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Roman-Tick
„Das ist total nett von dir, dass du mich in dieses Lokal eingeladen hast“, sagte Bettina. „Ich esse gerne beim Italiener.“
Unwillkürlich rutschte es aus Roman heraus: „Pizzaficker!“
Zu seiner Verblüffung reagierte sie nicht schockiert, sondern klatschte mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Das ist eine Zwangshandlung. Wenn jemand etwas Rassistisches oder Vulgäres sagt, muss ich das machen“, erklärte sie und lächelte ihn an.
Ihre Zahnspange glitzerte im Schein der Deckenlampen, als wollte sie das Lächeln vergolden. Roman bemühte sich um eine gefasste Haltung. Sie kannten sich seit über einem Jahr aus einem Internet-Chat und kannten einander wohl besser als ihre eigenen Eltern, falls die sich für ihre Kinder interessiert hätten. Dennoch war es etwas ganz anderes, jemanden durch elektronische Impulse oder in real kennen zu lernen.
„Ach so“, erwiderte er rasch und nahm die Speisekarte, um die peinliche Situation etwas zu entschärfen.
„Das hätte ich vielleicht mal erwähnen sollen“, sagte sie entschuldigend und strich ihre Serviette glatt. „Aber ich hatte Angst, dass du es nicht verstehen würdest.“
Er blickte von der Karte auf in ihr Gesicht. Für ihre siebzehn Jahre wirkte sie viel zu alt. Mindestens wie zwanzig. Falls er ihr die Gunst erwies, als seine Freundin an seiner Seite zu agieren, würde diese Gunst freilich nicht allzu lange währen. Sobald er reich und berühmt war, würde er es wie alle reichen und berühmten Männer machen und sich mit Gespielinnen umgeben, die höchstens fünfundzwanzig sowie Topmodels waren. Eine in bayerischen Gegenden eher unübliche Mischung. Derweil müsste er sich wohl mit normalen Mädchen wie ihr begnügen müssen.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Gehst du auch gerne zum Griechen?“, fragte sie plötzlich.
„Pizzaficker-Ficker“, antwortete er und ärgerte sich über ihre unsensible Art.
Mit Genugtuung registrierte er das Klatschen gegen ihre Stirn.
Am Nebentisch lachte jemand und sah dabei unmissverständlich in ihre Richtung.
Wieder lächelte sie. „Mein Vater nahm mich einmal zum Landesparteitag der CSU mit. Nach einer Stunde musste ich nach Hause, weil meine Stirn aussah, als hätte ein Regenbogen eingeschlagen.“
Roman nickte und suchte nach einem Thema, das sie anschneiden konnten. Hier erwies sich ihre Vertrautheit als Stolperstein: Worüber redete man mit jemandem, der einem selbst intimste Details bereits verraten hatte? Er kannte sogar ihre Körbchengröße, obwohl er seine eigene Schuhgröße nicht wusste. Über ihre Berufe konnten sie sich nicht austauschen, und plötzlich beneidete er Menschen, die mit beiden Beinen fest im Berufsleben standen und aus dem Fundus interessanter Erfahrungen in hippen Werbeagenturen oder den Schwierigkeiten der Ölgewinnung in Ostasien schöpften. Er ging genau so wie sie noch zur Schule. Das Verstecken der Kreide oder ungemein erheiternde Späße wie vollbusigen Mädchen Regenwürmer in den Ausschnitt zu werfen schieden als Konversationsgrundlagen aus.
Der Kellner errettete ihn aus seiner Wortlosigkeit und nahm ihre Bestellungen auf.
„Weiß du“, sagte sie und zeichnete mit den Fingerspitzen Kreise auf das Tischtuch, „für mich ist das das erste Blind Date. Na ja, und dass ich mit Jungs nicht viel Erfahrung habe, weißt du ja auch.“
Sie räusperte sich und genau in diesem Augenblick begannen drei Männer mittleren Alters ein politisches Gespräch und provozierten Roman über diverse Staatsgemeinschaften unflätige Bemerkungen zu machen, die Bettina ihrerseits mit körperlicher Selbstkasteiung quittierte.
„Jedenfalls finde ich es toll, dich mal persönlich zu treffen. Wir haben ja so viel gemeinsam, findest du nicht auch?“
Das fand Roman zwar nicht gerade, doch der Höflichkeit halber bejahte er.
„Vielleicht ist es Schicksal.“
„Wie bitte?“, fragte er nach und runzelte die Stirn.
„Na, dass wir uns in diesem Chat kennen lernten“, klärte sie ihn auf.
