiderte die Stimme aus dem Hörer. Eine betretene Pause trat ein, bevor er weitersprach.
"Ich bin ja dazu da, damit sie ihre Gefühle bei mir abladen können, auch wenn das Ärger sein sollte."
"Tja", entgegnete Joachim, "dann haben sie ja einen genauso beschissenen Job wie ich."
"Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was sie beruflich machen."
Ein tiefes Ausatmen schwängerte die Luft des Hotelzimmers erneut mit beißendem Tabakqualm, bevor Joachim antwortete.
"Ich bin Telefonseelsorger."
Er konnte die Verblüffung seines Gesprächspartners förmlich sehen.
"Oh..."
"Ja."
"Dann haben wir ja irgendwie was gemeinsam."
Joachim überlegte. Etwas Gemeinsames? Nunja, vielleicht den gleichen Job, aber das war es dann wohl schon.
"Wie kommen sie darauf?", fragte er.
"Naja, wir haben beide den gleichen Job."
"Aha."
Die Verachtung in Joachims Stimme war kaum zu überhören.
"Und ihre Freundin hat sie heute auch verlassen, richtig?"
"Nein, das nicht. Hat ihre Freundin sie verlassen?"
Joachims Stirn runzelte sich, während er überlegte.
"Irgendwie ja."
"Warum?"
"Ist lesbisch geworden."
Wieder entstand eine lange Pause. Joachim wollte wissen, wie der Telefonseelsorger darauf reagierte, aber dazu kam es nicht mehr. Das Einzige, was er noch hörte war ein Klacken und ein Besetztzeichen. Verwunderung machte sich in ihm breit. Bisher hatte er noch keinen Seelsorger so verärgert, daß dieser einfach den Hörer auflegte.
Null Uhr zweiundvierzig
Die eiserne Klaue um sein Herz ließ nicht locker. Wie gebannt starrte er auf die SMS seiner Freundin.
" Sorry, habe mich in Claudia verliebt, mit uns
kann das nicht mehr klappen. LG, Jennifer"
Thomas Gedanken drehten sich im Kreis wie ein Karussel. Wie in Trance nahm er den Telefonhörer ab, als es klingelte und meldete sich mit seiner Standardbegrüßung.
"Telefonseelsorge."
Noch bevor die Stimme am anderen Ende antwortete, wusste er, wen er da an der Strippe hatte.
"Hallo. Ich bin's nochmal. Joachim. Warum haben sie aufgelegt?"
Thomas zögerte und spürte wie sich die Tränen ihren Weg bahnten.
"Ich...", er schluckte, "ich bin eben auch verlassen worden. Es tut mir leid, daß ich einfach aufgelegt habe."
"Na, was für ein Zufall", erwiderte die Stimme im Hörer, "kann es sein, daß euch Telefonseelsorgern immer genau das widerfährt, was eure Klienten gerade erfahren haben?"
Der Hohn in seiner Stimme war unverkennbar, und Thomas ließ seinen Gefühlen plötzlich freien Lauf. Seine Tränen flossen die Wangen hinab und tropften auf die Muschel des Telefonhörers, während er mit erhobener Stimme fast in den Hörer schrie.
"Nein! Verdammt nochmal! Mir passiert gerade tatsächlich das gleiche wie ihnen!"
Die Stimme in dem Hörer lachte auf.
"Ja, klar. Und gleich erzählen sie mir, daß sie auch eine Email erhalten, in der ihnen ihr Chef sagt, daß sie morgen nicht mehr zur Arbeit kommen brauchen, richtig?"
Thomas schluckte als er den Satz hörte und im gleichen Moment das Piepen seines Computers vernahm, welches das Eintrudeln einer neuen Mail signalisierte. Allerdings brauchte er die Mail nicht zu lesen um zu wissen, was in ihr stehen würde.
"Wo sind sie?", flüsterte er in den Telefonhörer.
Ein Schweigen folgte. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Dann meldete sich die Stimme wieder.
"Gleich nebenan. Hotel La Mirrage. 23. Stock, Zimmer 2312."
Null Uhr zweiundfünfzig
Thomas schritt durch das Foyer des Hotels, geradewegs auf den Fahrstuhl zu. Der Portier würdigte ihn keines Blickes. Der Fahrstuhl öffnete sich unmittelbar nachdem er den Knopf gedrückt hatte und er stieg ein. Er betrat die Kabine und betrachtete die kahlen Wände. Kaltes, graues Plastik, wie es sich für ein billiges Hotel wie das La Mirrage gehörte.
Dann setzte das Ziehen in seinem Magen ein, als der Fahrstuhl sich nach oben bewegte. Das graue Plastik wandelte sich scheinbar in roten Samt. Die ebenso grauen Handgriffe, welche die Kabine durchzogen, wandelten sich vor seinen Augen in aufwändige goldfarbene Geländer und eine sanfte Walzer-Musik ertönte in seinem Kopf, als er die Kabine verließ und geradewegs zum Zimmer 2312 Schritt.
Thomas wollte gegen die Tür klopfen, aber dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er griff in seine linke Hosentasche und zog einen goldfarbenen Schlüssel hervor, führte ihn in das Schloss ein und sperrte die Tür auf.
Eine leichte Brise des kühlen Oktoberwindes schlug ihm entgegen als er den Hotelraum betrat.
Er schloss die Tür, schaltete die Bettbeleuchtung ein, die das ganze Zimmer in ein indirektes warmes Licht tauchte und setzte sich an den Tisch vor dem Fenster.
Mit einem Klicken spuckte das billige Feuerzeug eine Flamme aus, die Thomas behutsam zu der Zigarette in seinem Mundwinkel führte. Tief inhalierte er den Rauch seiner letzten Zigarette, während er mit der Rechten zum Telefonhörer griff und die Nummer der Telefonseelsorge wählte.