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Romeo und die Zwillinge

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09.01.2010
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Romeo und die Zwillinge

"Ja, es gab einen Jungen, der hat einen Lichtstrahl in diese Massengräber geschickt."
Gabriel Pinto wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog an der Polo Club und stieß den Rauch in die stickige Luft.
Der Beamte saß hinter dem schmalen, abgewetzten Plastikschreibtisch im Besprechungsraum, der bis vor kurzem als Abstellkammer gedient hatte. An der Stirnseite ein fleckiges Fenster, durch dessen gekipptes Oberlicht der Verkehrslärm São Paulos nach innen floss. Die Wände nackt, bis auf drei verbeulte Rollcontainer und einen zerknitterten Wandkalender von 2004.
Seit knapp einem Jahr war Pinto aus dem Gefängnisdienst ausgeschieden; vom Wärter zum kleinen Sachbearbeiter im Departamento Estadual de Trânsito, dem Straßenverkehrsamt São Paulos. Ein Aufstieg, den er seinem Vetter zu verdanken hatte.
Maria Conectado, Mitte Dreißig, Journalistin der Tageszeitung "Folha de São Paulo", saß Pinto gegenüber. In einer fließenden Bewegung schob sie sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht und die Brille nach oben.
Wieder einmal stand ein Artikel über die Verhältnisse in den brasilianischen Staatsgefängnissen an, wieder einmal Nachrichten aus dem Sumpf, der seit Jahrzehnten unter der dünnen Haut des Landes eiterte. Wieder einmal Altbekanntes, das als neu verkauft werden musste. Den Kontakt zu Pinto hatte sie von einem Kollegen erhalten, weshalb auch immer. Nun saß sie vor dem massigen Beamten, der mit dem schlampig geknöpften Hemd und dem strengen Scheitel ein klein bisschen wirkte wie „Guili“, die traurige Comicfigur aus dem Fernsehen.
"Er wurde von allen nur Romeo genannt", fuhr Pinto fort, "obwohl Shakespeare zu unserem Land so gut passt wie Schampus zu Feijoada".

Eine schwarze Mercedes-Limousine glitt vor den Eingang des Morumbi-Friedhofs. Ein Chauffeur in blauer Uniform stieg aus, öffnete die hintere Tür und bot seinen Arm einem 16-jährigen Mädchen, das sich vornehm daran hochzog. Die Tür auf der anderen Seite schwang auf, und ein etwa gleichaltriger Junge sprang auf die Straße. Die beiden nahmen sich an den Händen und gingen langsam den Grabplatten entgegen. Ganz hinten über dem Grün schimmerten die Hochhäuser São Paulos, wie immer leicht unscharf hinter dem Abgasdunst der Stadt.
Genau in der Mitte der Fläche kamen sie vorbei am berühmtesten Grab des Landes. Es war nicht zu übersehen. Denn auch heute, ein Jahr später, schmückten Abertausende frische Blumen, Fotos, Briefe, Figuren und Kerzen das Grab Nr. elf. Unter einem Baum ein Grasrondell, das wegen des Andrangs mit grünen Matten ausgelegt worden war. Darauf eine Messingplatte, siebzig mal fünfzig Zentimeter, mit der Aufschrift "Ayrton Senna da Silva, 21.3.60 bis 1.5.94".
Luíz schluckte, schenkte dem Rondell keinen Blick und ging weiter. Er stellte sich das Kreischen der Formel-1-Motoren vor, das bei günstigem Wind herüber wehte und mit dem Geruch aus Abgasen, fauligem Gras und dunkler Erde verschmolz. Wie oft hatte er davon geträumt, eines Tages selbst auf einer Rennstrecke unterwegs zu sein. Letícia neben ihm nestelte an einem feinen Goldkreuz in ihrem Ausschnitt und erzählte Kaugummi kauend eine ihrer verdrehten Geschichten.
"Hörst du mir überhaupt zu?"
Luíz nickte still.
"Erinnerst du dich an Marthas Spruch von wegen Männer und Kinder kriegen? Also, ein 16-jähriger Junge kommt in Bangladesh ins Krankenhaus, wegen Bauchschmerzen."
Auch Luíz spürte seinen Magen, vielleicht hatte er etwas Falsches gegessen, als er Onkel Gustavol wie gewohnt beim Kochen geholfen hatte. Stundenlang schwitzen im ranzigen Imbissstand gegenüber der Mondo-Spielhalle, das tat er immer noch mehrmals in der Woche, trotz allem. Kochen gab ihm etwas. Seit seinem 13. Geburtstag, seit dem Tod seiner Mutter, hatte Luíz für seine beiden kleinen Schwestern Essen zubereitet - und das mitten im fauligen Müll der Favela Paraisópolis. Die Mutter tot, der Vater beim ersten Kind verschwunden, Luíz plötzlich Familienoberhaupt. Inzwischen war auch Maria, die Jüngere der beiden Schwestern, gestorben, während Bruna längst in Rio gelandet war. Als Tänzerin, wie Gustavol immer wieder strahlend verkündete. Luíz wusste es besser.
"Der Junge wird wegen seiner Schmerzen sofort operiert", Letícias Stimme klang seltsam fröhlich, "und in seinem Bauch finden die Ärzte, jetzt kommts ... einen toten Fötus, etwa zwei Kilo schwer."
Luíz spürte Ärger in sich aufsteigen.
"Ohne Scheiß, der Fötus wäre der Zwillingsbruder des Jungen gewesen. Aber im Mutterleib ist der eine irgendwie in den anderen gewandert. Und erst als der Typ sechzehn war, wurde das tote Ding bemerkt. Irre, oder?"
Luíz zog die Schultern hoch und ließ sie kreisen, als hätte er Nackenschmerzen. Ein frisches Grab kam in Sicht, am Himmel jagte ein Düsenjet über den stahlblauen Himmel und die Züge des Jungen verdüsterten sich weiter.