Wieder stimmte er ihr zu, wiewohl er eigentlich nach aufgeschlossenen Schnitten gesucht hatte, die sich ihm förmlich an den virtuellen Hals werfen sollten. Aber erstaunlicherweise schienen sich in Chats zum größten Teil Typen wie er herumzutreiben, die kaum imstande waren, sich von hübschen Verkäuferinnen in Modefragen beratschlagen zu lassen ohne mit rotem Kopf schreiend davonzulaufen. Den weiblichen Rest stellten frustrierte Hausfrauen auf der Suche nach besseren Männern als jenen, die Eier kraulend und Bier saufend das Sofa in ihrer Wohnung vergewaltigten, dar, sowie Mauerblümchen wie eben Bettina.
Falls es tatsächlich Schicksal war, ausgerechnet ein Mädchen wie Bettina kennen zu lernen, dann war es auch Schicksal, beim Zoobesuch die Hand in den Löwenkäfig zu stecken und voller Spannung darauf zu warten, was geschähe.
Kurzum: Er hatte lediglich aus reiner Menschenfreude ein Jahr lang mit ihr verschwendet, anstatt sich von zwanzigjährigen Topmodels umschwärmen zu lassen.
Endlich kam das Essen und er musste die anstrengende Stille, die ihm mittlerweile wie eine zehnjährige Denkpause erschien, nicht weiter vertiefen. Immer wieder erwischte er sie dabei, ihm scheue Blicke zuzuwerfen. Himmel! Am Ende verliebte sie sich wirklich noch ihn. Anfangs hatte er ja tatsächlich so etwas wie Freude an ihrem beständigen Mail- und Chatverkehr empfunden. Doch dann hatte sie ihm ein paar Bilder von ihr gemailt und jegliche Hoffnung, Bettina würde sich als Claudia Schiffer oder wenigstens VIVA-Moderatorin entpuppen zerstört. Die Realität hatte ihn nicht einfach auf den Boden zurückgeholt, sondern ein Loch gegraben, ihn hineingeworfen und den Boden betoniert.
„Das war echt lecker“, bemerkte sie, nachdem der Kellner abgeräumt hatte.
Roman fühlte sich in jene Turnstunde zurückversetzt, als er einen Ball mit seinen Weichteilen gestoppt hatte. Er hatte zunächst gekotzt und danach gefürchtet er müsse sterben. Vielleicht wäre das besser gewesen, dachte er benommen, obwohl er sich einen würdevolleren Abgang von diesem Planeten vorstellen konnte.
„Ein € 9,99 teurer Fußball von Aldi prallte gegen seine Eier und beendete sein Leben so, wie er es begonnen hatte: In gekrümmter Stellung.“
Nein, das hätte definitiv nicht cool geklungen!
Roman zückte sein Portemonnaie und legte es auf den Tisch. „Du, ich muss morgen früh auf und noch –“
„Aber es ist doch erst halb-sieben“, unterbrach sie ihn mit erstaunter Stimme.
„Ich muss noch ein paar wichtige Dinge erledigen, die ich nicht aufschieben kann.“
Sie setzte zu einer Erwiderung an, schloss den Zahnspangenmund jedoch wieder und akzeptierte seine Entscheidung. Roman winkte übertrieben gestikulierend den Kellner heran, der noch nie jemanden dermaßen enthusiastisch bezahlen hatte sehen.
Draußen bot er ihr an sie nach Hause zu begleiten und schluckte den Ärger hinunter, als sie sein Angebot ganz dreist annahm.
„Ich bin echt froh, dass wir uns mal getroffen haben und hatte viel Spaß“, meinte sie mit so leiser Stimme, dass er zunächst gedacht hatte, er hätte sich die Worte nur eingebildet.
„Ja, ich auch“, sagte er automatisch und dachte an Stunden, die ihm mehr Spaß bereitet hatten. Selbst das Rendezvous seiner Leisten mit dem Ball hatte größeres Vergnügen bereitet, überlegte er und kam sich schäbig vor, um sein Gewissen zu beruhigen.
„Ich finde, wir passen total gut zusammen.“
Erschrocken sah er sie an.
„Ja“, quäkte Roman hilflos.
In so manchen Nächten hatte er gehofft, eines der Postermädchen in seinem Zimmer würde so etwas sagen. Bettina hatte er nicht auf seiner Rechnung gehabt.
Ihm wurde schwummrig. Er brauchte eine Zigarette! Er tastete die Jacke ab und fand eine Packung. Bettina blieb neben ihm stehen und starrte ihn plötzlich aus weit aufgerissenen Augen an. „Du rauchst?“
„Selten“, sagte er wahrheitsgetreu und klemmte die Zigarette zwischen die Lippen.
Bettina schüttelte traurig den Kopf. „Du, ich glaube, wir passen doch nicht zusammen.“