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Copywrite Rot! Überall Rot!

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15.01.2019
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Rot! Überall Rot!

Fünfzig steht auf dem Schild. Zu genervt für Fünfzig. Lieber ein bisschen mehr. Deutlich mehr. Trotz des Nebels.
Ich trommle mit den Fingern auf das Lenkrad des alten Toyotas. Morgen hat John ein Turnier. Und natürlich sagt er erst am Abend davor Bescheid. Gerade noch fröhlich mit ein paar Freunden was trinken, in dem Wissen, dass mich später schon jemand nach Hause fahren wird. Und plötzlich muss man sich durch die Nacht nach Hause schleppen, damit ich ihn am nächsten Morgen herum chauffieren kann. Jane hat die Grippe. Die kann nicht.
Ich gucke in den Rückspiegel. Kein anderes Auto da.
Nur weiter vorn entdecke ich rote Lichter. Warum eigentlich rot? Warum nicht grün? Oder blau? Wer sich das wohl ausgedacht hat? Als ich näher komme, erkenne ich, dass auch der Wagen rot ist. Tuckert vor sich hin. Der Weg im Wald ist schmal, aber ich bin ein guter Fahrer. Zum Überholen sollte es reichen. Als ich mich links vorbeidränge, schaue ich ins andere Auto. Eine Frau sitzt am Steuer. Brünett. Die Haare zum Dutt hochgesteckt. Hübsch. Ich ziehe vorüber und höre ein Kratzen. Nur kurz. Metall auf Metall. Dann kracht es.

Ich haue auf den Wecker. War die ganze Nacht wach. Mein Schädel dröhnt und es ist viel zu hell im Zimmer, aber ich raffe mich auf. Für John. Das rote Auto. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Zertrümmert unter den Bäumen. Das Mädchen am Steuer. Das Blut.
John frühstückt schon, als ich in die Küche schlurfe. Ich will alles erzählen. Aber ich will nicht, dass er schlecht von mir denkt. Ein Sohn sollte nicht schlecht von seinem Vater denken.
Als wir fertig gegessen haben, mache ich ein paar Brötchen für den Tag, während John das Auto belädt. Soll ich wirklich fahren? Ich sehe nicht mehr das Mädchen – sondern John. Blutverschmiert. Leere Augen. Mir entgleitet ein Brötchen. Mit zittrigen Fingern hebe ich es auf. Aber das Bild von John bleibt.
„Paps“, ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, „wir müssen los!“ Er wartet ungeduldig im Türrahmen.
Wir gehen in die alte Traktorgarage. Früher stand hier Opas Bauernkram, jetzt nur noch der weiße Toyota – ein Monster. Als ich mich ins Auto zwänge, erblicke ich eine Schramme am Heck. Die paar roten Sprenkel machen sie unübersehbar. Was nun? Was, wenn das jemand bemerkt? Dann wissen alle, dass ich am Unfall Schuld bin. Dann …
„Paapaaa!“
Ich bin ein Mörder. Wo ich auch hinschaue, überall sehe ich sie, will ich rufen, aber ich wische mir nur den Schweiß von der Stirn und steige ein.
Als wir zur Abzweigung am Wald kommen, fahre ich links, weg von der Waldstraße. „Das Navi sagt, du musst da nach rechts“, sagt John.
Ich starre ihn kurz an.
„Paps?“
Ich bringe gerade so ein Lächeln zustande. „Natürlich“, presse ich dann hervor und wende.
Die Bäume sind so einengend. Dunkel liegen sie da. Lassen kaum Platz. Ich blicke kurz von links nach rechts. Spüre einen Druck in der Brust.
Eigentlich ist hier nie viel los, aber heute sammeln sich die Autos. „Was ist da denn passiert?“, fragt John. Ich bleibe still. Weiter vorne erhasche ich einen Blick auf einen Polizisten, der die Autos langsam um ein Absperrband herum lotst. Ich sinke tiefer in den Sitz. Neben der Straße liegt das rote Auto. Ich wende den Kopf ab, weiß aber genau, was ich sehen würde. Eine Gestalt, wo einmal der Fahrersitz war. Brünett. Die Haare blutverschmiert. Nicht mehr hübsch. Meine Schuld.
„Boah, das sieht echt schlimm aus“, sagt John. Wir nähern uns dem Polizisten. Mir fällt wieder die Schramme ein. Rot! Warum ausgerechnet rot? So auffällig. Gleich wird man es bemerken und mich festnehmen. Und John muss dabei zuschauen? Was wird er wohl von mir denken? Was wird Jane von mir denken?
Aber nichts passiert. Niemand bemerkt die Schramme. Wir fahren weiter.

