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Rosarot
Die Menge schrie und kreischte. „Mala, Mala!“ Die Stimmen und Rufe kamen von überall und sie umgaben mich völlig. Meine Hülle stand da vorne und verzauberte alle mit dem süßesten Lächeln der Schule, sah alle an, dankend und stolz. Mein Geist jedoch war eingehüllt in Dunkelheit, und stärker denn je spürte ich die Fremde in mir wachsen und fühlte, wie sie mich immer mehr einnahm. Angst war es, die in mir aufstieg. Was war das, was mich so veränderte in letzter Zeit? Wieso konnte ich nicht einfach die beliebte, schöne Mala sein, mit dem süßen Gesicht und dem makellosen und scheinbar perfekten Körper? Alle beneideten mich, alle rissen sich um mich, alle wollten mich kennen, alle wollten zu mir gehören. Was war nur los mit mir, ich konnte nichts mehr genießen, fühlte meinen Körper und Geist wie durch ein scharfes Messer gewaltsam getrennt, dachte über furchtbare Dinge nach und wollte nicht mehr in den Spiegel sehen.
Das Schlimmste war aber etwas Anderes. Und zwar hatte das mit Matscha zu tun. Die Außenseiterin schlechthin, fett und verpickelt, egozentrisch und unsagbar intelligent. Scheinbar verdammt zur ewigen Jungfrau und Einsamkeit. Doch sie hatte dafür etwas viel Kostbareres. Sie konnte so sein, wie sie war. Sie konnte sagen, was sie dachte. Sie konnte tun, wozu sie Lust hatte.
Ich nicht. Ich musste so sein, wie mich die anderen sehen wollten. Ihr Vorbild. Die brave Tochter. Die Liebenswürdige. Die Bewundernswerte. Das Model. Die, die nie einen Fehler macht.
Wo war Mala?
Nirgends.
Ich ging wie immer nach dem Shooting nach Hause. Ich war noch geschminkt, wie ein Kanarienvogel sah ich aus. Der Weg am Feld war sandig und eine Windböe ließ mich meine Augen schützend zusammenkneifen. Der Windstoß war plötzlich aufgekommen und ich wunderte mich. Ich zog meinen schwarzen Mantel enger um mich und ging weiter. Die Dunkelheit umhüllte meinen Körper und als ich auch noch meine schwarze Kapuze aufsetzte, war ich vollkommen in ihr versunken. Doch der Wind griff in sie hinein und legte sie auf meine Schultern zurück, löste mein Haar. Die steife Frisur konnte ihm nicht standhalten und er begann mit meinen Strähnen zu spielen: Warf sie vor und zurück, streifte sie in mein Gesicht und drückte sie in meinen Nacken. Es war eine merkwürdige Stimmung. Etwas war anders als sonst. Ich hatte Angst.
Ich ging etwas langsamer, doch dann rannte ich plötzlich los, ich wollte einfach weg aus der Dunkelheit, aus der Schwärze und Sinnlosigkeit meines perfekten Lebens.
Als ich zu Hause ankam, war niemand da und die mich umgebende Stille löste die Dunkelheit ab. Doch die Angst war genau dieselbe.
„Na?? Hast du wen kennen gelernt?? Ich bin ja soooo neidisch... meine Eltern würden nie mit mir in die USA fliegen. Du hast es so gut! Und dann auch noch die ganzen Sommerferien... Echt Wahnsinn! Jetzt erzähl schon! Du weißt genau, wie neugierig ich bin.“
„Ich weiß nicht....“ Mein Kopf arbeitete. Ich griff aus Verlegenheit in meine Jackentaschen. Ich fühlte das Foto von Steve, einem Typen aus einer der vielen Diskos, die ich besucht hatte. Alle hatten mir ihre Nummern zugesteckt. Niemanden hatte ich angerufen.
Ich musste mich zusammenreißen.
„Also... da waren schon ein paar, die ganz nett waren.“
Sie würden mich endlich in Ruhe lassen, wenn ich nur einen Freund hätte!
„Was heißt das denn jetzt? Hast du einen aufgerissen oder nicht?“
Ich musste mein Spiel spielen. Wie immer.
„Hey... sowas mach ich doch nicht. Ich habe jemanden kennen gelernt, den ich echt super nett finde. Wir schreiben uns immer und telefonieren! Er ist ja soooo süß! Hier!“ Ich nahm das Foto aus der Tasche. „Das ist er.“ Stolz gab ich es ihnen. Staunend betrachteten sie den halb nackten Muskelprotz und sagten gar nichts mehr.
So einfach war das.
Ich ging gerade ins Bett, als die SMS kam. „Herzlichen Glückwunsch zu der gewonnenen Wahl zur Schulsprecherin. In Liebe, deine Eltern.“ Es war fast vier Uhr morgens, ich hatte den ganzen Abend gefeiert. Mein großes Ziel war in Erfüllung gegangen. War es wirklich mein Ziel gewesen?
Das Messer war sehr scharf, aber ich war vorsichtig. Ich wusch den Apfel zuerst, dann holte ich ein Brettchen und setzte das Messer an. Es glitt durch die Schale und die ersten Zentimeter des Apfels, als ich Stimmen hörte. „Du willst sie wirklich auf dieses Internat schicken? Ich bin definitiv dagegen. Da sind nur Mädchen! Wie soll sie denn den Umgang mit Männern und Jungen lernen, wenn sie niemals welchen begegnet?“ „Du bist vielleicht ein Spaßvogel... das Kind ist gerade mal zwölf Jahre alt und hat andere Dinge im Kopf als Jungen!“ „Ach, denkst du das wirklich? Als ich in Malas Alter war habe ich das erste Mal geraucht!“ „Suana, ich bitte dich... das meinst du doch nicht ernst.“ Ich nahm den Apfel und biss einfach rein. Das Leben konnte so einfach sein. Wenn das nur mal alle erkennen würden.