Sachbearbeiter Pinto sprach in ruhigem Ton, während die Journalistin zuhörte und zwischendurch notierte.
"Er tauchte auf als Koch auf Zeit - in all den Knastanlagen, die zum Himmel stinken. Und davon gibt es viel zu viele hier. Es dauerte ein Jahr, da war er ein Mythos, seinen wirklichen Namen kannte keiner. In den Zellen, auf den Gängen und den Höfen des Landes erzählte man bloß noch von Romeo, dem reichen Mann. Romeo, der als Koch und Engel zu den Gefangenen kommt, um ihnen aus eigener Tasche eins seiner Lieblingsessen zu machen. Keiner kannte seine Vorgeschichte genau, aber es wurde viel geredet. Über eine unglückliche Liebe, über arm und reich, über den Tod und die Geister der Toten."

Das junge Paar stand schweigend vor der Grabplatte, gesäumt von frischen Kränzen und Sträußen. Auf der Platte in goldenen Lettern der Familienname "Requião", darunter "Ana" und "Pedro", die Namen von Letícias Eltern.
Luíz´ Blick wanderte weiter und blieb an einem Randstein hängen. Genau diese Farbe hatte sie gehabt. Die graue Mauer, die andere Welt, das Leben, das für ihn damals so unerreichbar erschienen war. Eine graue Mauer um das Grundstück der Requiãos, dahinter ein weiter Garten, gepflegte Wege und die Villa der Familie.
Er hatte Letícia kennengelernt, vor einer Karaoke-Bar. Neonlichter, die ihr Lächeln erstrahlen ließen. Ein Versprechen, eine leuchtende Verheißung von Glück. Schicksal nannten es die einen, Seelenverwandtschaft die anderen. Letícia und Luíz fühlten sich wie Zwillinge, die sich endlich wiedergefunden hatten. Nie würde er den Tag vergessen, an dem er das erste Mal durch das Tor der Mauer ging, die massiven Eisengitter hinter sich lassend. Als er neben seiner neuen Freundin auf das Haus zu schritt, das sich vor ihm ausstreckte wie ein schlafender Löwe.
Es folgte der Widerstand der Eltern. Zunächst offen, dann in ihrer Welt, aus der sie Luíz schließlich erneut ausschlossen. Doch Letícia berichtete ihm alles bei ihren heimlichen Treffen. Vom unbeugsamen Willen ihrer Eltern, die große Liebe ihres Lebens kaputt zu machen. Von den Nachstellungen ihres Vaters und ihrer feigen Mutter. Und von dem Tag, als er zu ihr unter die Dusche kam – und spätestens da wurde Letícias Hass zu seinem eigenen.

Der Beamte zerknüllte die leere Packung Polo Club und öffnete eine neue.
"Ich traf ihn das einzige Mal vor drei Jahren, ich arbeitete noch als Aufseher im Carandiro. Es war kurz vor dem großen Massenaufstand, den sie von dort aus organisierten. Ein Jahr später rissen sie das Carandiro dann ab, doch das ist alles eine andere Geschichte.
Die Zustände waren damals noch schlimmer als heute: Häftlinge und Aufseher verroht wie wilde Tiere, nichts als Überlebensinstinkt, blanker Hass, Dahinsiechen und Verzweiflung. Tausende mit Tuberkulose, schwärenden Hautkrankheiten, Epilepsie, ganz zu schweigen von seelischen Qualen. Sie lebten in Kot, Kotze und Pisse, und das an jedem neuen, furchtbaren Tag. Eigentlich kein gutes Pflaster für Menschen, die helfen wollen.
2001 war es, da kam er zu uns. Romeo kochte an drei Tagen. Und an jedem standen sie an. Sie standen an in Schlangen, die den ganzen Saal ausfüllten. Keine Schlägereien, kein Geschubse, selbst das übliche Geschrei ließen sie sein. Wie ein Wunder von einem Tag auf den anderen, als hätte Gott mit einem Faustschlag für Ruhe gesorgt.
Alle wollten nur eins: einen einzigen Blick auf Romeo. Erfanden Geschichten, sagten, er sei ein Heiliger, ein Gesandter der Jungfrau persönlich.“ Pinto blickte nach oben, als könnte er durch die Decke in den Himmel sehen. „Das kann sich keiner vorstellen, aber in der tiefsten Hölle hatte sowas wie Hoffnung Einzug gehalten - wenn auch nur für ein paar Stunden."
Maria Conectado beugte sich etwas vor.
"Haben Sie ihn persönlich getroffen?"
Pinto lehnte sich zurück.
"Habe ich. Und bei der Mutter Gottes, vergessen werde ich es nie. Wir gaben uns die Hände. Romeo, ein einfacher Junge Mitte Zwanzig in ausgewaschenen Jeans und schwarzem T-Shirt, der kochen konnte wie ein Gott. Und ich, ein einfacher Aufseher in einer dunklen, kratzenden Uniform. Er? Er blickte mich nur aus unscheinbaren Augen an und bedankte sich höflich für einen guten Tag." Pinto hustete kurz. "Einen guten Tag, ja, so hat er es wortwörtlich gesagt. Und ich spürte, dass ich jemandem die Hand schüttle, der erleuchtet und zugleich längst gestorben ist."

