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Rosinen im Kuchen
Karin legte eine Hand auf ihren gewölbten Bauch, atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie spürte deutlich das neue Leben unter der Bauchdecke. Noch eine Stunde, vielleicht zwei. Und wenn kein Wunder geschah, würde alles in die Hose gehen.
Hannes war keine große Hilfe. Eine Hand an der Stirn, die andere in der Hosentasche, tigerte er in der Wohnung umher.
»Vielleicht kommt Timo ja bald wieder aus dem Krankenhaus zurück.«
Karin schüttelte den Kopf. »Ich brauche aber jetzt ein Kind, Hannes. Ich will mich nicht darauf verlassen, dass Timo bald wieder hier sein könnte – außerdem: Wer weiß, vielleicht wurde er bei dem Unfall so schwer verletzt, dass - nun ja. Dass er eben nicht länger geeignet ist.«
»Die armen Eltern.«
»Scheiß auf die armen Eltern! Was ist mit uns?«
»Es ist doch eh verrückt, was wir hier abziehen. Ich meine, das ist doch irre, was wir mit dem Kind anstellen.«
»Aha. Findest du mich etwa irre? Bin ich für dich ein Alien, oder was?«
Hannes seufzte, rückte seine Brille zurecht und massierte sich die Nasenwurzel.
»Warum nehmen wir nicht einfach die Nächste von der Liste?«
»Weil sie nicht da ist.«
»Du meinst, weil sie auch nicht da ist?«
»Ach, jetzt bin ich schuld, oder was?«
»Ich verstehe das nicht.« Hannes holte den Spiralblock mit der Liste aus der Hemdtasche. »Wir haben das doch alles besprochen.«
»Was kann ich dafür, wenn die plötzlich Last Minute in Urlaub fahren! Und was kann ich dafür, dass Timo von einem Auto angefahren wird! Bin ich Hellseher? Außerdem kommt's eh früher als wir beide gedacht hatten.«
Sie streichelte zärtlich über ihren geschwollenen Bauch und spürte die Bewegungen unter der Haut. Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Bald darfst du raus! Sie ging zum Fenster und blickte auf den Spielplatz. Als sie die Kinder sah, begann es in ihrem Bauch zu kribbeln und sie zwang sich, die Vorhänge energisch zu schließen. Hannes würde es erledigen müssen. Sie selbst war jetzt nicht mehr in der Lage dazu. Zumindest war sie nicht mehr in der Lage, dabei unauffällig vorzugehen.
»Gehen wir doch nochmal die Liste durch.«
»Laura vielleicht?«
»Die wohnt am anderen Ende der Stadt - zu weit weg, wir haben keine Zeit mehr.«
»Und was ist mit Jasmin?«
»Jasmin ist dritte Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Die kann nichts, ist schlecht in der Schule. Außerdem ist ihre Mutter alleinerziehend.«
»Ich dachte, wir haben keine Zeit mehr.«
»Scheiße.«
Er überlegte einen Augenblick.
»Könnte aber echt klappen. Wenn du mit ihr einverstanden bist.«
»Hannes!«
»Wenn ich mich beeile, erwische ich sie alleine.«
»Dann beeilst du dich eben.«
»Und wenn ich dich so ansehe, wirst du mit ihr eh fertig sein, bis ihre Mutter heute Abend zurückkommt.«
»Sehr witzig. Pass auf: Die Kleine ist so eine Art Schlüsselkind. Kommt mittags heim und macht sich dann selber was zu essen. Ihre Mutter arbeitet im Supermarkt, soweit ich weiß, und sie kommt so gegen sieben heim. Dann macht sie Abendessen.«
Hannes blickte auf die Uhr. »Wir haben also eine Stunde.«
»Eine Stunde, wenn die Kleine gleich mit dir geht. Ihre Mutter hat mir erzählt, dass sie in der Schule Probleme hat. Denk dir irgendwas aus. Du musst das schaffen! Beeil dich!«
»Ich schaff das schon!«
»Ich mach keine Witze. Bring mir ein Kind, ganz egal welches – aber bring mir ein Kind!«
Hannes blickte in Karins großen Augen und hatte Schwierigkeiten, seine Freundin zu erkennen. Vor lauter Anspannung zitterte sie. Karin wollte gebären, und das gleich. Einerseits war er froh, dass nun bald alles hinter ihm liegen würde, aber andererseits wusste er, dass er im Zuge war, etwas völlig Absurdes zu machen. Ein fremdes Kind, und bald würde es zum Teil Karins Kind sein.
Eine ganze Weile hatte er ihren Zustand – ihr Wesen - ignorieren können. Aber seitdem Karin schwanger war, oder zumindest den Zustand erreicht hatte, der ihrem Verständnis nach einer Schwangerschaft nahe kam, wurde er tiefer in die Sache reingezogen, als ihm lieb war.