Meine Kunstlehrerin hatte einmal gesagt, dass ich eine ganz besondere Art zu malen besitzen würde. Ob das negativ oder positiv gemeint war, weiß ich bis heute nicht. Aber sie sagte noch, dass ich endlich mal mein inneres Auge zeigen würde und meine Seele malen ließe. Meine Mutter fand die Bilder grauenhaft. „Viel zu viel schwarz. Du solltest dir mal vornehmen, etwas farbiger zu werden. Das hält ja kein Mensch aus! Soviel Finsternis und Schwärze.“ Ich hob alle meine Bilder auf. Und ich sehe viel in ihnen. Meine Mutter ist eben blind. Schon lange ist sie das.
„Schön, dass du wieder da bist.“ Sie strich mir hart und ruppig über mein Haar. „Ja, wir freuen uns.“ Er drückte meine rechte Hand. Als er sie losließ, sah ich die weißen Abdrücke, die er hinterlassen hatte. Langsam nahmen sie die Farbe meiner Hände wieder an. Ganz langsam. Und dann war nichts mehr davon zu sehen.
„Mein schönsten Erlebnis
Ich glaube, dass mein schönstes Erlebnis noch nicht stattgefunden hat. Es wartet noch auf mich. Es kommt ganz bestimmt irgendwann und zwar aus dem Himmel. Ich freue mich darauf.
Ich glaube, es ist in eine rosarote Wolke eingepackt und riecht wie Mamas Parfüm. Und dann fällt es runter zu mir. Ich kann es auffangen, weil Wolken ganz leicht sind. Und dann werde ich erstmal die Öffnung suchen müssen. Weil das Erlebnis nur für mich ist und nur ich die Öffnung finden kann. Vielleicht hat Papa den Schlüssel versteckt, und ich muss ihn erst suchen. Aber irgendwann werde ich wissen, wo er ist. Und dann kann ich mein schönstes Erlebnis auspacken.
Mala, 8 Jahre“
Ich las es mal wieder. So lange war es her, dass ich diesen Aufsatz geschrieben habe. Und doch war alles so nah.
Ich weiß, es war schlecht. Und ich weiß, ich sollte es lassen. Aber ich weiß auch, dass ich den Schlüssel bis heute nicht gefunden habe.
Dabei würde ich es doch so gerne.
Aber er hat ihn zu gut versteckt.
Ich stand in meinem Zimmer. Ich stand direkt vor dem Spiegel. Ich sah das Bett hinter mir, rosarot und mächtig. Und ich sah das Bild darüber, drei Menschen und fröhlich. Und ich sah hinab, auf den Boden. Rosarot und weich. Und ich sah hinauf an die Decke. Weiß und fleckenlos. Und dann sah ich wieder in den Spiegel. Und da stand wieder ich. Leichenblass und schwarz.
Meine Füße waren schwer wie Blei, als ich in die Badewanne stieg. Meine Mutter sagte mir immer, es sei nicht gut morgens zu baden. Aber ich hatte mal wieder kaum geschlafen und sehnte mich nach ein bisschen Ruhe und Wärme. Also saß ich in der Badewanne. Ich spürte, wie sich alles entspannte. Erst meine kleinen Zehen, dann die größeren, dann der ganze Fuß. Meine Beine und mein Bauch. Und meine Fingerspitze lagen sanft im Wasser. Meine Hände schwebten fast und ich wurde leicht und ruhig.
Ich merkte kaum, wie mir die Augen zufielen. Wie ich in mich hineinsank.
Wie ich immer tiefer in das Wasser hinabglitt.
„Wir sind in drei Tagen zurück. Ist doch nur eine kleine Reise. Mathilda ist da und kümmert sich um dich, Spätzchen.“
„Du hast versprochen da zu sein. Du hast versprochen im Publikum zu sitzen und mich zu unterstützen. Du hast versprochen...“
„Mala! Sei doch nicht kindisch! Dieser Termin ist wirklich sehr wichtig. Dein Vater und ich kommen doch in drei Tagen schon wieder. Wir werden dich anrufen!“
„Du hast versprochen dabei zu sein, und mir als Erste zu gratulieren, falls ich Schulsprecherin werden sollte.“
„Manchmal kann man seine Versprechen eben nicht einhalten, das wirst auch du noch irgendwann einsehen müssen! Es tut mir Leid.“
Ihr Parfüm wehte mir um die Nase, als sie die Treppe hinunterstürmte. Er wartete unten schon auf sie. Beide verließen das Haus, ohne sich umzusehen. Und ich blieb oben stehen, an der Treppe, und betrachtete die Fliesen dort unten, vor dem Eingang, und überlegte mir, wie wohl mein Körper darauf aussehen würde.
Und ich glitt immer tiefer. Und spürte, wie meine Gedanken mich verließen und immer höher stiegen. Wie sie sich drehten und drehten und sich aus dem Schwarz lösten, was meinen Körper umgab. Und irgendwann, ganz weit oben, sah ich endlich etwas Helles. Und je höher meine Gedanken stiegen, desto klarer wurde es.
Und dann endlich, endlich sah ich sie: Eine rosarote Wolke.