Es ist schon Abend, als wir wieder zu Hause ankommen. John hat gewonnen. Er stürmt ins Haus, um Jane davon zu erzählen. Seine begeisterte Stimme dringt bis in die Garage. Ich bleibe noch beim Auto, über den Kratzer gebeugt. Wie man den wohl am besten weg bekommt? Meine Hand fährt über die Stelle. Uneben. Rote Fleckchen. Blutrot auf weißem Grund.
„Was is‘n das?“ John steht mitten in der Garage. Mir wird heiß. Und kalt. Und heiß. Was soll ich erwidern?
„Hmm?“ Mehr fällt mir nicht ein. Meine Stirn wird feucht.
„Hier“, sagt John und zeigt auf die Schramme.
„Achso, das“, sage ich. Meine Blicke zucken zwischen seinem fragenden Gesicht und dem Kratzer hin und her. „Hab schlecht eingeparkt.“
„Warum rot?“, will er wissen.
„Rote Hauswand.“
„Aha“ John schnappt sich seine Sporttasche und verschwindet im Haus.

Zum Abendessen gibt es Hühnerkeulen mit Tomatensoße. Nichts Besonderes. Als wäre es ein ganz normaler Tag.
„Habt ihr schon mitbekommen?“, fragt Jane. „Auf der Waldstraße ist ein Mädchen in einen Baum gefahren.“
John schaut auf. „Da sind wir vorbeigefahren. Sah echt schlimm aus.“
„Ich habe gehört“, sagt sie, „dass die Polizei weiße Lackspuren gefunden hat. Das kommt einem immer so fern vor und dann passiert es auf einmal quasi vor der eigenen Haustür. Du warst doch gestern Nacht draußen. Das hätte auch dich treffen können.“
Bei den letzten Worten hebt John den Kopf und sieht mich an. Aber Jane redet einfach weiter: „Da wird einem wirklich mulmig zumute.“
Johns glasige Augen sind immer noch auf mich gerichtet. Er ringt um Fassung. Noch nie hat er mich so vorwurfsvoll angeschaut. Eine heiße Nadel sticht in meine Brust. Ich versuche Luft zu bekommen.
„Ist irgendwas?“, fragt Jane.
Bitte John, denke ich, bitte schweig!
„Nein, alles gut, Mama“, sagt er, „bin bloß erschöpft vom Spiel.“ Aber er wendet den Blick nicht von mir ab.

„Du hast sie umgebracht“, sagt John. Wir sind wieder in der Garage. Er redet leise, damit uns keiner hört, aber es ist, als würde er brüllen.
„Es war ein Unfall“, erwidere ich. Will ich ihn überzeugen? Oder mich?
„Und trotzdem bist du abgehauen“, fragt er. „Du hättest einfach bleiben, die Polizei und den Krankenwagen rufen müssen und ...“
„Keine Ahnung, okay!“, herrsche ich ihn an, lauter als beabsichtigt. „Es war spät, ich war müde, ich war betrunken, ich bin ausgestiegen und sie lag dort in dem zertrümmerten Auto. Tot! Tot! Ich habe Panik bekommen.“
John schaut mich fassungslos an. „Du … Du warst betrunken?“
„Du wolltest doch, dass ich das Auto nach Hause bringe“, herrsche ich ihn an, „wegen deinem Spiel!"
Mein Blick flackert in der Garage umher. Dann schaue ich in Johns versteinertes Gesicht, das kreidebleich wird. Als ich realisiere, was ich gerade laut ausgesprochen habe, strecke ich die Hand nach John aus, will seine Schulter fassen, aber weicht zurück, weg von mir. Sein Mund öffnet und schließt sich, ohne einen Laut herzugeben. Er wendet sich ab und läuft ohne ein weiteres Wort aus der Garage. Ich halte ihn nicht auf.
Mein Blick fällt auf den Toyota. Ich sehe ihr Gesicht, das Blut. Überall nur Blut!