Und dann ging noch alles schief. Er verfluchte den Autofahrer, der Timo angefahren hatte. Timo wäre perfekt gewesen: Wohlhabende Eltern, ein intelligenter Junge. Und hübsch mit seinen Sommersprossen. Außerdem hatte Karin das mit Timo eingefädelt, sie war gut darin. Und jetzt musste er sich um das Ersatzkind kümmern. Er, der so überhaupt keinen Draht zu Kindern hatte.
Vor Jasmins Haustür zögerte er. Nervös blickte er nach links und rechts, es roch nach Linoleum und Abendessen, aus der Nachbarwohnung drang leise Musik. Alles wirkte so friedlich. Scheiße.
Er klingelte. Nach ein paar Augenblicken öffnete sich die Tür einen Spalt und das Gesicht eines etwa zwölfjährigen Mädchens erschien. Aus der Wohnung drang ein Geruch nach Hasenkäfig, der dringend saubergemacht werden musste und nach Pommes.
»Ja?«
»Hey, ich bin Hannes – aus dem ersten Stock.« Er lächelte. »Ist deine Mama zu Hause?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, die kommt später erst.«
»Ach so, ja gut. Ich hab nur gedacht – also, deine Mama hat Karin erzählt – kennst du Karin?«
Das Mädchen nickte.
»Ja, sie hat Karin erzählt – also, Karin ist meine Freundin – dass du in Mathe ein paar Probleme hast, und sie hat mich gebeten, dir Nachhilfe zu geben.«
»Davon hat sie mir garnichts gesagt.«
»Hat sie nicht? Komisch. Aber vielleicht ist sie nur noch nicht dazu gekommen. Aber wenn du nicht willst, dann muss ich eben nochmal mit Karin reden.«
»Mathe ist einfach verdammt doof, keine Ahnung, wofür der ganze Scheiß gut sein soll.«
»Heiß das jetzt, dass du keine Lust hast?«
»Welches Mädchen hat Lust auf Mathe?«
»Karin hat das früher gern gemacht.«
»Ich bin aber nicht Karin.«
Hannes spürte, dass ihm die Situation entglitt. Seine Hände wurden feucht und er rieb sie an der Hose trocken.
»Übrigens weißt du doch, dass sie schwanger ist, oder?«
Jasmin nickte.
»Und wir brauchen dann später sicher mal 'nen Babysitter.«
»Was heißt das?«
»Könntest bisschen Geld verdienen. Aber erst einmal Mathe.«
Jasmin schien noch ein paar Augenblicke zu überlegen, dann öffnete sie die Tür.
»Okay. Warte kurz, ich muss mir Schuhe anziehen.«
Hannes atmete auf.
Jasmin stieg mit Hannes in den Aufzug und wunderte sich darüber, dass er seine Hände in die Hosentaschen steckte, obwohl es warm war. Sie hatte so überhaupt keine Lust auf Mathe. Aber ein Job als Babysitterin wäre natürlich schön, damit hätte sie eigenes Geld. Trotzdem: In einer Stunde kam Marienhof und in Gedanken fand sie sich schon damit ab, dass sie zumindest den Anfang der Folge verpassen würde. Außerdem fragte sie sich, warum ihre Mutter nichts davon gesagt hatte, dass jemand ihr Nachhilfe geben wollte. Sie betrachtete Hannes, der nervös zu ihr herunterlächelte.
In Hannes' und Karins Wohnung roch es nach Waschmittel und süßlich nach Kuchen. Vor ein paar Monaten war sie schon einmal hier gewesen, damals hatte Karin sie auf einen Kakao eingeladen und ihr viele Fragen gestellt. Karin war nett. Vielleicht ein bisschen nervös, aber das konnte daran liegen, dass sie schwanger war.
Karin kam ihr entgegen. »Jasmin, hallo! Wie geht's dir denn? Setz dich doch erst einmal.« Ihr Bauch war wirklich dick und rund und Jasmin erinnerte sich an eine Doku im Fernsehen über Drillinge, und der Bauch der Frau hatte genauso dick ausgesehen wie der von Karin.
»Meine Mama hat mir garnichts gesagt.«
»Hat sie nicht?« Karin blickte irritiert zu Hannes.
»Ihre Mutter ist wahrscheinlich einfach noch nicht dazugekommen, Jasmin auszurichten, dass ich ihr Nachhilfe in Mathe gebe.«
»Ach so.« Karin wirkte erleichtert. »Jasmin, entschuldige, aber ich bin so durcheinander wegen meinem Bauch hier.« Sie legte die gefächerten Hände darauf und lächelte.
»Schon okay.« Jasmin setzte sich auf die Couch.
»Magst du ein Stück Kuchen, bevor wir anfangen? Du musst vorher was essen. Nicht, dass du umfällst. Hannes, geh doch in die Küche. Wir haben leckeren Rosinenkuchen.«
»Eigentlich mag ich keine Rosinen.«
»Warum denn nicht? Als Kind habe ich die auch nicht gemocht, aber heute liebe ich sie.«
»Kann's ja mal probieren.«
Hannes stellte drei Teller mit Gabeln auf den Couchtisch und Jasmin stocherte im Kuchen herum.
