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Rote Lippen

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03.09.2003
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Rote Lippen

Ihre Lippen waren rot. Sie starrte in ihr Spiegelbild, betrachtete ihre helle, fast transparente Haut,
mit diesen feinen Zügen, die ihr Gesicht jünger und mädchenhafter machten, als es tatsächlich war.
Das Grün in ihren Augen wechselte beständig: Mal war es ein sanftes grün, mit blauen Sprenkeln, die in
dieser Farbe zu schwimmen schienen und manchmal waren sie katzenhaft grün, klar und stechend.
Sie schminkt immer nur ihre Lippen und immer nur dieses Rot. Sie mochte den Kontrast zwischen dieser
lebendigen Farbe und ihres sonst eher unaufälligen Wesens.

Sie zog sich ihre Jacke über und ließ die Haustür hinter sich krachend ins Schloss fallen.
Nebelschleier hingen über den Straßen, fröstelnd schlang sie sich ihre Arme um ihren Körper,
und lief mit hastigen Schritten Richtung Bahnhof. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie ihren Zug,
sie stieg ein, direkt in das Raucherabteil, in das sie sich erschöpft nieder ließ.
Rauchschwaden nebelten sie ein, schnell wurde ihr klar, dass sie hier Kopfschmerzen bekommen würde,
doch war ihr das egal. Ihre knochigen, langen Finger wühlten in ihrer Jackentasche nach den Zigaretten,
sie zündete sich eine an und inhalierte fast schon erleichtert das Nikotin tief in ihre Lungen.
Solche Tage hasste sie. Solche, an denen es nicht richtig hell zu werden scheint und ihre Gedanken
sich so bleischwer und träge im Kopf anfühlten. Wo es kein richtiges Hoch, aber auch kein richtiges Tief geben konnte.

Ein Mann beobachtete sie, seine hohe Stirn war in tiefe Falten gelegt, sein Gesicht wirkte eingefallen
und vom Alter gezeichnet. Aber seine Augen fand sie schön. Dieses Grau, eine Farbe, die keine wirkliche ist,
schien in der Iris zu tanzen, immer um ihren Mittelpunkt, in kleinen Kreisen der Pupille.
Dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem vorsichtigen Lächeln. Verspielte Grübchen hat er,
wenn er lächelt, fiel ihr auf. Er hob seine Hand zu einem unsicheren Gruß, stieg auf und ging.

Manche Menschen würden sie wohl für seltsam halten. Sie mit ihren Angewohnheiten,
wie zum Beispiel, das sie immer ein Notizbuch mit sich herum trug und zu den unpassensten Gelegenheiten
anfing, mit fliegenden Fingern etwas hinein zu schreiben. Niemanden zeigte sie die hineingeschriebenen Worte
und Sätze, sie waren ihr Geheimnis oder ihr Schatz, wie sie dieses Buch nannte.
Sie hatte Angst davor, dass niemand verstehen würde, was darin stand, dass diese Worte zu einer anderen,
nicht existierenden Welt gehörten, ihre Welt, in der sie sich gerne flüchtete, um den Boden nicht unter den Füßen
zu verlieren, ohne zu wissen, das sie den schon längst verloren hatte.

Die Lautsprecheranlage riß sie aus der Träumerei: "Nächster Halt in H. . Ausstieg rechts in Fahrtrichtung."
Nur schwerfällig raffte sie sich auf, zupfte noch einmal an ihrer Jacke herum, und ließ den warmen
Sitz und die staubverkrusteten, dreckigen Fenster hinter sich.
Draußen war es immer noch sehr kalt, sie konnte ihren Atem sehen und vergrub ihre Hände
zum Schutz in ihren Jackentaschen.
Sie ahnte, dass es wieder einer dieser Tage werden würde. Diese Tage, an denen alles in
ihr so hart, fast wie Stein, wirkte, schwer in ihrer Brust oder ihren Lungen saß, so genau
wusste sie das nicht.
An solchen Tagen war sie nicht fähig, auch nur die leiseste Regung von Gefühl in ihr
nachzuempfinden. Nur diese drückende Leere konnte sie fühlen, diese Leere, die alles
sinn- und trostlos machte und ihr manchmal den Hals zuschnürte, das Atmen nur
schwer ging und sie sich dabei Mühe geben musste.

Sie schlug den Weg zur Stadtmitte ein, wie jeden Tag oder nein, wie jedes mal, an eben diesen Tagen.
Tief in ihren Gedanken versunken, starrte sie auf den grauen Apshalt unter ihren Füßen.
Wenn sie doch nur irgendetwas fühlen könnte. Und wenn es schon nicht euphorisch, glücklich
ging, nun, dann eben Schmerz. Auch damit konnte sie sich begnügen, wenn es doch nur gehen würde!
Aber alles, was ihr vergönnt war, war diese herb schmeckende Leere in ihr.