Luíz stand am Grab und versuchte an nichts zu denken, die Fehlzündung eines Motors ließ ihn aufschrecken. Sofort spulten die Bilder in seinem Kopf ab, wie eins der MTV-Videos, die er und Letícia auf dem 100-Zoll-Bildschirm ihres Wohnzimmers angesehen hatten.
Der Doppellauf des Karabiners vor seinem Gesicht, neben ihm der Lauf der Pistole, die wie eine Schlange aus Letícias Hand sprang; die Züge des Jute-Fabrikanten, ungläubig verzerrt, seine Hand, die sich abwehrend über den Hals schob, Löcher in der Haut, Blut auf der Hand, Blut im Gesicht, Blut auf dem Hals, Blut auf der Brust; das blutige Gesicht der Mutter, den Mund wie ein Tier geöffnet, Blut an ihren Lippen, schreiende Lippen, Blut auf ihrer Stirn; Blut am Geländer der Treppe, Blut an der Wand, Blut auf dem Boden, blutige Sprenkler auf der Standuhr; eine Blutlache, die sich ausdehnte, wie rote Gischt über ihn schlug, ihn erstickte; rot, rot, rot, nichts als rot.
Letícia, die ihr Gesicht zu ihm drehte, nicht lächelte, nicht weinte, einfach nur durch ihn durch blickte, den Mund zu einem dünnen Strich über ihrem vorgestreckten Kinn; alles unter einem roten Schleier, bis zum Bild der beiden verkrümmten Körper. Treibend, in gleißendem Weiß auf einem schwarzen Meer.
Die Polizei hatte später viel gefragt. Und waren am Ende zu einer Theorie gelangt, mit der die hoffnungslos überforderten Beamten leben konnten. Kriminelle aus der angrenzenden Favela hätten die Waffensammlung im Hinterzimmer gefunden, seien überrascht worden, hätten ein Blutbad angerichtet und seien wieder in ihren Mülllöchern verschwunden. Eine hier fast alltägliche Straftat. Man würde sie aufstöbern - oder auch nicht.
Luíz zitterte und spürte Letícias Hand, die seine fest umklammerte. Diesmal legten sie den Weg über den Friedhof schneller zurück. Am Ausgang verschwand er kurz zwischen einem der Souvenier-Stände, dann stieg er wie gestärkt zu seiner Freundin ins Auto.

"Wie gesagt, das Carandiro wurde 2002 abgerissen. Ich versuchte es noch ein weiteres Jahr in einem anderen Gefängnis, bevor ich endlich gehen durfte. Das gleiche Jahr, in dem ich das letzte Mal von Romeo hörte. Er starb wie er sterben musste: Romeo raste mit seinem Sportwagen gegen einen Baum."
Der Beamte fischte etwas aus seiner Hosentasche.
"Und genau so was hier hielt er in der Hand."
Er reichte der Journalistin ein Band, an dem eine Plakette hing. Pinto räusperte sich.
"Natürlich kennen sie die Worte, die Inschrift der berühmtesten Grabstätte von ganz Brasilien."
Maria las: Nada Pode me Separar do Amor de Deus - Nichts kann die Liebe zu Gott brechen.

 

Moin Maria.

1000 Dank.

Klassischer Fehler: Die Geschichte trat in mir als Zwiegespräch
zu Tage, was mach ich Dössel? Brings so aufs Papier. Dabei
wusste ich danach genau, dass genau dieses Konstrukt wohl
das Riesenproblem ist - nein, wollte ich mir nicht eingestehen.

Und genau deshalb ist so eine Kritik genau das, was ich brauche.

Schönen Tag, Okin

 

Vielen Dank.

Und viel Glück bei deinem aktuellen Buch.
Wahnsinnsteil aber harte Kost . Mich hats
echt Überwindung gekostet.

O.

 

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