»Wann kommt denn deine Mutter wieder?«
»Na so um sieben, wie immer.«
»Dann haben wir ja nicht mehr viel Zeit.«
»Oh Scheiße!«, sagte Jasmin und legte die Gabel geräuschvoll auf den Teller. »Ich muss runter und die Balkontür zumachen, sonst haut unser Hase ab!«
Karin griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Warte doch noch kurz!«
»Ich muss aber dringend runter!«
Jasmin blickte irritiert zu Karin.
Karin blickte gierig zu Jasmin.
Hannes blickte ein paar Sekunden panisch hin und her, dann sammelte er sich. »Alles okay, ich hab sie geschlossen! Vorhin, als ich dich abgeholt habe, hab ich eure Balkontür geschlossen.«
Jasmin sah ihn einige Augenblicke an. »Hast du nicht!« Sie zerrte an ihrer Hand, aber Karin ließ nicht locker. »Hey, lass mich los, du tust mir weh!«
»Oh Jasmin, ist das nicht schön, es bewegt sich! Willst du es spüren?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog Karin sie zu sich und presste ihre Hand auf den Bauch. Jasmin keuchte, als sich Karins Finger grob in ihre Haut bohrten. Sie griff mit der anderen Hand nach der von Karin und wollte sich befreien, aber Karin drückte ihre Hand mit solcher Kraft auf den Bauch, dass die Muskelstränge unter der Haut sichtbar wurden. »Lass mich!«
Und dann spürte sie es. Der ganze Bauch rumorte und war in Bewegung, etwas drückte und stach in ihre Handfläche. Jasmin schrie und zog an ihrer Hand, aber Karin ließ ihr keine Chance.
Plötzlich war Hannes hinter ihr und schlang seine Hände um ihren Oberkörper, säuerlicher Geruch drang ihr in die Nase. »Da müssen wir jetzt leider durch«, sagte er. »Alles wird gut, alles wird gut.«
Jasmin trat um sich und schrie, fühlte, wie ihre Hand warm und glitschig wurde und riss die Augen auf, als Blut an Karins Bauchdecke entlang nach unten lief.
Hitze kroch den Unterarm herauf, erreichte Ellbogen, Schulter und den Hals - als würde man den Arm langsam in heißes Wasser tauchen. Das Letzte, was Jasmin spürte, war das Gefühl, einen dicken, heißen Wurm zu verschlucken, der ihr die Luft zum Atmen nahm. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Als sie erwachte, stellte sie fest, dass nicht viel Zeit vergangen war. Sie saß noch immer auf der Couch, Hannes und Karin blickten sie erwartungsvoll an. Der dicke Bauch war verschwunden, als das Pränum durch die Bauchdecke auf den neuen Körper übergegangen war. Ihre Hand schmerzte. Die Angst war auf die gleiche, unerklärliche Weise aus ihrem Kopf verschwunden, wie das Wissen um das Pränum aufgetaucht war. Pränum, das war der Symbiont. Der Organismus, der jetzt in ihr lebte. Nein, der Organismus, der sie jetzt war.
Als sie ihre Handfläche betrachtete, bemerkte sie das Blut, das von ihrem Ballen tropfte und in der Pfütze unter Karins Schenkeln tiefrote Schlieren hinterließ.
»Mach dir keine Sorgen.« Karin hielt ihr ihre eigene Hand hin. »Davon wird nur eine kleine Narbe zurückbleiben. Siehst du? Ich habe die auch. Hannes, hol' doch mal bitte das Verbandszeug!«
Jasmin nickte. Ja, sie verstand. Der Übergangskanal.
»Geht's dir gut?«
»Bisschen durcheinander bin ich.«
»Du weißt, dass du niemandem erzählen darfst, was passiert ist?«
Jasmin nickte. Hannes kam mit dem Verband, wusch das Blut ab, versorgte ihre Hand und lächelte dabei zärtlich.
»Tut mir Leid, wenn es dir weh tut«, sagte er.
»Ist schon okay.«
Hannes nickte. »Es war wirklich nicht schlimm für dich?«
»Nee, passt schon. Aber wo ist Jasmin jetzt?«
»Du bist Jasmin«, sagte Karin hastig. »Und mehr. Geh jetzt wieder runter, damit deine Mutter dich nicht vermisst.«
»Mach ich.«
»Sag einfach, du wärst hingefallen.«
»Okay.«
»Wir sehen uns dann zum Mathelernen.«
»Mathe ist immernoch Scheiße.«
Jasmin steckte sich eine Rosine in den Mund, nahm ein Stück Kuchen und ließ die Wohnungstüre hinter sich ins Schloss fallen.