Sie erreichte ihr Ziel, es war voll von Menschen hier, gehetzt liefen sie mit schnellen Schritten
an ihr vorbei, manche streiften sie am Ärmel oder rempelten sie auch hin und wieder an.
Sie aber ging langsam, konzentriert, so, als würde sie auf jeden ihrer Schritte genau Acht geben.
Es gefiel ihr hier, hier war es auszuhalten, hier war sie nicht alleine oder zumindest konnte
sie sich das einbilden.

An einem Schaufenster machte sie Halt. Ihre Lieblings-Boutique, in der sie nie etwas kaufte,
sie genoss es nur, sich die schillernden, pailetten besetzten Kleider anzusehen und sich vorzustellen,
wie es wäre, so eines zu tragen und sich eine Geschichte auszumalen, von sich und diesem Kleid
und vielleicht, ja, vielleicht auch von der Liebe. Sie hatte manchmal recht naive Träume,
ein bisschen wie Märchen, aber loslassen davon konnte sie nicht.
Ihre Hand berührte das Fenster, das Glas fühlte sich kalt an, kein Wunder um diese Jahreszeit.
Ein bestimmtes Kleid gefiel ihr besonders. Es war schwarz, mit einem tiefen Ausschnitt,
an der Seite, rechts, schlängelten sich goldene Fäden bis hin zu der Schulter.
So eines hätte sie gern. Sie würde es in ihrer Wohnung tragen, nur für sich, vielleicht
würde sie schöne Musik auflegen und ein bisschen tanzen. In diesem Kleid war das sicher ein
schönes, leichtes Gefühl. Nur fehlte ihr das Geld, war es doch eine sehr teure Boutique.
Sie riss sich los und ging weiter.

Sie hätte jetzt Lust auf Theater. Sich berieseln lassen von Schauspielern und einer, ihr fremden Geschichte.
Sich ablenken lassen von einer anderen Bühne und nicht ständig an ihre eigene und somit an ihr eigenes
Drama denken müssen. Aber die Stücke, die zur Zeit im Angebot waren, kannte sie schon alle.
Manche sogar fast auswendig, sie ging oft ins Theater und las solche Stücke auch gern.

Spät am Nachmittag erst wollte sie zurück nach Hause. Davor grauste es ihr, wie immer,
dort war es still und kalt, ihre Gedanken wurden oftmals zu laut in dieser Atmosphäre.
Sie hatte Café getrunken und ein wenig mit der Kellnerin geredet, aber das brachte sie auch nicht näher
der Realität. Es schien ihr, als wäre das Alltägliche, das Normale ihr weit entfernt, als wäre
es nicht greifbar für sie, als drifte sie ständig in eine Traumwelt hinein, von der sie sich
einfach nicht befreien konnte. Ja, es machte ihr Angst. Und diese Angst wurde größer
und mächtiger, wenn sie alleine war. Deswegen hasste sie ihre Wohnung und konnte es dort
nur selten aushalten. Nur an guten Tagen war dies möglich. Heute war leider keiner dieser
guten Tage.

Und wirklich: Schon als sie die Tür hinter sich schloss, spürte sie diese drückende Einsamkeit, die
sie regelrecht erschlug. Sie ging ins Badezimmer, ließ sich kaltes Wasser über die bleichen
Handgelenke fließen. Wie tausend Nadelstiche fühlte sich das an, es machte sie ein wenig lebendiger.
Wie heute Morgen betrachtete sie ihr Spiegelbild. Das Rot auf ihren Lippen war ein wenig
verschmiert. Energisch griff sie nach einem Tuch und wischte es sich weg. Das Ganze war doch zu albern.

Dann tat sie das, was sie meistens an diesen Tagen tat. Sie ging in die Küche, öffnete den kleinen,
hölzernen Schrank mit der Glasscheibe, die schon einen Sprung hatte. Ihr Inhalt war nur eine einzige
Flasche, die noch bis zur Hälfte gefüllt war. Kurz hielt sie inne. Es war, als würde diese Flasche
sie höhnisch angrinsen, ja, sogar auslachen. Doch davon ließ sie sich nicht beirren.
Sie griff nach ihr. Ein Glas zu holen, dauerte ihr zu lange, sie öffnete sie sofort und trank eins, zwei, dann drei
Schlücke. Der Alkohol brannte ihr im Hals, doch die genug tuende Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.
Sie ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder, starrte ins scheinbar Leere und träumte sich wieder
in ihre Welt. In ihrer Welt, die voll von bunten Farben war, voll von schönen Dingen, die nur ihr gehörten.

 

rote lippen

hi milchshake,

erst mal eine frage. soll es am schluss:

"Der Alkohol brannte ihr im Hals, doch die genug tuende Wirkung ließ nicht lange auf sich warten."


heissen? genug tuend, weil genug tuend oder verschreiber und wohltuend gemeint?

tja, ansonsten ziemlich traurig. so ein trinkerdasein.

ich muss gleich eine lustige geschichte lesen.

gruss kardinal

 

Hallo Kardinal :)

danke erst einmal für deinen Kommentar,
es ist "wohltuend" gemeint, das sollte ich scheinbar ändern,
habe da wohl einen Fehler gemacht...

 

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