Ich steige ein und fahre los. Warum, weiß ich nicht. Einfach ein Gefühl. Einmal muss ich dort noch hin.
Die Fahrt vergeht, wie in Trance. Als ich endlich ankomme ist das Wrack nicht mehr da, aber das Absperrband schon. Egal. Einen Tatort betreten ist wohl nichts im Vergleich zu letzter Nacht. Meine Schritte knirschen. Glassplitter bedecken den Boden. Wo heute Morgen noch der Trümmerhaufen lag, halte ich inne. Auf der Straße sind ihre Bremsspuren zu sehen. Alles, was von ihrem verzweifelten Versuch zu überleben, noch zu erkennen ist. Das letzte, was sie sah, war der Baum. Eine dicke Eiche. Ein bisschen Rinde fehlt, aber sonst ist sie unerschütterlich. Bleibt einfach stehen. Kümmert sich nicht um Schuld.
Ich schaue auf den Boden unter mir. Hier saß sie. Hier hätte ich sitzen sollen.
Da ist eine Leere in mir, als ich wieder einsteige und nach Hause fahre. Der Wald zieht an mir vorbei. Dunkel. Bedrohlich. Die Kreuzung kommt auf mich zu. Dort ist es wieder heller.
Ich habe sie getötet. Sehe sie wieder vor mir. Tot in ihrem Auto. Warum bin ich nur ...
Mehhhh!, hupt es neben mir. Scharf bremse ich ab. Ein schwarzer Mercedes fährt an mir vorbei. Ich schaue auf die Ampel. Sie ist rot. Ich packe das Lenkrad fester. Rot. Ich hätte nicht fahren dürfen. Rot! Beinahe wäre ... Ich hatte rot.

Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Stunde? Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich zurück bin. Aber ich sitze immer noch im Auto, in mich zusammengesunken. Versuche meine Gedanken zu ordnen. Vergebens!
Irgendwann klopft es an die Scheibe.
„Paps?“ Er schaut auf mich herab. Ich steige aus und umarme ihn.
„Paps, du erdrückst mich“, sagt er und ich lasse ihn los. „Bist du okay?“, fragt er. Seine Augen sind gerötet.
Ich schaue ihn an. „Ich weiß nicht“
„Du hättest mir früher davon erzählen sollen.“
„Ich weiß.“
Wir schweigen. Warum schreit er mich nicht an? Warum nennt er mich nicht Mörder?
„Kommst du rein? Mama fragt sich schon, was mit dir ist.“
„Bitte, sag ihr nichts!“, rutscht es mir heraus.
Er nickt, wartet.
Ich zögere. „Geh schon mal rein!“, sage ich. „Ich komme gleich nach.“

John,
ich bin ein Mörder. Wo ich auch hinschaue, sehe ich, wie sie da liegt. Wenn ich dich anschaue, sehe ich die blutende Stirn und die leeren Augen. Wenn ich Jane anschaue, sehe ich die eingeklemmten Beine unter tausenden Glassplittern. Erinnerungen, die ich nicht ertrage. Gedanken, die ich nicht mehr loswerde.
Ich hätte nie betrunken ins Auto steigen sollen. Hätte mich nicht überschätzen dürfen. Ich will nicht noch mehr Unheil anrichten. Will keine Gefahr für andere sein. Verstehst du? Du verstehst das. Hast mich sofort durchschaut. Bist ein schlauer Junge. Ich bin so stolz auf dich.
Aber ich kann mit dieser Schuld nicht leben. Ich hätte im roten Auto sitzen sollen. Das hole ich jetzt nach. Vergib mir!
Eine letzte Bitte noch: Deine Mutter soll nicht wissen, was ich getan habe. Sie soll mich in guter Erinnerung behalten. Sie soll nicht an mich als einen Mörder denken. Sag ihr, dass ich sie liebe.
Auf Wiedersehen,
dein dich liebender Vater.

 

Hallo Träumerle,

ich bin ehrlich überrascht, wie viel Verbesserungswürdiges die anderen an deinem Text finden. Das lässt mich gerade an mir selber zweifeln (aber ich übe ja auch noch ;-) ), denn ich finde deine Geschichte grandios! Als ich sie gelesen habe, hatte ich fast selber ein schlechtes Gewissen, so als wäre ich der Unfallfahrer! Ich kann also absolut nachempfinden, wie dein Protagonist sich jetzt fühlt.
Das einzige, was mich ebenfalls stört, ist die Sache mit der roten Ampel. Aber dazu wurde ja schon was geschrieben.

Begeisterte Grüße!
Nicky

 

Hey @Nicky DeMelly ,

ich bin ehrlich überrascht, wie viel Verbesserungswürdiges die anderen an deinem Text finden. Das lässt mich gerade an mir selber zweifeln (aber ich übe ja auch noch ;-) ), denn ich finde deine Geschichte grandios!
Dass du du Geschichte sog gut findest freut mich riesig, aber das ist auch zum großen Teil eben weil die anderen so viele Verbesserungsvorschläge gemacht haben. Ich zweifel auch oft an mir, aber solange man dazu lernt ist alles gut :)
Das einzige, was mich ebenfalls stört, ist die Sache mit der roten Ampel. Aber dazu wurde ja schon was geschrieben.
Ja ich werde mich da wahrscheinlich auch nochmal dransetzen, sobald ich die Zeit dazu finde.
Schön dass du da warst. Hoffentlich bis bald,
Träumerle

 

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